Samstag, November 23

Die US-Präsidentschaftswahl wirft an den Börsen Wellen. Die Überreaktion auf Nachrichten zählt zu den grössten Fehlern, die Anleger begehen können.

Kurz bevor die Amerikaner sich aufmachten, ihre Wahlzettel in die Urne zu werfen, habe ich der Redaktion diese Kolumne zur heutigen Veröffentlichung zugestellt.

Wenn ich die Redaktion gebeten hätte, meinen Beitrag erst am 6. statt bereits am 5. November einreichen zu dürfen, hätte sie wahrscheinlich zugestimmt. Damit wäre ich aber des heutigen Themas verlustig gegangen.

Das Thema ist nämlich, dass man nicht Geld verdienen kann, indem man stets auf den Kalender schielt. Nach der Meldung, Mitteilung oder Information ist stets vor dem nächsten Meldeereignis.

Zwar finden nicht jeden Tag Präsidentschafts-, Kongress- und Teilerneuerungswahlen des Senats in den USA statt. Irgendetwas, was irgendjemand als kursrelevant ansieht, wird aber jeden Tag in Umlauf gesetzt. Das kann dann über eine Periode von sechs Monaten so aussehen:

Vom 1. Mai bis zum 20. Juni hat der DJ US Semiconductors 48% zugelegt. Danach hat er bis zum 5. August 31% verloren. Seither ist er wieder um mehr als 40% gestiegen.

Die Verwechslung von Effizienz mit Sensitivität

Manche Leute nennen das Informationseffizienz. Ich sage dazu: Das ist nur nachrichtensensitiv.

Um nicht Opfer davon zu werden, dass es immer Populationen gibt, die auf die neuesten Meldungen reagieren, ohne substanzielle Informationen höher zu gewichten als das, was gerade (meistens schrill) herumgeboten wird, grenzt man mit Vorteil ein, welche Volatilität man gewähren will, ohne dass sie ernst genommen werden soll. Das kann dann etwa so aussehen:

Statt auf Meldungen jeglicher Art zu reagieren, soll man sie aufnehmen, mit Informationen vernetzen, gewichten und dann entscheiden, ob und gegebenenfalls was man tun will oder ob man alles beim Alten belassen kann. Die Alternative dazu ist in Eile zu handeln, um dann zumeist in Weile zu bereuen, wie es bei den meisten der Fall sein wird, die in den hektischen Tagen zwischen dem 20. Juni und dem 5. August verkauft haben.

Wenn eine Tunnelvision viral geht

Wie wichtig beides ist, das Einhegen von Kursen, um bedeutungslose Schwankungen von neuen Trendsignalen und Trends unterscheiden zu können, und neue Meldungen mit bestehenden Informationen zu vernetzen, zeigt die Ansteckung der Korrektur in Semiconductors im Sommer dieses Jahres auf alle anderen Marktsegmente. Dazu zählt beispielsweise die Übertragung auf europäische Banken, die herzlich wenig mit Halbleiteraktien in Amerika zu tun haben:

Dass es sich auch in diesem Fall um einen bedeutungslosen Ausrutscher als Folge einer viralen Ansteckung gehandelt hat, wird deutlich, wenn man bildlich darstellt, welches Ausmass für unbedachte Reaktionen schon a priori vorgesehen worden war:

Was Schnellschüsse kosten können

Effiziente Informationsverarbeitung wird auch mit gedankenloser Panik verwechselt, wenn negative Meldungen auf einen schon längere Zeit bestehenden Abwärtstrend prasseln, wie im Februar 2023, als grössere amerikanische Regionalbanken in Schwierigkeiten geraten waren und gleich die ganze Branche in Sippenhaft genommen wurde:

Der Handel zwischen dem 10. und dem 17. März 2023 ist auf obiger Grafik gelb markiert. Die «Kerzen» schliessen den Umsatz ein. Seit der Verkaufspanik ist der DJ US Banks um 61% gestiegen. Auch hier kann man nun in Weile bereuen, was man in Eile getan hat.

Warum ist das wahrscheinlich meine wichtigste Kolumne?

Weil sie sich einem einzigen Thema widmet: Der weitverbreiteten Überbewertung der neuesten Meldungen zulasten der Fülle der gesammelten und gewichteten Informationen.

Langfristiger Erfolg an der Börse ist die Folge einer grossen Zahl kleiner Massnahmen. Wenn aber viele Meldungen zu vielen unvorteilhaften kleinen Massnahmen führen, blickt man eines Tages auf eine lange Tradition schlechter Entscheide und Ergebnisse zurück. Die verlorene Zeit kann nicht mehr rückgängig gemacht werden, und verpasste Gewinne sind im Endergebnis das Gleiche wie erfahrene Verluste: Das Geld fehlt ganz einfach.

Das Problem der Gewichtung von Meldungen nach dem Datum ihres Erscheinens statt nach ihrem materiellen Gehalt ist ein grosses Thema in Behavioral Finance.

Wenn diese kurze Kolumne einen Beitrag zur Immunisierung vor diesem Virus geleistet hat, ist ihr hochtrabender Titel berechtigt.

Alfons Cortés

Alfons Cortés ist seit März 1971 professionell an der Börse unterwegs. Bis Juni 2017 war er Geschäftsführender Partner von UnifinanzTrust reg., Vaduz. Seit Juli 2017 ist er Senior Partner im Unternehmen und für den Bereich Research zuständig. Diesem hat er von Anbeginn seiner Tätigkeit an besonderes Augenmerk zukommen lassen. Daraus erwuchs die prominente Position des Unternehmens in der Anwendung von Behavioral-, Neuro- und Evolutionary Finance. Cortés hat nicht nur als Vermögensverwalter und Analyst, sondern auch als Mitglied von Anlageausschüssen institutioneller Anleger über Jahrzehnte Erfahrungen mit den Finanzmärkten gesammelt. Er schreibt jeden zweiten Donnerstag eine Kolumne für The Market.
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