Donnerstag, Februar 13

Das Einkaufszentrum Glatt in Wallisellen ist 50-jährig. Die Prinzipien einer Shoppingmall wurden hier prototypisch umgesetzt. Die charaktervolle Gestaltung von Victor Gruen, dem Erfinder der Shoppingmall, ist verschwunden.

Am 13. Februar 1975 öffnet das Einkaufszentrum Glatt in Wallisellen seine Türen. Mit einer Verkaufsfläche von 52 000 Quadratmetern und 4000 Parkplätzen ist es das grösste der Schweiz. Doch wird es erfolgreich sein? Die Wirtschaft ist auf dem Weg in die Rezession, und in der Region wurden im Jahr zuvor weitere Zentren eröffnet: in Pfäffikon (SZ) das Seedamm-Center und in Spreitenbach, gleich neben dem Shoppingcenter von 1970, das Tivoli. Doch: «Der Riese lebt», titelte die «Schweizer Illustrierte» schon im Sommer 1975. Und er lebt bis heute.

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Zwar liegt das Glatt mit nunmehr 43 400 Quadratmetern Verkaufsfläche nur an siebter Stelle. Mit einem Umsatz von geschätzten 600 Millionen Franken besetzt es aber seit Jahrzehnten die Spitze, trotz Einbussen wegen Corona und dem Internethandel. Der Standort, das Angebot und die nach wie vor kostenlosen Parkplätze mögen der Schlüssel zum Erfolg sein. Eine wichtige Rolle spielt aber auch das robuste, seit fünfzig Jahren weitgehend unveränderte räumliche Konzept.

Das Abc der Shoppingmall

Die Pläne für das Glattzentrum stammen vom Architekten Victor Gruen, dem Erfinder der Shoppingmall. Geboren in Wien als Viktor Grünbaum, emigrierte er 1938 in die USA, wo er in den 1950er Jahren die ersten Malls baute. Das Prinzip ist einfach: Damit eine Einkaufsstrasse funktioniert, braucht es an deren Ende zwei starke Pole. Als vor über 150 Jahren in Zürich die Bahnhofstrasse gebaut wurde, übernahmen der neue Hauptbahnhof und der Paradeplatz diese Rolle. In einer Shoppingmall sind es die Ankermieter – im Glattzentrum die Warenhäuser Jelmoli und Globus. Diese beiden Magnete gewährleisteten einen gleichmässigen Personenfluss entlang der dazwischen aufgereihten kleineren Geschäfte.

Die Mall – also der überdeckte, öffentlich zugängliche Bereich des Zentrums – sollte zur guten Orientierung einfach strukturiert, aber nicht auf einen Blick zu erfassen sein. Deshalb kreuzen sich im Glatt zwei gegeneinander versetzte Arme in einer zentralen Halle. Das hat den gleichen Effekt wie die zwei Knicke der Bahnhofstrasse zwischen Hauptbahnhof und Paradeplatz: Sie lassen die Ladenstrasse länger wirken. Die Parkhäuser sind mehrgeschossig an den Einkaufstempel angedockt und auf unterschiedlichen Ebenen ins umliegende Strassennetz eingebunden. Damit wird das Erdgeschoss nicht bevorzugt, sondern alle Verkaufsebenen sind gleichwertig.

Ein Boden von Welt

Wie ein Supertanker sitzt das Glattzentrum im Strassen- und Häusergewirr der Agglomeration. Weder ist der Baukomplex städtebaulich gegliedert, noch sucht er eine Verbindung mit seiner Umgebung. Wie ein Kettenhemd legen sich die Parkebenen um das blechverkleidete Volumen und machen klar, dass sich das Zentrum in erster Linie an die motorisierte Kundschaft richtet.

Der Aussenraum eines Einkaufszentrums ist eben sein Innenraum: die Mall. Im Vergleich zu anderen Zentren überraschte das Glatt 1975 durch räumliche Grosszügigkeit und sorgfältig ausgewählte Materialien und Farben: Die achteckigen Betonstützen mit gestockter Oberfläche waren unverkleidet. Dazu gesellte sich ein dunkelbrauner Kellenwurf an den Deckenstirnen und Pflanztrögen. Ein Holzhandlauf schloss die Glasbrüstungen ab, die Wendeltreppen waren elegant geschwungene Betonskulpturen. Der Bodenbelag aus kleinen, zu kreisförmigen Ornamenten zusammengefügten Keramikplättchen atmete sogar den Duft der weiten Welt: Bis heute ist ein identischer Belag emblematisch für das Embarcadero Center in San Francisco mit dem spektakulären Atrium des Hyatt Regency Hotel von 1973.

Das Tageslicht war für die früheren Mall-Planer mehr Fluch als Segen. Da vor fünfzig Jahren die Lichtstärken im Ladenbau deutlich geringer waren als heute, hätten in einer zu hellen Umgebung die Läden wie dunkle Löcher gewirkt. Also liessen die Dreiecke und Quadrate in der Decke des Glattzentrums nur gedämpftes Tageslicht einfallen. Die Ladenfronten konnte jeder Mieter nach den eigenen Bedürfnissen gestalten. 1300 Meter mass bei der Eröffnung des Glattzentrums die Länge aller Fronten – gleich viel wie an der Bahnhofstrasse zwischen Hauptbahnhof und Paradeplatz und zurück. Und auch das Angebot war deckungsgleich mit jenem in der Innenstadt.

Der Mall-Meister war nicht zufrieden

Für Victor Gruen sollte eine Mall nicht nur ein Einkaufsort sein, sondern eine vollwertige Alternative zu den vom Verkehr verstopften Innenstädten: mit Sälen, Theatern, Kinos, Bibliotheken oder Sportanlagen. Er warnte schon 1961 in einem Gespräch mit der NZZ vor dem «Zerfall der Stadtzentren». Die Europäer dürften nicht den gleichen Fehler machen wie die USA und ihre Innenstädte auf den privaten Autoverkehr ausrichten. Er wollte die Autos aus den Zentren verbannen und in Parkhäusern entlang einer Ringstrasse abfangen.

Genau die Sorge um drohende Umsatzrückgänge wegen fehlender Strassen und Parkplätze trieb die Initianten des Glattzentrums an. Im Herbst 1962 gründeten der Migros-Genossenschafts-Bund und die Warenhäuser Globus und Jelmoli die AG Einkaufszentrum Glatt-Zürich. Zwei Jahre später stellten sie ein erstes Projekt für ein Einkaufszentrum an der geplanten Autobahn N 1 (heute A 1) in Wallisellen vor. Es umfasste eine Verkaufsfläche von 17 700 Quadratmetern, 2000 Parkplätze, ein Hotel, Restaurants, Kinos, Arztpraxen und weitere Einrichtungen – ein «Spiegelbild einer guten blühenden City», wie die NZZ schrieb.

Verpflegung (links) im Jahr 1993 und Spieleabend (rechts), geleitet vom deutschen Moderator Robert Lembke (mit Brille), 1976.

Weil zwar das Trassee der Autobahn, nicht jedoch die Anschlüsse und Verzweigungen festgelegt waren, verzögerte sich das Vorhaben. 1968 beauftragte die Bauherrschaft Victor Gruen mit der Projektierung. Architektonisch entsprach sein Entwurf weitgehend dem schliesslich realisierten Gebäude. Bei der Nutzung schieden sich jedoch die Geister: Gruen hatte den Anteil der Verkaufsflächen auf 49 Prozent beschränkt, die Bauherrschaft verlangte eine Erhöhung auf 77 Prozent. Im Frühjahr 1972 kam es zum Bruch. Schwarzenbach und Maurer, die Hausarchitekten der Migros, übernahmen Detailplanung, Koordination und Bauleitung und setzten die Pläne um.

Konstanz im Wandel

Anfang der 1990er Jahre erfuhr das Einkaufszentrum Glatt seinen ersten und bis heute einzigen Umbau, der zwar nicht die Struktur, aber den architektonischen Ausdruck der Mall veränderte. Seither bringen grossflächige Verglasungen Tageslicht in die Mall. Ein heller Natursteinboden, eine Verkleidung der Betonstützen und neue Brüstungen und Decken machten aus dem Charaktergesicht der 1970er Jahre einen neutralen Hintergrund für die bunte Warenwelt.

1996 verliess mit Jelmoli einer der Ankermieter das Zentrum. Globus übernahm die Flächen, und anstelle des nun fehlenden Warenhauses ergänzte man die Mall mit einer weiteren Rolltreppenverbindung und neuen Läden. Seither hat sich der Charakter des Glattzentrums trotz verschiedenen Umbauten und Sanierungen nicht mehr verändert. Eine Überbauung zwischen dem Einkaufszentrum und dem Bahnhof Wallisellen und die Haltestelle der Glattalbahn binden den Riesen an der Autobahn besser in seine Umgebung ein. 2020 verkaufte die Migros, nunmehr alleinige Eigentümerin, die Liegenschaft an Swiss Life.

Wäre das Glatt mit Kultur- und Vergnügungsangeboten, wie sie Victor Gruen gefordert hatte, noch erfolgreicher geworden? Oder ist genau die Beschränkung aufs Wesentliche ein Faktor für den Erfolg? Das fünfzigjährige Zentrum mag nüchtern, zwinglianisch-zürcherisch wirken. Damit zeigt es, dass Bling-Bling gar nicht nötig ist; die Essenz der Architektur reicht aus: Raum und Licht.

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