Dienstag, November 26

Der Skandal um die geschäftstüchtige Influencerin Chiara Ferragni zieht immer weitere Kreise. Die italienische Justiz weitet ihre Betrugsermittlungen aus, die Regierung verschärft die Gesetze, und die Werbebranche zittert.

Ihre Abwesenheit am Laufsteg von Dior blieb am Montag fast unbemerkt. Doch dass Chiara Ferragni sich in dieser Woche nicht bei den Modeschauen in Paris blicken liess, wirft ein grelles Licht auf ihren Absturz. Knapp ein Jahr ist es her, dass die Influencerin mit dem Auftritt auf der Bühne des Musikfestivals Sanremo nach den digitalen Plattformen auch das italienische Fernsehen erobert hat. Sie trug ein scheinbar durchsichtiges Dior-Kleid, auf das ihr nackter Körper gedruckt war. Maria Grazia Chiuri, die Designerin des französischen Luxuslabels, hatte für Ferragni auch die Stola mit dem Schriftzug «Pensati libera» («Denk dich frei») entworfen. Sanremo war für beide ein Triumph. Nun liess Dior die Instagram-Königin daheim in ihrem Mailänder Penthouse sitzen. Es ist das Ende einer jahrelangen Zusammenarbeit.

Rom will Transparenz

Die Affäre um die anrüchigen Marketing-Deals von Chiara Ferragni zieht immer weitere Kreise. Seinen Lauf nahm der Skandal vor sechs Wochen. Mitte Dezember flog auf, dass die Digitalunternehmerin Werbung für einen Weihnachtskuchen gemacht hat, dessen Verkaufserlöse nicht wie versprochen krebskranken Kindern in einem Turiner Krankenhaus zugutekamen, sondern im Wesentlichen ihr selbst: eine Million Euro für ein paar Posts. Inzwischen ermitteln die Mailänder Staatsanwälte in drei Fällen wegen des Verdachts auf schweren Betrug gegen die 36-Jährige.

Nach dem «pandoro» gerieten auch unlautere und irreführende Praktiken bei der Werbung für Ostereier und für ein Sondermodell der Puppe Trudi ins Visier der Staatsanwaltschaft. Sie prüft nun, ob Ferragni ihren knapp 30 Millionen Followern systematisch vorgegaukelt hat, dass die Erlöse beworbener Produkte einem guten Zweck zugeführt würden.

Am Donnerstag schritt nun auch die römische Regierung ein und verschärfte die Regeln für Werbeauftritte der Influencer in den sozialen Netzwerken. Das Kabinett von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni verabschiedete ein Gesetz, das für mehr Transparenz in der kommerziellen Wohltätigkeit sorgen soll. Die Hersteller werden verpflichtet, auf der Verpackung der Produkte anzugeben, wer der Empfänger des caritativen Erlöses ist, für welchen Zweck er bestimmt ist und wie hoch der Spendenanteil am Verkaufspreis ist.

Zudem muss der Wettbewerbsaufsicht mitgeteilt werden, wann der gespendete Betrag ausgezahlt wird. Verstösse gegen das neue «Ferragni-Gesetz» sollen mit Geldstrafen bis zu 50 000 Euro geahndet werden. Zur zusätzlichen Abschreckung müssen ertappte Influencer und Hersteller die gegen sie verhängten Strafen künftig auf ihren digitalen Plattformen publik machen.

Die sozialen Netzwerke spielen in Italien eine besonders grosse Rolle. 2023 zahlten die Unternehmen 323 Millionen Euro an digitale Markenbotschafter. 90 Prozent der werbetreibenden Unternehmen setzen Influencer ein. 2,2 Prozent der Bevölkerung haben mehr als 1000 Follower und versuchen sich im Internet als Influencer. Zwei Fragen treiben nun die Branche und ihre Auftraggeber um: Übersteht Chiara Ferragni den Justizskandal und die Hasswelle im Netz? Büsst das Influencertum insgesamt an Glaubwürdigkeit ein?

Dass der tiefe Fall von Ferragni Italien seit anderthalb Monaten aufwühlt, ist nicht verwunderlich. Sie hatte es aus dem Nichts zu Geld und Macht gebracht. 2009 legte die Jurastudentin mit dem Mode-Blog «The Blond Salad» los. Als 22-Jährige sass sie in Mailand am Laufsteg in der ersten Reihe.

Schon bald kam an der jungen Frau niemand mehr vorbei. Nicht nur in der Modeindustrie. Internationale Markenkonzerne, die Regierung in Rom und weltberühmte Kulturinstitutionen arbeiten mit Chiara Ferragni zusammen. Sie baut ihr eigenes Firmen-Imperium auf. Neben ihrer Werbetätigkeit als Influencerin produziert sie eigene Modekollektionen, betreibt Onlinehandel, eine Talentagentur und eine Marketingagentur. Ihr Umsatzziel für 2024: fast 100 Millionen Euro.

PR-Desaster

Jetzt hat sich Chiara Ferragni selbst vom Thron gestossen. Sie ist am 15. Dezember abgetaucht. Ihr Instagram-Kanal verstummte. Als sie sich mit einem Video einmal kurz zurückmeldete, machte sie die Sache noch schlimmer. Den Tränen nahe, entschuldigte sich Ferragni für die Sache mit dem «pandoro». Ihr sei ein «Kommunikationsfehler» unterlaufen, sagt eine Frau, die es mit ihrem kommunikativen Talent zur vielfachen Millionärin gebracht hat. Firmenkunden gingen auf Distanz. Erste Verträge wurden gekündigt. Sie wird gemieden und gehasst.

Zeitungstitel wie «Ferragni am Abgrund» sind noch glimpflich. Ihre Anwälte sagen: «Wir sehen der Konfrontation mit der Justiz zuversichtlich entgegen und hoffen, dass sich das Medienklima beruhigen wird.» Immerhin heuerte die Influencerin erstmals externe Profis an, die ihr aus dem Image- und PR-Desaster helfen sollen.
Langsam taucht Ferragni ab und zu aus der Versenkung auf. Dann postet sie auf ihrem Instagram-Kanal, blockiert aber weiterhin die Kommentare.

Am Dienstag zeigte sie der bisher kaum verringerten Schar der 29,4 Millionen Follower ihre neue Frisur. Die Show muss irgendwie weitergehen. Das galt auch für die Modenschauen in Paris: Bei Dior kreuzte am vergangenen Montag überraschend Rihanna auf. Die Pop-Sängerin sass im Musée Rodin in einem schwarzen Anzug mit weit ausladendem XXL-Kragen in der ersten Reihe unterm Laufsteg und schaute sich die Haute-Couture-Kollektion der Designerin Chiuri an.

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