Mittwoch, Oktober 2

Lando Norris hat in der Fahrer-WM nur noch 62 Punkte Rückstand auf den Leader Max Verstappen. Vor dem Rennen in Baku ändern die McLaren-Chefs deshalb ihre Strategie – und üben sich in Diplomatie.

Lange hat sich Andrea Stella gegen eine der gnadenlosen Gesetzmässigkeiten der Formel 1 gewehrt, stets betont, dass es im Team McLaren keine Stallorder geben werde. Der Italiener, der mit seinem ausgeprägten Hang zur Harmonie den gestrauchelten Traditionsrennstall innerhalb eines Jahres zu einem Titelkandidaten geformt hat, liess dem hehren Ansatz Taten folgen. Korrekter ausgedrückt: Tatenlosigkeit.

Die ganze Welt konnte zusehen, wie sich die McLaren-Fahrer Lando Norris und Oscar Piastri auf der Piste bekämpften, über Funk diskutierten und sogar beinahe kollidierten. Vor allem nahmen sie sich gegenseitig Punkte weg. McLaren betonte stets, dass der Sportsgeist über allem stünde, und die Interessen des Teams immer zuerst kämen. Helmut Marko vom Konkurrenten Red Bull Racing kommentierte hämisch: «Wir begrüssen diese sportliche Vorgehensweise.»

Das Dilemma hat den Teammanager unter Zugzwang gesetzt

In den letzten fünf WM-Rennen vor dem Grand Prix von Aserbaidschan vom Sonntag sammelten der Brite und der Australier jeweils 85 Punkte; sie sind damit die zurzeit erfolgreichsten Fahrer in der Königsklasse. Wenn da nur nicht die Tatsache wäre, dass Piastri seinem Markenkollegen mehrfach Punkte im Kampf um den Titel in der Fahrer-WM weggenommen hat.

Norris ist mit 62 Punkten Rückstand der hartnäckigste und aussichtsreichste Verfolger von WM-Leader und Titelverteidiger Max Verstappen, dessen Leistungen stark unter der schlechten Verfassung seines Rennautos leiden. Eigentlich ein klarer Fall für Stallregie, McLaren müsste alles auf Norris setzen. Doch der unfair scheinende Eingriff, der laut Reglement zulässig ist, wurde dort bisher aus Sorge um den Hausfrieden verweigert. Vor allem, um Piastri nicht zu demoralisieren, dem eine ähnlich grosse Zukunft prophezeit wird wie Norris. Und um den Sprung an die Spitze der hoch dotierten Konstrukteurs-WM zu schaffen, in der McLaren nach seinem Sommerhoch nur noch acht Punkte hinter Red Bull Racing liegt.

Auf dem Strassenkurs in Baku beginnt nun der heisse Schlussspurt in der Formel 1, acht Rennen stehen noch aus. Norris befürchtete nach dem Rennen in Monza, als er nach dem Start um ein Haar mit dem überhart zur Sache gegangenen Piastri zusammengestossen wäre, dass ihm die Zeit davonlaufe. Für ein Team ist es Fluch und Segen zugleich, eine so starke Fahrerpaarung zu haben.

Das Dilemma hat den umsichtig agierenden Manager Andrea Stella unter Zugzwang gesetzt. Und nach zehn Tagen Beratung fiel die unvermeidliche Entscheidung: Dass McLaren die Stallorder nun auch umsetzt. Wie unwohl sich die Beteiligten damit fühlen, drückt schon die leicht widersprüchliche offizielle Erklärung aus: «Wir werden Lando bevorzugt unterstützen, aber wir wollen unsere Prinzipien nicht zu sehr gefährden. Unser Grundsatz ist, dass die Interessen des Teams immer zuerst kommen. Sportsgeist steht für uns beim Rennen über allem. Wir wollen auf die richtige Art und Weise gewinnen.»

Stella hatte einst als Ferrari-Ingenieur mitbekommen, wie heikel es ist, einen Fahrer einzubremsen. Wobei es damals insofern einfacher war, als dass Michael Schumacher klar der bessere Pilot war im Vergleich mit Rubens Barrichello, und die vom Team verordnete Rückendeckung gar nicht benötigt hätte.

Der Spagat wird ein spannendes Experiment bleiben

Lando Norris, einer der nachdenklichen Rennfahrer, nimmt die Unterstützung gerne an. Anderseits will er keine Almosen und lieber darauf stolz sein, es aus eigener Kraft zu schaffen: «Ich will den Titel nicht geschenkt, sondern durch Kampf gewinnen.» Genau mit dieser Einstellung müsse er ins Rennen gehen, es sei falsch, schon am Start an eine spätere Schützenhilfe zu denken.

Einen Bruch in der Kultur seines Rennstalls mag er durch die veränderte Situation nicht erkennen. Es gebe nun aber klarere Anweisungen, wie gegeneinander gefahren werde und welches Risiko dabei eingegangen werden dürfe. Ein Nichtangriffspakt, der bis hin zum verordneten Platztausch reichen kann.

Oscar Piastri, dessen Manager Mark Webber einst bei Red Bull gegenüber Sebastian Vettel zurückstecken musste, war vor der Zurückstufung von Stella gefragt worden: «Bist du bereit, einen Sieg herzugeben?» Die Antwort des 23-Jährigen: «Es ist schmerzhaft, aber wenn es das Richtige ist, dann werde ich es tun. Mir ist klar, dass es hier um viel mehr geht als nur um mich.»

Piastri weiss, dass er dafür einen moralischen Bonus hat, einen finanziellen vermutlich auch. Vor allem denkt er daran, dass es im nächsten Jahr genauso gut andersherum laufen könnte und er dann beim Team einfordern kann, dass ihm Norris den Rücken freihält. Wie genau die getroffene Regelung aussieht, will Stella noch nicht preisgeben. Bei McLaren wurden bisher Absprachen zwischen den Fahrern und dem Team getreu den Rennstallfarben «papaya rules» genannt.

Piastri hat in Baku nur so viel verraten, dass er nicht grundsätzlich Platz machen müsse für Norris. Beinahe pastoral sagte der Australier: «Es geht mehr darum, den Fahrer zu belohnen, der am Rennwochenende den besseren Job gemacht hat. Es ist uns wichtig, dass das Vertrauen und der Respekt nicht verlorengehen.»

Es ist der verständliche Wunsch, sich mit der Teamräson zu solidarisieren, ohne den eigenen Standpunkt aufzugeben. Rennfahrer-Ehre gewissermassen. Der Spagat zwischen Gemeinwohl und Egoismen wird trotz der zu erwartenden Regieanweisungen ein spannendes Experiment bleiben.

Viele Beispiele aus der Grand-Prix-Geschichte zeigen, wie schwierig schöne Theorien in der Hitze des Renngeschehens umzusetzen sind. Auch deshalb ist McLarens Stallorder relativ vage formuliert. Dazu der hehre Merksatz von Andrea Stella: «Nichts, was auf der Strecke geschieht, darf dem Team schaden.»

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