Montag, Dezember 23

Ein neuer Temperaturrekord, Boom bei den erneuerbaren Energiequellen, harzende Klimaverhandlungen: Das vergangene Jahr hielt für das Klima sehr gegensätzliche Nachrichten bereit

Noch ist das Jahr nicht ganz zu Ende, aber Wissenschafter sind sich sicher: 2024 wird mit einem neuen Temperaturrekord enden. Doch die Verhandlungen um eine wirksamere Klimapolitik sind ins Stocken geraten. Immerhin erleben die erneuerbaren Energiequellen weltweit einen Aufschwung. Es ist ein durchzogenes Jahr für Klima und Klimaschutz, wie es sich im Rückblick präsentiert.

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Die Erderwärmung erreicht einen neuen Höhepunkt

2024 wird erneut eine globale Rekordtemperatur seit Beginn der Aufzeichnungen im 19. Jahrhundert erreicht. Da sind sich die Wissenschafter des europäischen Erd- und Wetterbeobachtungsprogramms Copernicus nun «so gut wie sicher». Die Luft hat sich seit dem vorherigen Rekordjahr 2023 noch einmal erwärmt.

Bei der diesjährigen Rekordwärme wirken mehrere Faktoren zusammen: Zum Langfristtrend kam Anfang Jahr noch das pazifische Wetterphänomen El Niño hinzu. Eine gerade erschienene Studie hebt hervor, dass es in jüngster Zeit deutlich weniger niedrig hängende Wolkendecken gebe, die einfallendes Sonnenlicht reflektierten und damit eine insgesamt kühlende Wirkung hätten. Zudem wird diskutiert, ob sich über den Weltmeeren bemerkbar macht, dass modernisierte Schiffe weniger Russ und andere Partikel ausstossen, die bisher eine kühlende Wirkung hatten.

Der Anstieg der Emissionen geht weiter

Der langfristige Aufwärtstrend ist jedenfalls klar und die Ursache auch: Der Ausstoss von Treibhausgasen steigt und steigt – allen Versprechen und Warnungen zum Trotz. Das Global Carbon Project, ein internationales wissenschaftliches Konsortium, rechnet damit, dass 2024 weltweit 41,6 Milliarden Tonnen Kohlendioxid zusätzlich in die Atmosphäre gekommen sein werden, 37,4 Milliarden Tonnen davon aus der Energie- und der Zementerzeugung. Das sind 2 Prozent mehr als im Vorjahr, in dem bereits ein neuer Rekordwert erreicht worden war.

Die Konzentration von CO2 in der Atmosphäre steigt im Jahresmittel von 2024 auf einen neuen Höchstwert von voraussichtlich 423 ppm (parts per million). Noch zu Beginn des Jahrhunderts waren es 369 ppm, im 19. Jahrhundert zirka 280 ppm.

«Die Auswirkungen des Klimawandels werden immer dramatischer, aber wir sehen immer noch keine Anzeichen dafür, dass die Verbrennung fossiler Brennstoffe ihren Höhepunkt erreicht hat», sagte Pierre Friedlingstein von der Universität von Exeter, der die Studie leitete. Die Zeit werde knapp, um unter der Marke von 2 Grad Celsius maximaler Erwärmung im Pariser Klimaabkommen zu bleiben. Diese Schwelle sehen Klimaforscher als harte rote Linie – jenseits davon liegt laut ihnen eine globale Heisszeit mit sehr grossen Risiken für die menschliche Zivilisation.

Indien und China verbrauchen viel Kohle

Zu den Triebkräften für die weiter steigenden Emissionen zählt auch, dass die Menschheit mehr und mehr Kohle verbraucht. Die Internationale Energieagentur (IEA) rechnet für 2024 mit 8,74 Milliarden Tonnen, die weltweit verfeuert oder für industrielle Zwecke eingesetzt werden. Auch das wäre ein neuer Rekord. Vor allem Indien und China legen – trotz den massiven Investitionen in erneuerbare Energiequellen dort – bei der Kohlenutzung weiter zu.

Ganz anders in Europa: Hier verbraucht man immer weniger Kohle. Das gilt nicht nur für die EU. 2024 wird für Grossbritannien als dasjenige Jahr in Erinnerung bleiben, in dem das letzte Kohlekraftwerk in Ratcliffe-on-Soar ausser Betrieb ging.

Im Königreich hatte die Industrialisierung im 19. Jahrhundert ihren Lauf genommen, bis weit ins 20. Jahrhundert hinein waren grosse Regionen vom Kohlebergbau geprägt. Die Stilllegung am 30. September war deshalb ein grosser Einschnitt – und eine Premiere unter den grossen Industrienationen.

Auch in Deutschland endete 2024 mit viel Tamtam die Geschichte eines Kohlekraftwerks. Anfang November wurde in Hamburg das Kraftwerk Moorburg gesprengt, das erst 2015 in Betrieb gegangen war. Auf dem Areal soll nun eine Raffinerie für «grünen Wasserstoff» entstehen.

Nach Angaben des Statistischen Bundesamts sank der Kohleanteil an der Stromerzeugung in Deutschland in den ersten drei Quartalen 2024 von knapp 26 Prozent im Vorjahr auf nur noch 21 Prozent. Auch der Einsatz von Erdgas ging zurück. Dagegen stieg der Einsatz der erneuerbaren Energiequellen auf zwei Drittel der Stromerzeugung. Immer öfter, vor allem im Sommerhalbjahr, decken Erneuerbare die Stromerzeugung vollständig.

Erneuerbare Energiequellen wachsen enorm

Auch weltweit befinden sich erneuerbare Stromquellen auf dem Vormarsch, wie die Internationale Energieagentur berichtet. Das gehört zu den guten Klimanachrichten des Jahres 2024. Vor allem die Photovoltaik erlebt einen Boom, und bei den globalen Investitionen in neue Anlagen ziehen regenerative Energiequellen zwei Drittel des Geldes auf sich. Die IEA rechnet damit, dass sich der Aufschwung beschleunigt und der Anteil Erneuerbarer an der Stromerzeugung von heute 30 auf 46 Prozent im Jahr 2030 steigen kann.

Allerdings wächst der weltweite Stromverbrauch stark – neuerdings auch getrieben durch den Boom der energieintensiven KI-Rechenzentren.

Häufig wird übersehen, dass der Stromkonsum nur einen Teil des Energieverbrauchs ausmacht, rund ein Viertel in der Schweiz und nur ein Fünftel in Deutschland. Die meiste Energie wird dafür eingesetzt, Gebäude zu wärmen, Industrieprozesse zu befeuern und Autos, Flugzeuge und Schiffe anzutreiben. In diesen Bereichen der Dekarbonisierung – also bei synthetischen Kraftstoffen für Flugzeuge, «grünem» Wasserstoff, Elektromobilität, Wärmepumpen – wich die Boomstimmung 2024 einer Ernüchterung.

Zwar gab die deutsche Bundesregierung grünes Licht für den Aufbau eines sogenannten Kernnetzes für Wasserstoff-Pipelines. Durch die Röhren soll künftig die vielbeschworene saubere Alternative zu Kerosin, Benzin, Erdöl und Erdgas verteilt werden. Doch zuerst muss der Wasserstoff produziert werden, idealerweise in Raffinerien, die mithilfe von Strom aus erneuerbaren Quellen betrieben werden. Trotz neuen Milliardenförderungen bleiben die Investitionen in diese neue Branche stark hinter dem Nötigen zurück. Viele Projekte wurden 2024 auf Eis gelegt, oder sie verspäten sich.

Die meisten Neuwagen sind noch Verbrenner

Im Bereich der Elektromobilität senden europäische Autohersteller Krisensignale, weil die Nachfrage der Verbraucher hinter den Erwartungen zurückbleibt. In Deutschland war 2024 bis einschliesslich November nur jedes dreissigste Auto auf der Strasse und nur jede siebte Neuzulassung ein Elektromodell.

Auch in der Schweiz geriet die Elektromobilität ins Hintertreffen: Nur gut jede fünfte Neuzulassung war bis Ende Oktober vollelektrisch, jede elfte ein Plug-in-Hybrid. Um das nationale Ziel zu erreichen, dass bis Ende 2025 jede zweite Zulassung ein «Steckerfahrzeug» sein soll, müssten sich diese Werte verdoppeln.

Der Absatz von Wärmepumpen schwächelt

Ähnlich kritisch steht es um eine weitere Schlüsselkomponente der Dekarbonisierung: das klimaneutrale Heizen. In Deutschland hat die erregte Debatte um staatliche Vorgaben für Hausbesitzer zu einer massiven Verunsicherung geführt, die offenbar auch in der Schweiz herrscht. Der Absatz von Wärmepumpen brach in beiden Ländern regelrecht ein, wie Zahlen aus dem dritten Quartal zeigen, in Deutschland um 50 Prozent im Vergleich zum Vorjahresquartal, in der Schweiz um 29 Prozent.

Von 548 000 in diesem Zeitraum neu installierten Anlagen in Deutschland laufen 70 Prozent mit Erdgas oder Öl, nur jeder vierte Kunde nutzte eine Wärmepumpe. In der Schweiz stieg die Nachfrage nach Öl- und Gaskesseln um 27 Prozent.

Dabei ist klar, dass viele Besitzer von fossilen Heizungen in eine Kostenfalle laufen. Denn ab 2027 wird die Bepreisung von CO2-Emissionen in der EU auf das Heizen ausgedehnt. Experten rechnen mit einer erheblichen Verteuerung. Und mit den Stadtwerken von Mannheim kündigte ein erster kommunaler Versorger in Deutschland an, die Belieferung mit Erdgas bis 2035 ganz einzustellen.

Die Speicherung von CO2 wird wichtiger

Wegen der grossen Unsicherheiten, ob die Dekarbonisierung rechtzeitig gelingt, gewann 2024 ein anderer Ansatz im Klimaschutz erheblich an Schwung: die Abscheidung und Einlagerung von Kohlendioxid. Carbon Capture and Storage (CCS) heisst das Verfahren. In der Schweiz wie in Deutschland laufen Planungen dafür auf Hochtouren, Kohlendioxid per Containertransport oder Pipeline an Orte zu befördern, wo das Gas viele hundert Meter tief in den Untergrund gepumpt wird. Dort soll es sich in Wasser lösen und sich mit dem Gestein verbinden.

In den Niederlanden und in Norwegen werden neue CCS-Projekte bereits umgesetzt. So nahmen die Erbauer einer niederländischen Pipeline, die in die Nordsee führen soll, 2024 grosse Hürden, und in Norwegen steht die unterirdische Speicherung von Abgasen kurz bevor. 400 000 Tonnen CO2 aus einer Zementfabrik in Brevik sollen ab 2025 per Schiff in die Nordsee transportiert und dort in den Meeresgrund injiziert werden.

Die Kapazität natürlicher CO2-Speicher sinkt

Weniger gut ist es hingegen um die natürlichen CO2-Speicher bestellt. Bisher nahm die Natur laut Schätzungen rund die Hälfte der menschengemachten CO2-Emissionen auf. Doch die Kapazität dafür schrumpft, wie Wissenschafter im Oktober berichteten. Auch die deutsche Regierung kam zu der Erkenntnis, dass der vielgerühmte deutsche Wald im Saldo keinen zusätzlichen Kohlenstoff mehr speichert.

Zu den positiven Umweltnachrichten des Jahres zählt hingegen, dass in Brasilien die Entwaldungsrate sinkt, weil sich die Umweltpolitik der Regierung von Präsident Lula da Silva bemerkbar macht.

NZZ Planet A

Der Klimawandel ist nicht das Ende, sondern der Aufbruch in eine neue Zeit – voller Ideen, Chancen, Innovationen und neuer Wege. Wie leben wir mit dem Klimawandel? Welche Denker finden die besten Lösungen? Wie wird sich das Leben verändern? Finden Sie es mit uns heraus.

Abonnieren Sie hier unseren Newsletter

Während in der Schweiz am 22. September ein Volksbegehren für mehr Biodiversität scheiterte, endete ein regelrechter politischer Krimi in der EU damit, dass das sogenannte Nature Restoration Law am Ende doch noch in Kraft treten konnte. Es soll dafür sorgen, dass europaweit Anstrengungen unternommen werden, um zum Beispiel Moore wieder zu vernässen und begradigten Flussläufen einen natürlichen Lauf zurückzugeben.

Diese Massnahmen sollen nicht nur der Artenvielfalt, sondern auch dem Klimaschutz zugutekommen, weil zum Beispiel restaurierte Moore kein CO2 mehr freisetzen und langfristig sogar neuen Kohlenstoff einlagern können.

Die Uno-Klimakonferenz war kein Erfolg

Auf der höchsten Ebene der globalen Umweltpolitik wird 2024 eher als enttäuschendes Jahr in die Annalen eingehen: Der Uno-Klimagipfel COP29 in Baku endete zwar mit einer Einigung über den freiwilligen Handel mit Emissionsrechten. Dieser ist für die Schweiz besonders wichtig, die einen Teil ihrer nationalen Klimaziele durch Kooperationen mit Ghana erreichen will.

Bei der Finanzierung weltweiter Klimaschutzprojekte blieb der Gipfel aber weit hinter den Erwartungen ärmerer Länder zurück, die mehr als 1000 Milliarden Dollar Unterstützung pro Jahr gefordert hatten. Nun stehen 300 Milliarden Dollar pro Jahr ab Anfang der 2030er Jahre im Raum.

Auch der Uno-Naturschutzgipfel COP16 im kolumbianischen Cali erbrachte keine wegweisenden Beschlüsse. Die Delegierten konnten sich auf mehr Rechte für indigene Gruppen einigen, aber nicht auf eine solide Finanzierung des grossen Plans, bis 2030 mindestens 30 Prozent der Ökosysteme an Land und im Meer unter Schutz zu stellen.

Das Jahr endet in eher pessimistischer Stimmung

So wird 2024 insgesamt als äusserst schwieriges Jahr für den Klimaschutz in Erinnerung bleiben. Rekorden beim Ausbau von erneuerbaren Stromquellen stehen Stagnation oder Rückschläge in vielen anderen Bereichen gegenüber.

Von einem Rückgang der CO2-Emissionen ist die Menschheit noch entfernt. Der Wahlsieg von Donald Trump in den USA hat die internationale Umweltpolitik erschwert, denn der designierte Präsident will die USA aus den Prozessen herausnehmen und hat die Öl- und Gasförderung zu einer Priorität erklärt.

Wohin dies führt, wird sich Ende 2025 zeigen, wenn die internationale Umweltpolitik mit der Klima-COP30 im amazonischen Belém nach Brasilien zurückkehrt und damit in dasjenige Land, in dem 1992 mit dem «Erdgipfel von Rio» der erste grosse Aufbruch hin zu einer ökologischen Modernisierung begann. Ende 2024 ist der Ausgang dieses Unterfangens weiter völlig offen.

Exit mobile version