Die Publizistin Andrea Köhler erzählt eine kleine Kulturgeschichte des Verhältnisses zum eigenen Gesicht und der Manipulationen am Antlitz.
Das soll mein Ich sein? Dieser Moment eines leisen Unbehagens stellt sich fast jeden Morgen ein: Man sieht sich im Spiegel und will sich nicht recht anfreunden mit dem, was man da erblickt. So erscheine ich anderen? Und warum fällt es mir so schwer, dieses Gesicht als das meinige zu akzeptieren?
Von solchen Alltagsfragen geht die Autorin Andrea Köhler aus. Die ehemalige Redaktorin im Feuilleton der NZZ spürt in ihrem klugen Essay «Vom Antlitz zum Cyberface» den Veränderungen nach, die unsere Vorstellung vom Gesicht über die Jahrhunderte hinweg erfahren hat. Assoziativ und doch immer stringent greift sie auf soziologische, naturwissenschaftliche und nicht zuletzt kunsthistorische Studien zurück, um das Gesicht als ständig neu zu interpretierende «Fläche der Mitteilung» zu begreifen.
Blicke als Zumutung
Wer einen anderen erstmals «zu Gesicht bekommt», reagiert darauf unweigerlich mit Gefühlen der Sympathie oder der Antipathie, ohne diese im Detail spezifizieren zu können. Manch einer wie der Zürcher Pfarrer Johann Caspar Lavater glaubte gar, von der Physiognomie eines Menschen auf dessen Charaktereigenschaften schliessen zu können. Das ist ein heikler Brückenschlag, dennoch fällt es nicht leicht, sich solchen Kurzschlüssen gänzlich zu entziehen.
Von Angesicht zu Angesicht entsteht Kommunikation, für die wenige Blicke genügen. Wer diese freilich nicht nach drei, vier Sekunden abwendet, sorgt für Irritation beim Gegenüber. Das ungebührlich lange Mustern eines fremden Gesichts ist eine Grenzüberschreitung, die der Gemusterte selbst als Störung empfinden kann. Ist mein Gesicht es wert, auf diese Weise inspiziert zu werden? Will ich, dass der andere das Gesehene für mein Ich, für meine Identität hält?
Sich selbst zu sehen, das geschieht nicht nur im Spiegel. Die Fotografie bot eine neue Möglichkeit, eine scheinbar gesicherte, dabei nur ganz momenthafte Aufnahme des Gesichts zu kreieren. Die Selfie(un)kultur unserer Tage wiederum hat mit der klassischen Porträtfotografie nichts mehr zu tun: «Es will nicht mehr Charakterköpfe für die Nachwelt fixieren, sondern das Hier und Jetzt im Netz, den kuriosen Einfall, das tolle Abendessen, die neue Frisur.»
Am Ende ihres Essays kommt Andrea Köhler bei den Cyberfaces an, jenen künstlich generierten Gesichtern, die ohne Rückgriff auf existierende Personen auskommen. Die Folgen davon sind noch nicht abzusehen: «Wenn man dem Angesicht nicht mehr trauen kann, ist eine massive (und explosive) Vertrauenskrise mit erheblichen Konsequenzen vorprogrammiert.»
Plastische Chirurgie
Dieser Anonymisierung durch den Einsatz künstlicher Intelligenzen stehen die sehr realen Eingriffe in unser Gesicht gegenüber. Die plastische Chirurgie soll aufheben oder verschleiern, dass wir Alterungsprozesse durchlaufen und Schönheit erlischt.
War es früher bekannten Schauspielerinnen im vorgerückten Alter vorbehalten, sich in einen Jungbrunnen zu stürzen und das Gesicht neu formen zu lassen, so machen sich heute schon junge Menschen mit grosser Selbstverständlichkeit daran, vermeintliche Defizite chirurgisch zu tilgen und so einer «Perfektion» hinterherzujagen. Dass unsere Gesellschaft vor allem Frauen für ihre «Falten und Furchen» ächtet und als «Ausdruck eines Versagens» deutet, trennt die Geschlechter bis heute. Sein «Gesicht zu wahren», das sagt sich leichter, als es getan ist.
«Vom Antlitz zum Cyberface» ist ein Essay voller inspirierender Beobachtungen. Nach dessen Lektüre wird der morgendliche Blick in den Badezimmerspiegel fraglos ein anderer sein.
Andrea Köhler: Vom Antlitz zum Cyberface. Das Gesicht im Zeitalter seiner technischen Manipulierbarkeit. Verlag zu Klampen, Springe 2024. 124 S., Fr. 24.90