Donnerstag, Juni 26

Rom war als «Hollywood am Tiber» bekannt. Heute sind 70 Prozent der Filmschaffenden in Italien ohne Arbeit – während die Spielstätten zu Fitnessstudios oder Foodhallen umgebaut werden. Martin Scorsese protestiert genauso wie das Fussball-Idol Francesco Totti.

Dem Tod des Kinos begegnet man in Rom auf Schritt und Tritt. Da ist das Fiamma, unweit der legendären Flaniermeile Via Veneto. Das Filmtheater ist seit 2017 geschlossen. Der Verfall folgte, wie so oft in der italienischen Hauptstadt, auf dem Fusse. Wo Obdachlose nun ihr Nachtlager aufschlugen, feierte Federico Fellinis Filmkunstwerk «La dolce vita» 1960 Premiere.

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Das Fiamma ist ein Symbol der goldenen Zeiten des italienischen Films. Von hier trat das Dolce-Vita-Gefühl eine internationale Karriere an: Es wurde zu einem absatzfördernden Markenzeichen vieler italienischer Unternehmen bei der Eroberung der Weltmärkte. An der Piazza San Lorenzo in Lucina, nahe der Spanischen Treppe, trafen sich die römischen Cineasten in den stuckverzierten Sälen des Étoile. Heute gehen hier die Gutsituierten bei Louis Vuitton shoppen.

Für die Liebhaber der Filmkunst sei das Étoile «das wichtigste Kino Roms» gewesen, sagt die Schriftstellerin Melania Mazzucco auf einem Rundgang durch das ehemalige Künstlerviertel zu Füssen des Pincio-Hügels. Doch hätten die Bürger den Kampf um die Erhaltung des Kinos verloren. «Kultur war den Regierungen in Italien nie etwas wert», sagt die Römerin und schaut nun in die Schaufenster des französischen Luxuslabels, das hier 2012 einen glamourösen Laden eröffnet hat.

«Das Kino ist eine Latrine geworden»

Auf der anderen Tiberseite, im beliebten Ausgehviertel Trastevere, bieten die kaputten Glasscheiben und die beschmierten Wände des Cinema Roma einen deprimierenden Anblick. «Aus dem Kino ist eine Latrine geworden», schrieb der populäre römische Schauspieler und Regisseur Carlo Verdone im Januar in einem Post, der viral ging. Bei einer Zwangsversteigerung hatte sich gerade ein niederländischer Investor den Zugriff auf das Cinema Roma und auf weitere acht römische Kinos gesichert. «Die Stadt verkommt zum kulinarischen Reiseziel», klagte Verdone.

In der Tat hat sich Rom von einem kulturellen Zentrum in ein gigantisches Fast Food verwandelt. Der unkontrollierte Massentourismus frisst die Stadt buchstäblich auf. Man reist, um zu essen. Besonders gern nach Italien. Die steigende Nachfrage sättigen zum Beispiel neue All-you-can-eat-Restaurants wie «Senza fondo» in der Via Teatro della Pace, direkt hinter der Piazza Navona. «Bodenlos» – schon der Name ist Programm.

In den vergangenen 15 Jahren haben in Italiens Filmstadt 103 Kinos geschlossen. Das Sterben vollzog sich meist lautlos. 46 Lichtspielhäuser stehen heute noch leer. Die anderen wurden bereits in Spielhöllen oder Diskotheken, in Supermärkte, Fitnessstudios oder Foodhallen verwandelt.

Dabei war Rom früher als «Hollywood am Tiber» bekannt. Es war nicht nur die Stadt mit den meisten Kinos im Land – mehr als 200. In den Filmstudios Cinecittà im Süden Roms entstanden Tausende Filme. Klassiker wie «Ben Hur» oder «Quo vadis?», Spaghettiwestern wie «Spiel mir das Lied vom Tod» oder «Für eine Handvoll Dollar». Fellini liess hier für «La dolce vita» die Via Veneto nachbauen. Francis Ford Coppola drehte «The Godfather Part III», Anthony Minghella Szenen aus «The English Patient», Martin Scorsese «Gangs of New York».

Renzo Piano schreit auf

Nun aber hat die Kinokrise die Regierung der Region Latium auf eine Idee gebracht: Sie will die Umnutzung stillgelegter Filmtheater im Interesse potenzieller Investoren erleichtern. Francesco Rocca, der rechte Regionalgouverneur, schickte sich an, die Umwandlung mit einer Lockerung der bestehenden Regeln zu beschleunigen. Damit löste der Parteifreund von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni einen Proteststurm aus.

Italienische Filmschaffende, amerikanische Regiegrössen, Persönlichkeiten wie der Stararchitekt Renzo Piano oder Roms Fussball-Idol Francesco Totti machen gegen den Plan mobil. Der Aufschrei richtet sich gegen einen Gesetzentwurf zur Stadtplanung. Er soll eine völlige Umnutzung nicht nur der seit Jahren geschlossenen Kinos, sondern auch der noch aktiven Filmtheater nach Ablauf bestimmter Fristen ermöglichen. Die Kritiker befürchten, dass die neuen Bestimmungen Kinos zu Spekulationsobjekten machen und ihrer Umwandlung Tür und Tor öffnen.

In einem offenen Brief schrieb Renzo Piano warnend: «Diese Immobilien sind die letzten Freiräume in unseren Städten, die mit Autos, Einkaufszentren, Hotels und Touristenwohnungen übersättigt sind.» Aus dem Ausland richteten Martin Scorsese, Jane Campion, Francis Ford Coppola, Wes Anderson und George Lucas einen Appell zum Schutz der kulturellen Räume in Rom an den italienischen Staatspräsidenten Sergio Mattarella.

Die Empörungswelle zeigte Wirkung. Die Regionalregierung liess einen Teil der Lockerungen fallen. Als sie kürzlich den Entwurf zum neuen Raumplanungsgesetz ins Regionalparlament einbrachte, wies ihn das Legislativbüro aber wegen verfassungsrechtlicher Bedenken und der Unvereinbarkeit mit den geltenden Rechtsvorschriften zurück. Rocca kündigte daraufhin neue Korrekturen an.

Das Kinosterben ist aber nur ein Aspekt der profunden Krise des italienischen Films. Die Produktion kam Anfang 2024 nahezu zum Erliegen. 70 Prozent der Filmschaffenden in Italien sind seit mehr als einem Jahr ohne Arbeit. «Die Lage ist verzweifelt, das italienische Kino schwebt in Lebensgefahr», mahnte der Filmregisseur Pupi Avati.

Heftiger Schlagabtausch

Schuld an ihrer Notlage gibt die moribunde Branche der Regierung. Sie habe den Kinoproduzenten vor einem Jahr den Geldhahn vollends abgedreht und die überfällige Reform der staatlichen Filmförderung seither verschleppt. Es geht um Steuervergünstigungen, die seit 2016 das Wachstum der italienischen Filmwirtschaft beflügelt und viele ausländische Produktionen angezogen haben. Die Neugestaltung des Gesetzes blieb das Kulturministerium schuldig.

Stattdessen entbrannte um die Krise des italienischen Films ein heftiger Schlagabtausch zwischen Kulturminister Alessandro Giuli und einzelnen Filmschaffenden, die Kritik an der Regierung geübt hatten. Giuli überzog den Schauspieler Elio Germano und die Satirikerin Geppi Cucciari mit beleidigenden Anwürfen. Für das Klima in der italienischen Kulturpolitik ist das typisch. Wer sich mit der Notlage der Filmwirtschaft befasst, betritt heute ein politisches Kampfgebiet.

Giorgia Meloni trat vor knapp drei Jahren nach eigenem Bekunden an, in Italien die kulturelle Hegemonie der Linken zu beenden. Dass es im Land keine Schauspieler gebe, die sich öffentlich zu ihrer rechten Gesinnung bekennten, erklärte Meloni kürzlich in einem Videointerview mit der Zeitung «La Verità» so: «Dahinter steckt das Clan-Verhalten der Linken.»

Auch in den Streit um die Filmförderung mischte sich die Regierungschefin ein. «Ich werfe das Geld der Bürger nicht zum Fenster hinaus, um Dinge zu finanzieren, die es nicht wert sind», sagte sie. Die Regierung möchte die Subventionen künftig von den kommerziellen Erfolgsaussichten eines Filmprojekts abhängig machen. Auch wünscht sie sich Filme, die Italien feiern und Italiener positiv darstellen. Elio Germano, der gerade für seine Hauptrolle in dem Biopic «Berlinguer – La grande ambizione» mit dem David di Donatello ausgezeichnet wurde, fragt: «Ist es die Aufgabe des Kinos, Landeswerbung zu betreiben?»

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