Mittwoch, Januar 15

Der Wirbel um den Schweizer UNRWA-Chef Philippe Lazzarini wirft ein Schlaglicht auf das internationale Genf. Die Postenvergabe bei wichtigen Organisationen folgt eigenen Regeln.

Das Uno-Hilfswerk für die Palästinaflüchtlinge (UNRWA) ist in einer existenziellen Krise. Mitten im Sturm befindet sich ein Schweizer, der Generalkommissar Philippe Lazzarini. Vor kurzem warnte er auf dem Kurznachrichtendienst X eindringlich vor einem israelischen Angriff auf die Stadt Rafah im Gazastreifen, an der Grenze zu Ägypten. 1,4 Millionen Menschen würden in behelfsmässigen Plastikunterkünften leben. «Eine Militäroffensive inmitten dieser völlig ungeschützten, verletzlichen Menschen ist ein Rezept für eine Katastrophe.»

Nur wenige Stunden nachdem Lazzarini seine Nachricht abgesetzt hatte, erhob die israelische Armee schwere Vorwürfe gegen die UNRWA. Sie hatte unter dem Hauptquartier des Hilfswerks in Gaza ein Datenzentrum und einen Tunnel der Hamas entdeckt. Schon zuvor war Kritik laut geworden, weil UNRWA-Mitarbeiter mutmasslich an Terrorattacken der Hamas beteiligt waren. Lazzarini entliess die Beschuldigten Knall auf Fall, doch Israels Zorn liess sich damit nicht besänftigen. Der Aussenminister, aber auch Schweizer Politiker fordern den Rücktritt des 60-Jährigen – der von allem nichts gewusst haben will.

Das Schweizer Aussendepartement (EDA) ging ebenfalls auf Distanz: Der UNRWA-Chef werde vom Uno-Generalsekretär ernannt, stellte das EDA klar. Es schien, als wäre es Bern lieber, wenn kein Schweizer an der Spitze der Uno-Agentur stünde. Doch der Wirbel um Lazzarini wirft ein Schlaglicht auf die Verbindungen zwischen dem Hilfswerk, der Schweiz und dem internationalen Genf.

Die Geschichte der Eidgenossenschaft als Gastgeberin von humanitären Organisationen beginnt im 19. Jahrhundert. Henry Dunant gründet 1863 in Genf das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK). Auch andere internationale Organisationen zieht es in die Calvinstadt. Die Schweiz ist gut positioniert, als neutraler Kleinstaat ist sie den europäischen Grossmächten genehm. Ein Trumpf ist die Niederlassung des Völkerbunds in Genf 1920, der Vorgängerorganisation der Uno.

Der Ruf des internationalen Genf bleibt auch erhalten, als die Uno ihren Hauptsitz in New York aufschlägt – und sich seither am Arc lémanique nur noch der zweitwichtigste Standort für multilaterale Diplomatie befindet. Heute verweist das EDA stolz darauf, dass in Genf 42 internationale Organisationen und rund 750 NGO ihren Sitz hätten, die 32 000 Beamte, Diplomatinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft beschäftigten. Entsprechend eng sind die Kontakte zwischen den staatlichen und den nichtstaatlichen Akteuren, zwischen Organisationen wie der Uno, dem IKRK und dem Aussendepartement.

Vom IKRK zur UNRWA und zurück

Weder Lazzarini noch sein Vorgänger in der Funktion des UNRWA-Chefs, Pierre Krähenbühl, sind zwar Diplomaten im klassischen Sinn, die den Concours absolviert haben und für das EDA tätig waren. Lazzarini arbeitete aber zuvor für das IKRK, das traditionell von einem Schweizer präsidiert wird. Einen ähnlichen Hintergrund hat der Genfer Krähenbühl: Er war unter anderem Berater der beiden IKRK-Präsidenten (und ehemaligen Staatssekretäre im EDA) Jakob Kellenberger und Peter Maurer sowie Leiter Operationen, bevor er Chef der UNRWA wurde. Er trat 2019 nach Vorwürfen der Misswirtschaft zurück und wird im April neuer Generaldirektor des IKRK.

Die amtierende Präsidentin des IKRK, Mirjana Spoljaric Egger, hat ebenfalls eine Vergangenheit bei der UNRWA, als Beraterin des Generalkommissars. Sie hat den Concours absolviert und kam vom EDA, wie auch Yves Besson, der bei der UNRWA als Direktor eine prominente Rolle spielte.

Diplomaten sprechen von einem humanitären Biotop: «Die Leute werden quasi rezykliert.» Persönliche Beziehungen spielen eine starke Rolle. Das sei anderswo nicht anders, sagt Paul Widmer, ehemaliger Schweizer Botschafter und Kenner der Diplomatiegeschichte. «Es ist richtig und wichtig, dass sich die Schweiz mit eigenen Spitzenleuten einbringt, Einfluss nimmt und gute Arbeit leistet.» Das stärke das Prestige und die Glaubwürdigkeit.

Widmer beurteilt das Engagement der Schweizerinnen und Schweizer im humanitären Bereich als «sehr positiv». Namentlich das IKRK verfolge die gleichen Zielsetzungen wie die Aussenpolitik der neutralen Schweiz. Die Gefahr eines Imageschadens durch den schweizerisch-italienischen Doppelbürger Lazzarini an der UNRWA-Spitze beurteilt Widmer – selbst mehrere Jahre in Jordanien stationiert – als gering. «Es besteht für Lazzarini dringender Klärungsbedarf, aber noch längst kein Reputationsproblem für die Schweiz.»

Internationaler Basar

Doch wie kommen Schweizer in hochrangige Positionen bei internationalen Organisationen? Welche Netzwerke spielen? Die Schweiz ist erst im Jahr 2002 Mitglied der Uno geworden. Wie andere Staaten versucht sie, als namhafte Beitragszahlerin Kaderpositionen mit Landsleuten zu besetzen.

«Im Hintergrund wird viel getan», sagt Widmer. Die offizielle Schweiz agiere prospektiv: Wo gibt es interessante Posten, die bald neu besetzt werden? Widmer spricht von einem «internationalen Basar», der per Tauschgeschäft funktioniere. Man unterstütze Staaten bei ihren Kandidaturen, um bei anderen Besetzungen wiederum ihre Unterstützung zu erhalten.

Dieses System habe die Schweiz nicht erfunden, aber sie müsse mitmachen, um nicht übergangen zu werden. Widmer hält jedoch fest, dass danach – zumindest theoretisch – keinerlei Abhängigkeiten mehr bestehen dürfen. In Artikel 100 der Uno-Charta heisst es: «Der Generalsekretär und die sonstigen Bediensteten dürfen bei der Wahrnehmung ihrer Pflichten von einer Regierung oder von einer Autorität ausserhalb der Organisation Weisungen weder erbitten noch entgegennehmen.»

Es handle sich um ein «globales Schachspiel», bestätigt auch ein langjähriger Beobachter des internationalen Genf, der sich nur anonym äussern will. Für Spitzenposten in der Uno gebe es Gentlemen’s Agreements und Deals gemäss ungeschriebenen Regeln. Manche Posten werden traditionell von einem bestimmten Staat beansprucht – so ist der Chef der Friedensoperationen der Vereinten Nationen in der Regel ein Franzose. Nach dem Rücktritt des Romands Nicolas Michel, dem Untergeneralsekretär und Rechtsberater der Uno, strebte auch die Schweiz wieder einen wichtigen Posten an.

Burkhalter setzte sich für Krähenbühl ein

Eine Gelegenheit ergab sich 2013. Pierre Krähenbühl kandidierte für den Posten des UNRWA-Direktors. Die Schweiz habe entschieden, seine Kandidatur offiziell zu unterstützen, sagte er später in einem Interview mit dem Portal Swissinfo. «Die ganze Schweizer Diplomatie hat sich für meine Kandidatur engagiert.» Im Normalfall unterstützt die Schweiz Kandidaturen mit einer Kampagne in wichtigen Geberländern wie den USA oder Frankreich.

Der damalige Departementsvorsteher Didier Burkhalter schrieb dem Uno-Generalsekretär Ban Ki-Moon einen Brief, in dem er Krähenbühl als offizielle Schweizer Kandidatur anmeldete. Dies sei das übliche Vorgehen, sagt Elisa Raggi, die Sprecherin des EDA. Der Uno-Generalsekretär lade alle Mitgliedstaaten ein, Kandidaturen zu präsentieren. «Die Schweiz hat ein Interesse, dass ihre Landsleute strategisch wichtige Positionen besetzen, und kann qualifizierte Bewerbungen unterstützen.»

Für Uno-Kenner war es kein Zufall, dass nach Krähenbühl mit Lazzarini im Jahr 2020 zum zweiten Mal ein Schweizer Generalkommissar der UNRWA wurde. Der Posten gilt als einer der anspruchsvollsten überhaupt. Die UNRWA – zuständig für Ernährung, medizinische Versorgung und Bildung von inzwischen rund sechs Millionen Palästinensern – operiere seit je in einem schwierigen, stark politisierten Umfeld, hielt der Bundesrat im Jahr 2020 fest. Vorwürfe, die Agentur habe Verbindungen zur Hamas oder ihr Schulmaterial sei antisemitisch, gibt es schon lange.

In diesem Kontext gelten die humanitäre Tradition und die Neutralität der Schweiz als Vorteil. Im Nahen Osten helfe es, Schweizer zu sein, sagte Lazzarini im Jahr 2021. Doch seit den Angriffen Russlands auf die Ukraine und der Hamas auf Israel hat die Polarisierung auch in der Uno zugenommen. Die Kriegsparteien haben Mühe, die Schweizer Neutralität zu verstehen. Israel möchte das Hilfswerk inzwischen am liebsten auflösen.

Nach Krähenbühl scheint im EDA auch Lazzarini in Ungnade gefallen zu sein. Es habe sich um eine Uno-interne Kandidatur gehandelt, die die Schweiz nicht offiziell unterstützt habe, betont Raggi. Das EDA entscheide von Fall zu Fall, ob es sich für eine Bewerbung einsetze.

Einer dürfte die Vorgänge bei der UNRWA besonders aufmerksam verfolgen. Alt Bundesrat Alain Berset kandidiert für das Amt des Generalsekretärs des Europarats. Falls Lazzarini bald gehen muss, könnte er noch einfacher gewählt werden. In der internationalen Diplomatie gibt es schliesslich ein «Geben und Nehmen».

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