Freitag, November 1

Am 3. März stimmt das Volk über zwei AHV-Initiativen ab. Die Gewerkschaften fordern eine 13. Rente, die Jungfreisinnigen ein höheres Rentenalter. Unia-Präsidentin Vania Alleva und Matthias Müller, Chef der Jungfreisinnigen, streiten über Sinn und Unsinn der beiden Initiativen.

Streitgespräch zur AHV-Abstimmung: Vania Alleva, Präsidentin der Gewerkschaft Unia und Matthias Müller von den Jungfreisinnigen / FDP, Medienzentrum in Bern, 23.01.2024.

Herr Müller, was sagen Sie zum oft gehörten Argument: «Der Staat verteilt Geld nach links und rechts, also kann er auch Geld für die AHV ausgeben.»

Matthias Müller: Der Staat hat keineswegs für alles Geld. Es drohen gigantische Defizite, der Staat muss sparen. Die Initiative für eine 13. AHV-Rente würde zu milliardenschweren Mehrkosten führen. Irgendjemand muss das am Schluss bezahlen. Und das sind die Jungen, die Erwerbstätigen, das ist der Mittelstand. Das ist im höchsten Mass asozial.

Der Staat kümmert sich also genug um die Rentner?

Müller: Der überwiegende Teil der Rentner steht finanziell gut bis sehr gut da. Nur bei einer Minderheit ist das nicht der Fall: 12 Prozent der AHV-Rentner sind auf Ergänzungsleistungen (EL) angewiesen. Klar: Jeder Rentner, der bedürftig ist, ist einer zu viel. Aber um dieser Gruppe gezielt zu helfen, haben wir mit den EL ein austariertes System. Die 13. AHV-Rente hingegen ist eine teure Giesskanne, die völlig am tatsächlichen Bedarf vorbeigeht.

Vania Alleva: Richtig ist: Der Staat hat zwar für vieles Geld, nur nicht für die Menschen, die es brauchen. Für die Notübernahme der Credit Suisse konnte der Bund über Nacht Milliarden Franken zur Verfügung stellen. Es ist auch nicht so, dass es allen Rentnerinnen und Rentnern einfach gutgeht, wie Herr Müller meint. Im Gegenteil, die 13. AHV-Rente ist nötig, sie entspricht einem dringenden Bedürfnis. Die Pensionierten haben seit 2021 infolge der Teuerung und der höheren Krankenkassenprämien eine ganze AHV-Monatsrente verloren.

Dennoch können die bessergestellten Rentnerhaushalte jeden Monat Geld zur Seite legen. Warum wollen Sie diesen Schichten eine 13. AHV-Rente geben, Frau Alleva?

Alleva: Weil die AHV eine Versicherung ist: Alle zahlen ein, und alle erhalten eine Rente. Für die allermeisten Leute lohnt sich das, 92 Prozent zahlen weniger in die AHV ein, als sie später mit der Rente bekommen. Die anderen 8 Prozent, das sind die Leute mit Millionensalären, die zahlen sehr viel mehr ein, als sie erhalten, und finanzieren damit die AHV solidarisch. Oder wie schon der AHV-Vater Hans-Peter Tschudi sagte: «Die Reichen brauchen die AHV nicht, aber die AHV braucht die Reichen.»

Trotzdem: Warum reichen die Ergänzungsleistungen für die gezielte Hilfe an bedürftige Rentner nicht aus?

Alleva: Für ganz viele Leute aus dem Mittelstand ist es heute finanziell ebenfalls schwierig, doch sie können keine EL beantragen oder wollen das nicht. Es gibt zahlreiche Rentnerinnen und Rentner, deren Vermögen aus einer eigenen Wohnung oder einem eigenen Haus besteht. Und damit können sie die steigenden Stromrechnungen nicht bezahlen, zumal die Renten aus der beruflichen Vorsorge seit Jahren im Sinkflug sind. Das spüren die Leute, und zwar auch jene in der Mitte der Gesellschaft.

Herr Müller, die Mietpreise sind gestiegen, die Stromrechnungen, das Leben wurde teurer. Ist es da nicht angebracht, dass man das mit einer 13. Rente ausgleicht?

Müller: Krankenkassenprämien, Mieten oder Strom: Das sind alles Dinge, die nichts mit der AHV zu tun haben und die die ganze Bevölkerung belasten. Wir müssen diese Probleme separat lösen. Gegenwärtig steht die finanzielle Situation der Altersvorsorge im Brennpunkt. Mit dem linken Brandbeschleuniger der 13. AHV-Rente würde das Umlageergebnis der AHV bereits 2026 ins Negative kippen. Die AHV-Reserven würden dahinschmelzen, wir hätten bei der AHV allein im Jahr 2050 ein jährliches Defizit von 16 Milliarden Franken. Was die Gewerkschaften mit ihrer Initiative vorhaben, ist eine Form der politischen Wohlstandsverwahrlosung. Man geht auf Einkaufstour mit der Kreditkarte der Jungen. Sie müssten die Rechnung über weiter steigende Lohnabzüge oder über eine weiter steigende Mehrwertsteuer überproportional stark berappen.

Laut Bundesrat werden sich die Kosten für die 13. AHV-Rente 2026 auf 4,1 Milliarden und 2031 bereits auf 5 Milliarden Franken jährlich belaufen. Frau Alleva, wer soll das bezahlen?

Alleva: Die AHV hat heute 50 Milliarden Reserven, bis 2030 werden es 70 Milliarden sein. Das macht es möglich, die 13. Rente 2026 einzuführen. Sollte längerfristig eine Zusatzfinanzierung nötig werden, dann braucht es nach unseren Berechnungen zusätzliche 0,4 Lohnprozentpunkte. Für einen Elektriker mit einem Einkommen von 6000 Franken sind das 24 Franken pro Monat mehr. Im Gegenzug steigt seine AHV-Rente um 186 Franken.

Müller: Was Frau Alleva sagt, ist an den Haaren herbeigezogen. Die AHV würde sofort eine Zusatzfinanzierung brauchen und nicht erst längerfristig. Und die um 0,4 Prozentpunkte höheren Lohnbeiträge würden nirgends hinreichen, das sagt auch SP-Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider. Die Mehrwertsteuer müsste bis 2050 auf 11 bis 12 Prozent, die Lohnbeiträge müssten um 2,6 Prozentpunkte angehoben werden.

Frau Alleva, ist es nicht unredlich, die AHV auszubauen, ohne gleichzeitig die Finanzierung zu sichern?

Alleva: Wir wollten unsere Initiative möglichst einfach halten, deshalb haben wir die Finanzierung nicht mit hineingenommen. Aber wir haben immer gesagt, dass man die 13. AHV-Rente mit zusätzlichen 0,4 Lohnprozentpunkten für Arbeitnehmer und für Arbeitgeber finanzieren kann.

Müller: Das stimmt einfach nicht! Frau Alleva, bestreiten Sie die Zahlen des Bundesamts für Sozialversicherungen, wonach mit der 13. AHV-Rente die Mehrwertsteuer bis 2050 auf 11 bis 12 Prozent erhöht werden müsste oder die Lohnprozente um 2,6 Prozentpunkte steigen würden – und nicht bloss um 0,4 Prozentpunkte, wie Sie sagen?

Alleva: Sie können jetzt noch lange mit den Zahlen herumspielen . . .

Müller: . . . bestreiten Sie die offiziellen Zahlen des Bundesrates?

Alleva: Der Bundesrat redet von 0,7 Lohnprozenten – je 0,35 Prozent für Arbeitgeber und Arbeitnehmende – oder von einem Mehrwertsteuerprozent bei der Einführung der 13. AHV-Rente 2026. Abgesehen davon: Der Bund hat sich bei der AHV schon mehrmals verrechnet. Man kann gar nicht so weit in die Zukunft rechnen. Die Gegner betreiben billige Angstmacherei.

Müller: Ich nehme zur Kenntnis, dass Sie die Zahlen des Bundesrats nicht anerkennen und das Finanzloch, das Sie mit der 13. AHV-Rente verursachen, leugnen.

Alleva: Und Sie anerkennen nicht, dass die AHV extrem wichtig ist, dass sie aber nicht existenzsichernd ist, wie es die Verfassung verlangt.

Frau Alleva, Ihre Seite argumentiert gerne mit der Kaufkraft. Wenn Sie den Leuten mehr vom Lohn wegnehmen oder die Mehrwertsteuer heraufsetzen, würde das die Kaufkraft weiter schwächen.

Alleva: Der Kaufkraftverlust wäre nicht gross. Wir haben Berechnungen gemacht, über sämtliche Berufsgruppen hinweg, und die Zusatzabgabe wäre durchaus verkraftbar. Das Preis-Leistungs-Verhältnis ist für die ganz grosse Mehrheit sehr gut. Ungünstig ist es für die Millionäre.

Müller: Die 13. AHV-Rente hätte schmerzhafte Einschnitte für junge Familien zur Folge oder für Alleinerziehende. Entscheidend ist doch: Es gibt Altersarmut in der Schweiz. Darum haben wir das wunderbare System der EL, die wirklich jenen helfen, die es brauchen – und nicht rund 90 Prozent der Rentner.

Im Parlament wird über eine Motion diskutiert, die Mindestrente anzuheben und damit gezielt den bedürftigen Rentnern zu helfen. Das soll rund 1 Milliarde zusätzlich kosten. Wären Sie beide für eine solche Idee zu haben?

Müller: Ja. Die Mindestrenten bei der AHV sind heute zu tief, ich würde sie für diese Gruppe gezielt anheben. Aber ich finde es falsch, Sergio Ermotti eine 13. AHV-Rente zu geben. Seit Jahren führen die Gewerkschaften einen Kreuzzug gegen die Reichen, und jetzt wollen sie ihnen noch eine 13. Rente schenken – das ist absurd.

Alleva: Das ist Polemik! Es ist wichtig, dass gerade auch Superreiche wie Sergio Ermotti in die AHV einzahlen – bei ihm wären es übrigens 4400 Franken pro Monat mehr für die Finanzierung der 13. Rente, und das ist alles andere als absurd. Und wer einzahlt, bekommt dann auch eine Rente. Was die Motion im Parlament betrifft: Die bürgerliche Seite war nicht bereit, einen Gegenvorschlag zu unserer Initiative zu diskutieren. Und jetzt, kurz vor der Abstimmung, kommt man schnell noch mit einer Motion. Das ist unredlich. Das bedeutet: Wenn die 13. AHV-Rente nicht angenommen wird, gibt es nichts, gar nichts. Im Gegenteil: Die Zeichen stehen auf Angriff auf die AHV. Die Rechten wollen die Witwenrenten kürzen und die Kinderrenten gleich auch noch.

Wie steht es mit der Generationengerechtigkeit? Ist es nicht einfach unfair, dass die Jungen von zusätzlichen Lohnbeiträgen und Steuern viel stärker belastet werden als die Älteren?

Alleva: Die bisherigen Umfragen zeigen, dass die Basis aller Parteien – mit Ausnahme jener der FDP – für eine 13. AHV-Rente ist, selbst die Jungen! Sie engagieren sich für die 13. AHV-Rente, weil sie sehen, dass ihre Eltern die Rechnungen nicht mehr zahlen können. Und weil sie wissen: Es lohnt sich auch für sie.

Frau Alleva, die Lebenserwartung nimmt laufend zu. Ist es da nicht logisch, das Rentenalter an die Lebenserwartung zu binden, wie dies die Junge FDP mit ihrer Initiative fordert?

Alleva: Nein. Denn damit müssten ausgerechnet jene Arbeitnehmenden, die ihr Leben lang hart krampfen, länger arbeiten, die Verkäuferinnen etwa oder die Pflegerinnen. Wer es sich leisten kann, geht dagegen schon früher in den Ruhestand. Das ist zynisch. Mit der Initiative würde zudem eine der wichtigsten sozialen Errungenschaften der letzten 20 Jahre gefährdet: die Frühpensionierung auf dem Bau und in verschiedenen Gewerbebranchen. Ich erinnere daran, dass davor nur einer von fünf Beschäftigten auf dem Bau das reguläre Pensionsalter erreicht hat. Die Hälfte der Bauarbeiter verstarb vorher oder wurde invalid. Herrn Müllers Initiative würde für diese 100 000 Arbeitnehmenden eine massive Verschlechterung ihrer Arbeits- und Gesundheitsbedingungen bringen.

Herr Müller, gönnen Sie den Büezern den wohlverdienten Ruhestand nicht?

Müller: Davon kann keine Rede sein. Meine Mutter hat unter anderem im Altersheim als Pflegefachfrau gearbeitet. Wir wollen diese Leute nicht zwingen, bis 66 zu arbeiten. Uns geht es um die Reform des Gesamtsystems. Die Rentenbezugsdauer hat sich seit der Einführung der AHV verdoppelt. Diese Realität müssen wir abbilden. Die grosse Mehrheit der 5,3 Millionen Erwerbstätigen lebt nun einmal viel länger und gesünder. Nur wenn wir das Rentenalter entsprechend anpassen, können wir verhindern, dass die AHV in Schieflage gerät.

Aber wäre ein vorzeitiger Ruhestand für die Beschäftigten mit hoher Belastung weiterhin möglich?

Müller: Für Frühpensionierung gibt es von den Sozialpartnern ausgehandelte Branchenlösungen. Diese bleiben mit unserer Initiative weiterhin erlaubt, auch wenn sie nicht in der Verfassung verankert werden können.

Alleva: Nur weil Branchenlösungen nicht verboten sind, heisst das noch lange nicht, dass diese weiterhin gelten. Ihre Initiative führt dazu, dass die Topverdiener früher in Rente gehen. Alle anderen aber müssten weiterarbeiten, sonst würden ihre Renten gekürzt. Die Frühpensionierungen werden damit massiv gefährdet. Wäre Ihre Initiative vor 50 Jahren eingeführt worden, läge das Rentenalter heute übrigens bei 71. Dabei erzielt die AHV heute Überschüsse, mit Rentenalter 65!

Müller: Vor 50 Jahren war ich noch nicht auf der Welt. Ich will das Rentenalter jetzt anheben. Und das würde Rentenalter 66 im Jahr 2033 bedeuten. Es handelt sich dabei um einen sehr moderaten Schritt. Viele europäische Länder werden dann längst beim Rentenalter 67 oder mehr sein, darunter Italien, Deutschland und Portugal.

So dringlich scheint die Lage aber nicht zu sein. Der Bundesrat lehnt Ihre Initiative ab, Herr Müller, und kritisiert, der Mechanismus zur Festlegung des Rentenalters sei zu starr.

Müller: Das ist ein schwaches Argument. Bis jetzt hat man stets versucht, die finanziellen Probleme der AHV mit Hauruckübungen zu lösen. Wir aber möchten die AHV endlich nachhaltig sichern. Und dazu brauchen wir einen Automatismus, der das Rentenalter an die Realität anpasst. Wir kennen schon heute Automatismen, etwa den Mischindex bei der Rentenanpassung. Ein weiterer erfolgreicher Mechanismus ist die Schuldenbremse, die in der Verfassung steht. Wir möchten das, was für die Bundesfinanzen gilt, auf die AHV übertragen.

Alleva: Es ist interessant, dass ausgerechnet die Jungfreisinnigen ein Vorsorgesystem einführen wollen, das extrem bürokratisch ist. So müsste die Rente immer wieder neu berechnet werden, was völlig realitätsfremd ist. Ich dachte, die Jungfreisinnigen seien für den Abbau von Bürokratie.

Müller: Das Gegenteil ist richtig. Die Erhöhung des Rentenalters unterliegt einem international anerkannten Mechanismus, der von Ländern wie Schweden, Dänemark und Finnland bereits angewandt wird. Das funktioniert dort einwandfrei. Geht die Lebenserwartung um ein Jahr hoch, dann steigt das Rentenalter um 0,8 Jahre. Geht sie zurück, sinkt es im selben Verhältnis. Das ist nicht nur fair, sondern auch einleuchtend. Zumal das Rentenalter jeweils für jeden Jahrgang fünf Jahre vor der Pensionierung mitgeteilt wird.

Frau Alleva, kann man Ihrer Ansicht nach mit dem Rentenalter 65 einfach noch ein paar Jahrzehnte weitermachen?

Alleva: Natürlich! Es ist ja nicht so, dass die Lebenserwartung ins Unendliche steigt, der Trend flacht sich bereits ab. Hinzu kommt: Viele Leute können bereits heute nicht bis 65 im Erwerbsleben bleiben, aus gesundheitlichen Gründen oder weil sie auf dem Arbeitsmarkt unter Druck geraten. Viele ältere Arbeitnehmende haben grösste Mühe, wieder eine Stelle zu finden, wenn sie den Job verlieren. Auch deshalb ist die Erhöhung des Rentenalters realitätsfremd.

Herr Müller, auch mit Ihrer Initiative ist die AHV noch nicht saniert. Wie muss es Ihrer Ansicht nach weitergehen: arbeiten bis 70?

Müller: Fakt ist: Unsere Initiative würde die AHV finanziell stark entlasten. Aber Sie haben recht: Die Finanzierung bis 2050 wäre auch damit nicht gesichert. Das zeigt, wie heftig die demografische Sturmflut sein wird. Wir werden bald eine Million mehr Rentner in diesem System haben! Mit unserer Initiative aber halbieren wir den Schuldenberg der ersten Säule immerhin. Wir tun damit einen ersten Schritt, um das Vorsorgewerk aus der Defizitwirtschaft herauszuholen.

Ihre Argumente kommen trotzdem nicht an. Gemäss den Umfragen hat die Gewerkschaftsinitiative für eine 13. AHV-Rente gute Erfolgschancen, ganz im Gegensatz zu Ihrer Initiative.

Müller: Erfreulich ist, dass die SVP in vielen Kantonen die Ja-Parole gefasst hat. Auch viele Wirtschaftsverbände stehen hinter unserer Initiative. Aber klar: Die Gewerkschaften erzählen, dass das Christkind alle Rechnungen bezahlen wird. Wir aber versuchen zu erklären, dass die Menschen etwas länger arbeiten müssen, um die AHV zu retten. Sexy ist diese Botschaft nicht, dafür ist der Inhalt unserer Initiative sehr wirksam.

Frau Alleva, was glauben Sie: Bleibt es beim Ja-Trend für die 13. AHV-Rente?

Alleva: Wir spüren, dass unsere Initiative breit getragen wird. Auch wenn die Gegenseite nun Millionen in die Gegenkampagne investiert, bleiben wir zuversichtlich. Alle Arbeitnehmenden haben das Recht, in Würde in Rente zu gehen. Herrn Müllers abschätzige Bemerkung mit dem Christkind ist völlig fehl am Platz!

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