Samstag, März 15

Überraschend, scharfsinnig, moralisch unkorrekt: Mojca Kumerdej, eine der wichtigsten Erzählstimmen Sloweniens, mutet ihren Lesern einiges zu. «Unter die Oberfläche» geht ihr Schreiben, ohne Furcht, auch an eingefleischte zivilisatorische Tabus zu rühren.

Bei Mojca Kumerdej haben alle kleine schmutzige Geheimnisse – manche haben allerdings auch grosse schmutzige Geheimnisse, wie die Mutter, die ihr Kind im Meer ertrinken lässt, weil sie auf dessen Nähe zum Vater eifersüchtig war. Nach der Geburt des Mädchens hatte die Frau sich zurückgesetzt gefühlt. Das Kind «war attraktiver als ich», denkt sie, und es «besass die Fähigkeit, eine Art warmes Magnetfeld um sich herum zu bilden, wozu ich schlichtweg nicht fähig bin». Im imaginären Dialog mit ihrem Mann fährt sie fort: «Menschen kalkulieren das immer irgendwie und verlieben sich in Personen, die ähnlich schön sind, irgendwie wägen sie immer ab, für wen sie nicht schön und attraktiv genug sind und wer ihrer selbst nicht wert ist.»

Nicht nur in der Titelgeschichte ihres Erzählbands «Unter die Oberfläche» überrascht die slowenische Philosophin und Kultursoziologin, Jahrgang 1964, mit psychologisch präzis geführten Punches, die an eingefleischte zivilisatorische Tabus rühren.

Die Gefahr ist ganz nah

Auch in der Erzählung «Glücksbarometer» übersteigert Kumerdej hässliche kleine Impulse ins Monströse: Eine Frau erträgt ihre ewig unglückliche Freundin nur, weil sie sich ihr überlegen fühlen kann. Doch auf einmal ist diese Freundin glücklich! Anlass genug für die Frau, ihr heimlich Beruhigungsmittel einzuflössen. Als die Freundin daraufhin einen Autounfall hat und ins Pflegeheim kommt, sitzt die Heuchlerin natürlich sofort an ihrem Bett und darf sich wieder als die Stärkere fühlen.

Heimlichkeiten und uneingestandene Gefühle prägen auch «Der Rächer». Ein Mann verführt auf raffinierteste Weise den bisexuellen Geliebten einer langjährigen Freundin, um ihn dann zu ghosten. Der Geliebte, der die Frau ewig zappeln liess, soll dadurch Liebesleid endlich einmal am eigenen Leib erfahren. Das wahre Motiv des Verführers ist jedoch, dass er diese Freundin seit langem selbst begehrt. Die Frau ist übrigens vollkommen ahnungslos.

Überhaupt scheint die grösste Gefahr von den Nächsten auszugehen, von Freunden, Verwandten, Nachbarn. In «Der Schutzengel» schleicht sich ein Stalker in die Wohnung einer Frau, die ihn fasziniert und die er zugleich verachtet. Der Mann lässt seinen offenkundigen Sadismus bereits an Kleintieren aus – eine beunruhigende Aussicht. «Manchmal sagt Michael nichts» nimmt den Leser mit in das Milieu einer nach aussen hin makellosen Familie, in der sexueller Missbrauch stattfindet. Die Mutter, eine Familienhelferin, kümmert sich engagiert um misshandelte Frauen. Die Tatsache, dass ihr Mann sich an der Tochter vergeht, hat sie allerdings jahrelang ignoriert.

Leber mit Eigenleben

Viel Sinn fürs Skurrile beweist Kumerdej in «Der Lebermann». Die Story fusst offensichtlich auf dem griechisch-antiken Gedanken, dass die Seele ihren Sitz in der Leber hat. Sie zeigt einen ehrgeizigen Biologen, der auf dem Weg zu einer Tagung, bei der er eine bahnbrechende Entdeckung verkünden wollte, einen tragischen Autounfall hat.

Der Mann stirbt, und seine Leber (mitsamt seinem Bewusstsein) wird einem anderen transplantiert, sehr zum Ärger der chronisch unzufriedenen «Leber»: «Man hat mich in einen völligen Idioten transplantiert, der von morgens bis abends in Schlappen durch die Wohnung läuft, in den Fernseher glotzt, Dummheiten von sich gibt, und zwar solche, die mein Gelehrtenverstand schwer erträgt.» Nolens volens wird die äusserst bornierte «Leber» auch zum Mitwisser der Geheimnisse des Organempfängers, der verheiratet ist, aber sehr gern Schwulenpornos ansieht.

Die wohl einzige zukunftsfähige Beziehung in diesem Buch hat eine Frau, die ihr neues Auto nach einem Vorschlag des Verkäufers «Erik» nennt. Zunächst versucht sie, die integrierte KI durch alle möglichen Fragen an ihre Grenzen zu führen – vergeblich. Dann stürzt sie in eine Krise, weil sie bei einem leichten Unfall mit «Erik» verletzt wird, andere Unfallbeteiligte jedoch unverletzt bleiben.

Sie fragt sich, wem «Eriks» Loyalität gilt. «‹Was hat Erik für ein Wertesystem? Entscheidet er sich auch nach dem Geschlecht, der Hautfarbe, den Gesichtszügen und dem Aussehen? Wie stuft er Menschen mit Behinderung ein oder die etwas Verträumten, Verwirrten oder die Zugedröhnten und Besoffenen? Und wo auf dieser Rangliste befinde ich mich, seine Eigentümerin?›, brüllte ich den Bildschirm an.» Trotz ihren Zweifeln – und sicher zur Freude der Industrie – entscheidet sich die einsame Autofahrerin am Schluss «zu einem Leben mit Erik».

Mojca Kumerdej: Unter die Oberfläche. Erzählungen. Aus dem Slowenischen von Erwin Köstler, Liza Linde, Karin Almasy und Fabjan Hafner. Wallstein-Verlag, Göttingen 2023. 260 S., Fr. 34.90.

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