Die lange unter Verschluss gehaltenen Dokumente des Robert-Koch-Instituts haben viele Fragen aufgeworfen. Mit der NZZ spricht der Mediziner Hendrik Streeck über die «RKI-Files», seinen Rivalen Christian Drosten und darüber, was für die nächste Krise wichtig ist.

Herr Streeck, die Veröffentlichung der Corona-Protokolle des Krisenstabs vom Robert-Koch-Institut hat ein Jahr nach dem Auslaufen der Pandemie für eine neue Debatte gesorgt. Sind die Schwärzungen in den Protokollen Geheimniskrämerei des RKI oder ein nachvollziehbarer Vorgang einer Behörde?

Man muss es chronologisch betrachten: Die Erkenntnisse damals waren anders als heute. Es sollte nicht als Dokument gelesen werden, das endgültige Entscheidungen getroffen hat. Das Positive ist: Das RKI hat verschiedene Meinungen und Einschätzungen diskutiert. Doch mit den Schwärzungen hat sich das RKI keinen Gefallen getan. Es heizt Verschwörungstheorien an. Das ist ein kommunikatives Desaster. Minimale Schwärzungen, beispielsweise Mitarbeiternamen, hätte jeder nachvollziehen können.

Die veröffentlichten Protokolle fallen in die Amtszeit des ehemaligen CDU-Gesundheitsministers Jens Spahn. Der derzeitige Minister Karl Lauterbach hat nun eine «weitestgehende» Entschwärzung der Corona-Protokolle des RKI gefordert.

Das ist ein guter Schritt. Allerdings hoffe ich, dass Karl Lauterbach das zum Anlass nimmt, auch die Protokolle aus seiner Amtszeit freizugeben, um eine Aufarbeitung zu ermöglichen. Alles andere wäre ein bisschen unfair seinem Vorgänger gegenüber.

Zurück zu den Protokollen: Als besonders brisant gilt eine Einstufung Mitte März 2020: Plötzlich ging die Risikoeinschätzung von mässig zu hoch. Was halten Sie davon?

Die genauen Umstände dazu kenne ich nicht, allerdings war das ein Zeitpunkt, an dem die WHO bereits die Pandemie ausgerufen hatte. Die Entscheidung mag damals also sinnvoll gewesen sein. Es zeigt aber, dass wir mehr Transparenz brauchen, um zu wissen, wie es zu den Entscheidungen gekommen ist.

Sie sind selbst Wissenschafter und haben sich mit den Protokollen beschäftigt. Wie lautet Ihr Fazit?

Die Protokolle zeigen, dass die Mitarbeiter im RKI ergebnisoffen diskutiert haben. Nur die Botschaft, die nach aussen gesendet wurde, war dann oftmals: Die Wissenschaft sieht eindeutig so und so. Nein, die Wissenschaft hat genauso unterschiedliche Meinungen wie die breite Öffentlichkeit. Es zeigt ausserdem die starke Abhängigkeit der Behörde von der Politik. Ich habe in den letzten Jahren mehrfach gefordert, dass wir ein starkes und unabhängiges Robert-Koch-Institut brauchen.

Als Behörde ist das RKI dem Bundesgesundheitsministerium unterstellt. Plädieren Sie für eine Entkopplung?

Ja, das tue ich. Als eigenes Institut könnte es unabhängig kommunizieren, unabhängig beraten und forschen.

Nach den RKI-Files ist plötzlich die Aufarbeitung der Corona-Pandemie, die mit vielen Freiheitseinschränkungen einherging, in aller Munde. Ist es glaubwürdig, wenn Politiker sich nun kritisch äussern?

Es ist schon erstaunlich, dass es jetzt die Freigabe der RKI-Protokolle brauchte, damit wir darüber reden. Ich habe vor über einem Jahr in Gastbeiträgen, Interviews und im Corona-Expertenrat eine Aufarbeitung angeregt und bin damit nicht durchgekommen. Es gab sogar Politiker, die es ablehnten, mit mir zu sprechen, da ich als zu polarisierend galt. Doch ich habe für mich die Schlussfolgerung gezogen, dass eine Aufarbeitung essenziell ist – deswegen habe ich vor einigen Monaten angefangen, ein Buch über die Zeit zu schreiben.

Welcher Politiker wollten nicht mit Ihnen sprechen?

Das möchte ich nicht sagen.

Ihr Vorgänger an der Universität Bonn, der Virologe Christian Drosten, hat die Regierung während der Pandemie als Berater unterstützt. Vor einigen Tagen sagte er: «Aus medizinischer Sicht sind wir gut durch die Pandemie gekommen.» Hat er recht?

Ich weiss nicht, wie er darauf kommt. Man kann verschiedene Bewertungsgrundlagen anlegen und sich anschauen, ob ein Land besonders gut oder schlecht durchgekommen ist. Die Sterblichkeitsrate ist so ein Parameter. Und die zeigt, dass Schweden besser durchgekommen ist als Deutschland. Wenn man einfach sagt: Das eine Land hat es gut gemacht, dann ist das eine sehr eindimensionale Sicht auf die Pandemie und ignoriert die psychischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen. Das ist also eher eine Verteidigung der eigenen Linie, als dass es von dem Bedürfnis zeugt, sich mit der eigenen Rolle ernsthaft zu beschäftigen.

Was sollte Deutschland für die nächste Pandemie lernen?

Es muss ja nicht gleich eine neue Pandemie sein. Wir können aber für andere Krisen oder Naturkatastrophen lernen. Während Corona spielten das Virus und die vermeintliche Experten die Hauptrolle, dabei hat Krisenbewältigung nur ganz wenig mit Virologie zu tun. Der Faktor Mensch – wie geht es den Kindern, den Alten, den Schwachen in der Gesellschaft: Das ist mindestens genauso wichtig.

Zur Person

Federico Gambarini / Keystone

Professor «Ruhigbleiben»

Der Virologe und Professor der Universität Bonn war eine der wichtigsten Stimmen während der Corona-Pandemie in Deutschland – und wurde oft gescholten. Etwa für die Auffassung, dass eine Infektion im Sommer das Gesundheitssystem im Winter entlasten könnte. Dafür warf man ihm Verharmlosung vor. Dabei lieferte seine Heinsberg-Studie im Jahr 2020 frühzeitige Erkenntnisse über das damals neuartige Coronavirus. Im Kreis Heinsberg entstand im Frühjahr 2020 ein Hotspot mit vielen Infizierten.

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