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Der Putschversuch in Südkorea ist kolossal gescheitert. Warum zeigte die Zivilgesellschaft des Landes eine solche Entschlossenheit? Eine Antwort ist kaum möglich ohne das Verständnis für ein traumatisches Erlebnis vor 44 Jahren.
«Sie wollten mir offensichtlich beweisen, dass mein Körper nicht mehr mir gehörte (. . .). Meine Seele schien sich Stück für Stück aufzulösen, wie Schaumblasen, die aufquellen, bevor sie zerplatzen.» (Ein Folteropfer im Roman «Menschenwerk» der Literaturnobelpreisträgerin Han Kang)
Chung Chin Ook fühlte sich am 3. Dezember 2024 in diese düstere Vergangenheit zurückkatapultiert: ein Staatschef, der das Kriegsrecht ausruft, Panzer auf den Strassen, Sonderkommandos vor öffentlichen Gebäuden. Er habe die gleiche Angst und Verzweiflung gespürt wie 1980 in seiner Heimatstadt Gwangju. So erzählte es der 60-jährige Parlamentarier einer Journalistin der «New York Times».
Vor 44 Jahren hatte der Abgeordnete der Demokratischen Partei beobachtet, wie das Militär in Gwangju aufmarschierte. Bis zu 200 000 Menschen demonstrierten damals gegen den Putschisten Chun Doo Hwan und das Kriegsrecht. Der General liess die friedlichen Kundgebungen brutal niederschlagen. Zwischen dem 18. und dem 27. Mai 1980 massakrierte das Militär über 150 Demonstranten. Tausende wurden verhaftet und gefoltert. Die südkoreanische Literaturnobelpreisträgerin Han Kang, auch sie stammt aus Gwangju, hat die traumatischen zehn Tage im beklemmenden Roman «Menschenwerk» verarbeitet.
Die Wende von 1987
Das Massaker von Gwangju markierte einen grausamen Höhepunkt im jahrzehntelangen Kampf gegen Repression im Süden der koreanischen Halbinsel. Statt sich einschüchtern zu lassen, gewannen die Demonstranten an Entschlossenheit.
Sie machten weiter. Die neue Welle von Massenprotesten führte zum Tod zweier Studenten: Park Jong Cheol, ein Demokratieaktivist, wurde von den Sicherheitskräften zu Tode gefoltert. Ein weiterer Student, Lee Han Yeol, erlag nach Wochen im Koma seinen Verletzungen durch eine Tränengasgranate. Das Bild, wie Lee im Juni 1987 nach einem brutalen Polizeieinsatz bewusstlos in den Armen eines Kollegen liegt, wurde zum Symbol für die Gewaltherrschaft des Chun-Regimes.
Gingen die Proteste zunächst von Studenten und Arbeitern aus, fanden sie immer mehr Anhänger. Heerscharen von Büroangestellten fuhren am Vormittag in die Firma – und gingen am Nachmittag an die Kundgebungen. Auch kirchliche Gruppen und die Frauenbewegung schlossen sich den Protesten an.
Am 29. Juni 1987 leitete Roh Tae Woo, ein Zögling des Diktators Chun, mit einer aufsehenerregenden Erklärung schliesslich die demokratische Wende ein. Obwohl von Chun zu dessen Nachfolger bestimmt, kündigte Roh freie Wahlen und eine neue Verfassung an. Der führende Oppositionspolitiker und spätere Friedensnobelpreisträger Kim Dae Jung wurde aus dem Gefängnis entlassen und durfte zur Wahl antreten. Da sich die Stimmen des demokratischen Lagers auf drei Kandidaten verteilten, gewann Roh die ersten freien Präsidentschaftswahlen.
Seit der Erlangung der Unabhängigkeit von Japan im Jahr 1945 hatten in Seoul überwiegend Militärdiktatoren regiert. Zwei Jahre vor dem Fall der Berliner Mauer schaffte Südkorea plötzlich den Übergang zur Demokratie. Danach wurde dem Verantwortlichen für das Gwangju-Massaker, General Chun, der Prozess gemacht. Er erhielt die Todesstrafe, die aber nach einem Begnadigungsverfahren ausgesetzt wurde. Verantwortlich dafür war ein Präsident, der selbst unter der Diktatur gelitten hatte. Er wollte damit ein Zeichen zur Aussöhnung setzen.
Der Olympia-Faktor
Den Kampf für die Freiheit führten die Südkoreanerinnen und Südkoreaner selbst. Doch spielte auch äusserer Druck eine Rolle. Hatte der amerikanische Präsident Ronald Reagan in seiner ersten Amtszeit (1981 bis 1985) das Regime des südkoreanischen Machthabers Chun toleriert, drang Washington Ende der achtziger Jahre auf eine Demokratisierung des Landes. Neben Japan ist Südkorea Amerikas wichtigster Alliierter in Asien.
Auch die olympischen Sommerspiele von 1988 begünstigten den demokratischen Wandel. Seoul stand nach der Vergabe der Spiele 1981 unter verstärkter internationaler Beobachtung. Amerikanische Nachrichtenmagazine hievten die Dauerproteste auf die Titelseiten. Es kam die Frage auf, ob die Spiele aus Sicherheitsgründen in ein anderes Land verschoben werden müssten. Für Südkorea wäre es eine Schmach gewesen.
Geschönte Sicht auf die diktatorische Vergangenheit
Die achtziger Jahre stehen indes nicht nur für Diktatur und Unterdrückung. Südkorea mauserte sich in dieser Zeit zum Tigerstaat, der die Welt mit hochwertigen Halbleitern, Konsumelektronik und Autos versorgte. Angesichts dieser wirtschaftlichen Erfolge blicken einige Konservative bis heute verklärt auf den Putschisten Chun zurück.
Staatspräsident Yoon, der vor zwei Wochen die Nation mit der Ausrufung des Kriegsrechts schockte, hatte 2022 mit wohlwollenden Äusserungen zum Chun-Regime Stirnrunzeln ausgelöst. Danach sah er sich zur Klarstellung gezwungen, seine Anerkennung beziehe sich nicht auf die Unterdrückung von Menschenrechtsaktivisten.
Repressive Regierungen in Seoul rechtfertigten die Ausschaltung demokratischer Grundrechte gerne mit der kommunistischen Gefahr aus dem Norden. Niemand bestreitet, dass die Bedrohung durch die seit sieben Jahrzehnten herrschende Kim-Dynastie real ist. Doch entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass auch Juntas nicht fähig waren, den aggressiven Nachbarn zu stoppen.
1968 war ein nordkoreanisches Kommando auf das Gelände des Präsidentenpalasts in Seoul vorgedrungen. 1983 töteten nordkoreanische Agenten vier südkoreanische Minister bei einem Staatsbesuch in Myanmar. Der damalige Machthaber Chun Doo Hwan entkam dem Bombenanschlag nur knapp.
«Diesmal können wir nicht verlieren»
Auch Staatschef Yoon begründete seinen missglückten Putschversuch mit der Bedrohung durch Pjongjang. Das Parlament sei von nordkoreanischen Kräften unterwandert, erklärte Yoon, als er am 3. Dezember kurzerhand das Kriegsrecht ausrief. Statt sich dem Verdikt zu fügen, eilten Parlamentarierinnen und Parlamentarier in die Nationalversammlung und wiesen Yoons Kriegsrechts-Erklärung mit 190 zu 0 Stimmen zurück.
Als Chung Chin Ook, der Abgeordnete aus Gwangju, das Parlament erreichte, war es bereits von Sicherheitskräften umstellt. Er schlich sich an einer Polizeisperre vorbei, kletterte über einen Zaun und schaffte es in das Parlamentsgebäude. «Diesmal können wir nicht verlieren», habe er sich gedacht, sagte Chung später der «New York Times».
Das klare Votum der Nationalversammlung und Zehntausende Bürger, die sich empört auf die Strassen begaben, haben Präsident Yoon bewogen, den Ausnahmezustand nach sechs Stunden wieder aufzuheben. So wurde ein Gewaltexzess wie 1980 in Gwangju verhindert. Südkoreas Zivilgesellschaft hat für ihre Freiheitsrechte einen hohen Preis bezahlt. So leicht lässt sie sich diese nicht mehr nehmen.

