Die israelische Journalistin Lee Yaron hat das Massaker der palästinensischen Terroristen minuziös aufgearbeitet. Im Interview erzählt sie von erschütternden Begegnungen mit Hinterbliebenen.
Das schönste Interview ihres Lebens führte die israelische Journalistin Lee Yaron mit dem Schriftsteller und Pulitzer-Preis-Träger Joshua Cohen. «Es war ein echt gutes Interview», sagt Yaron und fügt lachend hinzu: «Wenn nicht für die Leser, dann auf jeden Fall für mich.» Der amerikanische Autor und die Mitarbeiterin von «Haaretz» verstanden sich so gut, dass sie ein Paar wurden. Im Frühling 2023 zog Yaron in die USA und nahm ein Stipendium an der Columbia University an, wo sie Klimawissenschaft studierte. Dann, fünf Monate später, veränderte der 7. Oktober alles.
In einer Hotellobby in Frankfurt, wohin sie eine Lesereise geführt hat, erzählt Lee Yaron von dem Interview mit ihrem heutigen Ehemann. Es ist ein seltener Moment der Leichtigkeit in einem aufwühlenden Gespräch. Denn Yaron ist gekommen, um von anderen Interviews zu berichten, die sie in jüngerer Zeit geführt hat. Und diese brachten erschütternde Zeugnisse hervor: Für ihr Buch «Israel, 7. Oktober – Protokoll eines Anschlags» hat die junge Journalistin mit zahlreichen Angehörigen der Opfer des Hamas-Massakers und auch mit ehemaligen Geiseln gesprochen. Sie schildert den Terroranschlag, gekonnt mit historischen und politischen Exkursen verwoben, in einer Anschaulichkeit, die kaum zu ertragen ist.
Frau Yaron, um ganz offen zu sein: Ich habe das Buch nicht bis zum Ende gelesen. Es ist brillant, aber stellenweise nicht auszuhalten.
Wo haben Sie aufgehört?
Beim Nova-Festival. Wo Sie die sexuelle Gewalt schildern.
Das ist sicher eine schwierige Stelle.
Längst nicht die einzige. Welche Schicksale haben sich Ihnen besonders eingeprägt?
Zum Beispiel die der ukrainischen Flüchtlinge. Stellen Sie sich vor, Opfer gleich zweier Kriege zu sein. Sie fliehen aus der Ukraine, kommen nach Israel, um Sicherheit zu finden. Dann, ein Jahr später, sehen Sie sich unter Beschuss von der Hamas. Die ukrainischen Flüchtlinge sind eine Gemeinschaft von 50 000 Menschen, die leider oft übersehen wird. Im Buch erzähle ich ihre Geschichte anhand von Eitan. Ein Waisenjunge aus Odessa. 16 Jahre alt, ein Teenager. Sein Leben dreht sich um die Schule, seine Freundin. Wie das so ist mit 16.
Und dann?
Dann gelingt es seiner Familie gerade noch rechtzeitig, aus der Ukraine zu fliehen. In Israel, in Ashkelon, wird ihr neues Haus durch eine Hamas-Rakete komplett zerstört, ein direkter Treffer. Wie durch ein Wunder haben sie es kurz zuvor verlassen. Nicht das einzige Wunder.
Was geschah noch?
Nachdem sie ihr Haus verloren haben, kommt Eitan aus dem Süden Israels in den Norden. Dort sitzt er in einem Schutzbunker, während die Raketen des Hizbullah auf ihn niedergehen. Einmal, als wir miteinander sprachen, sagte Eitan: «Ich möchte doch nur an einem sicheren Ort leben, irgendwo, wo ich nicht wieder fliehen muss. Kannst du mir sagen, wo ich sicher bin?»
Was antwortet man einem jungen Menschen, der all dies erlebt hat?
Lassen Sie mich noch eine Geschichte erzählen: Sujood, eine Beduinin, 21 Jahre alt. Sie ist schwanger mit ihrem ersten Kind. Neunter Monat, vier Tage. Am Morgen des 7. Oktobers ist sie auf dem Weg ins Krankenhaus. Unterwegs schiessen ihr Hamas-Terroristen in den Bauch. Zweimal. Dass sie offensichtlich Muslimin ist – sie trägt einen Hijab –, hindert die Terroristen nicht. Doch der Fötus, das kleine Mädchen, rettet seine Mutter.
Wie, es hat die Mutter gerettet?
Im Mutterleib fing das Ungeborene die beiden Kugeln auf. Sujood überlebte. Sie schaffte es ins Spital und bekam sogar das Baby. Aber das kleine Mädchen starb kurz darauf. Im Alter von nur vierzehn Stunden. Es ist das jüngste Opfer der Terrorattacke. Ein palästinensisch-israelisches Baby, das noch nicht einmal einen Namen hatte!
Das ist eine unvorstellbare Geschichte.
Ich . . .
Wollen wir kurz unterbrechen?
Es ist schwierig für mich, diese Geschichte zu erzählen, entschuldigen Sie. Aber es ist wichtig, sie zu erzählen, weil die meisten Leute sie nicht kennen.
Ich kannte sie auch nicht. Wie kann es sein, dass die Geschichte nicht bekannter ist?
Es liegt sicher auch daran, dass sie für die Medien zu kompliziert ist. Die Leute vergessen gerne, dass 22 Prozent der Israeli arabische Israeli sind. Auch unter ihnen fielen viele dem Massaker der Hamas zum Opfer. Gleichzeitig haben Menschen mit arabischem Hintergrund sehr oft Leid und Diskriminierung von der israelischen Regierung erfahren, obwohl es loyale Bürger Israels sind.
Handkehrum ist die Geschichte von dem ermordeten palästinensisch-israelischen Baby geradezu symbolisch für den Nahostkonflikt.
Ja, wobei uns vielleicht gerade die arabischen Israeli die Zukunft weisen. Schliesslich zeigen sie, dass es möglich ist, die beiden Identitäten zu vereinen. Vor ein paar Monaten hat mich übrigens Sujoods Mann angerufen. Sujood wurde noch einmal schwanger, sie haben ein Mädchen bekommen. Es heisst Malak, was auf Arabisch ein Engel ist.
War es Ihnen ein Anliegen, Geschichten aus verschiedenen Milieus zu erzählen?
Ja, das war zentral. Es gibt so viele Geschichten von Menschen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen. Nehmen wir Shachar Zemach, einen Friedensaktivisten aus dem Kibbuz Beeri: Er war der Enkel von einer Frau, die 1941 das Farhud-Pogrom im Irak überlebt hatte, dann nach Israel gekommen war und den Kibbuz mitbegründet hatte. Im Westen reden viele Leute von Israel als von einem weissen Land. Das ist grotesk, denn jeder, der einmal in Israel war, weiss, dass so viele von uns keine Weissen sind. Als Israel gegründet wurde, flohen mehr als eine Million Juden aus arabischen Ländern, wo sie an Leib und Leben bedroht waren. Viele der Ermordeten gehörten wie Shachar zum Friedenslager und setzten sich zusammen mit Palästinensern für deren Staat ein.
Wie Sie selber auch. Spürten Sie den anschwellenden Israel-Hass nach dem 7. Oktober?
Ja, an der Columbia-Universität war es verstörend. Schon unmittelbar nach dem 7. Oktober wurde dort das Massaker gefeiert. Ich habe erlebt, wie sich Leute gegen mich gewandt haben, die ich für Freunde und gute Kollegen hielt. Das war ein Schock. Ich hatte mich stets als Teil einer globalen Linken begriffen, die ähnlich dachte, ob es nun um «Black Lives Matter» ging, um den Klimawandel, Frauenrechte, die LGBTQ-Community. Aber jetzt war ich für diese Leute ein rotes Tuch. Man wollte nichts mehr mit mir zu tun haben.
Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?
Im Seminar hatte ich eine Kommilitonin aus einem Land im Mittleren Osten. Wir waren Freundinnen und sprachen über unsere Hoffnung auf Frieden. In der Woche nach dem Massaker ging sie zum Professor und sagte, dass sie nicht mehr mit mir arbeiten könne. Sie hat es mir nicht einmal direkt gesagt.
Wie war es, nach dem 7. Oktober zurück nach Israel zu fliegen?
Es war herzzerreissend, weil es plötzlich ein anderes Land war. Israel hatte immer viele Probleme, aber es gab diesen Traum, dass Israel ein sicherer Ort sein könnte für Juden. Und nach dem 7. Oktober ist es nun ein Ort, an dem man Traurigkeit, Traumata und Zorn spürt. Wohin man auch geht. Selbst wenn man nur in einem Café in Tel Aviv sitzt. Wir haben in Israel so viele Menschen verloren, und wenn ich Fremde treffe, denke ich immer: Was ist wohl ihre Geschichte? Wenn etwa der Taxifahrer unfreundlich ist, stelle ich mir vor, dass er vielleicht seinen Sohn im Krieg verloren hat. Oder eine schlecht gelaunte Kellnerin wartet womöglich auf ihren Mann, der noch im Krieg ist.
Hat der Anschlag das Selbstbild der Israeli verändert?
Von den jüdischen Familien, die ich interviewt habe, hörte ich immer wieder den gleichen Satz. Der 7. Oktober, sagten sie, sei der Tag, an dem wir Israeli wieder zu Juden wurden.
Sie wurden auf ihr Schicksal als Juden zurückgeworfen?
Ja, das uralte, generationenübergreifende Trauma brach wieder auf. Viele Familien sprachen über den 7. Oktober nicht wie von einem isolierten Tag. Sie sprachen gleichzeitig über ihre Stammbäume, über ihre Grosseltern, über Generationen, die sich nach Sicherheit sehnten. Diese Sicherheit, die die Juden noch heute suchen.
Und die ihnen auch Israel nicht bieten kann.
2024 haben mehr Israeli das Land verlassen als je zuvor, rund 82 000. Im Jahr zuvor waren es etwa 50 000 gewesen. Und die meisten von ihnen sind junge, gebildete Leute, die nach der Ermordung von Ministerpräsident Rabin 1995 geboren wurden. Für viele ältere setzte dieser Mord dem Glauben an Frieden ein Ende. Ich hoffe, dass meine Generation, die danach geboren wurde, diejenige sein wird, die Rabins Vermächtnis ehrt und weiterführt. Aber ich mache mir grosse Sorgen, dass Israel Netanyahu nicht überlebt. Ich wünsche mir nichts mehr, als dass ich in Israel Kinder grossziehen und dort leben kann. Und doch gewöhne ich mich zunehmend an den Gedanken, dass es nicht so sein wird.
Sie haben das Buch einem Freund gewidmet. Wer ist er?
Gal. Er wurde als Soldat in Gaza getötet, auf einer Mission zur Rettung von Geiseln. Ich denke jeden Tag an ihn. Er war erst 25 Jahre alt, studierte Medizin und wollte Arzt werden. Bei ihm drehte sich alles um die Menschen, er sah immer das Gute in ihnen. Ein Mann des Friedens, ich kann es nicht anders sagen.
Allerdings aus einer Militärsfamilie.
Ja, sein Vater, Gadi Eizenkot, war der Chef der israelischen Streitkräfte IDF. Gadi verehrte seinen Vater. Aber er hat sich entschieden, nicht als Kommandant in den IDF zu bleiben. Gal starb am 7. Dezember 2023. Ich habe also schon an dem Buch gearbeitet, als er ums Leben gekommen ist. Und es machte mir noch einmal schlagartig klar, dass ich dieses Buch schreiben musste.
Weshalb?
Weil es so schmerzhaft war, wie sein Tod politisch ausgeschlachtet wurde. Er wurde als Kriegsheld präsentiert: «Der tapfere Soldat», «der Sohn von so und so» . . . Für mich, für die Menschen, die ihn liebten, war er kein Soldat. Er war der netteste, sensibelste Mann, den man sich vorstellen kann. Kein «grosser Krieger». Ich will, dass es anderen Familien nicht so ergeht: dass ihre Kinder in Erinnerung bleiben, wie sie wirklich waren.
War Ihnen nach dem 7. Oktober gleich klar, dass Sie Geschichten der Opfer erzählen wollten?
Ich habe gespürt, dass ich etwas tun muss. Und als Autor kann man nur eines: schreiben. Als ich vor fast zehn Jahren bei «Haaretz» anfing, schrieb ich über soziale Themen. Menschen in Armut, Menschen mit Behinderungen, Holocaustüberlebende. Ich konzentriere mich immer auf die Geschichte der Menschen. Und wenn ich eines von den Familien der Opfer gelernt habe, dann, wie wichtig es ist, auch in den dunkelsten Zeiten aktiv und hoffnungsvoll zu sein. Ich weiss nicht, wie ich mich fühlen würde, wenn ich dieses Buch nicht geschrieben und mich der Verzweiflung hingegeben hätte. Es gibt im Buch ein Kapitel mit dem Titel «Traueropfer». Darin geht es um Leute, die an ihren Sorgen gestorben sind.
Woran genau sind sie gestorben?
An Herzinfarkten, an Traumata. Manche haben sich das Leben genommen. Ich erzähle von einem ehemaligen Siedler, der 2005, als Israel aus dem Gazastreifen abgezogen ist, zwangsevakuiert wurde. Später hat er nach einem Terroranschlag Leichen identifiziert, er hat Schiessereien und Bombenangriffe überlebt. Nach dem Massaker im Kibbuz Beeri ist er hingefahren und hat Überlebende, blutüberströmte Kinder, von dort in Sicherheit gebracht. Ein paar Wochen später nahm er sich das Leben.
Es fehlen einem die Worte.
Ja, aber wenn wir eine andere Zukunft wollen, müssen wir anfangen, die Geschichten der Menschen zu erzählen. Die Israeli wissen leider oft nicht genug über die Schicksale von Palästinensern, und die Palästinenser wissen nicht genug über die Israeli. Als ich einige der Geiseln interviewte, die zurückkamen, war eine Mutter dabei, die mit ihrer Tochter und einem Freund der Tochter in Gefangenschaft gewesen war. Ich habe sie gebeten, zu beschreiben, wo sie festgehalten worden seien. Sie erzählte, dass es in allen Räumen, in denen sie gefangen gewesen seien, Karten gegeben habe, auf denen Palästina vom Fluss bis zum Meer, von «the river to the sea» gereicht habe. Dann erzählte sie noch etwas Erstaunliches. Eines der ersten Dinge, die ein Terrorist sie gefragt habe, sei gewesen, wo sie herkomme.
Wie meinte er das?
Genau das fragte sie auch: «Du hast mich aus meinem Bett geholt, aus meinem Zuhause! Du weisst genau, wo ich herkomme. Aus dem Kibbuz Beeri.» – «Nein», sagte der Terrorist, «woher kommst du wirklich?» – «Na, Kibbuz Beeri!» – «Nein! Deine Eltern?» – «Aus Israel.» – «Grosseltern!» – «Aus Polen.» – Darauf er: «Ah, das ist es. Du kommst aus Polen. Geh gefälligst zurück nach Polen. Wir kommen aus Haifa. Wir gehen zurück nach Haifa.» Eine surreale Szene. Sie war schockiert, seine Perspektive zu hören. Und er war schockiert, zu erfahren, dass ihre Grosseltern keine andere Wahl gehabt hatten, als zu fliehen. Soll ich Ihnen noch eine letzte Geschichte erzählen?
Bitte.
Moshe Ridler. Moshe war das älteste Opfer des Angriffs. 92 Jahre alt, ein Holocaustüberlebender. Aufgewachsen ist er in der Stadt Herza an der Grenze von Rumänien und der Ukraine. Nach dem Holocaust wurde er Polizist in Tel Aviv. Moshe muss ein toller Typ gewesen sein. In den 1960er Jahren schrieben die Zeitungen über ihn, er war eine Berühmtheit, weil er Drogenhändler und Zuhälter verhaftete. Moshe hat immer Gerechtigkeit gesucht. Nach seiner Pensionierung hat seine Tochter Pnina – sie trug den Namen seiner Mutter, die von rumänischen Verbündeten der Nazis ermordet worden war – lange auf ihn eingeredet, zu ihr in den Kibbuz zu ziehen. Sie sagte: Es gibt keinen besseren Ort, um alt zu werden. Es ist grün, es ist wunderschön, komm hierher. Er war 90 Jahre alt, als er endlich zu ihr zog. Zwei Jahre später wurde Moshe in seinem Bett ermordet.
Gut achtzig Jahre nachdem er den Nazis hatte entkommen können . . . Ein unfassbares Schicksal.
Ich dachte, das Buch sei fertig. Dann rief plötzlich Pnina an. Sie hatte einen Brief bekommen von einer Holocaustüberlebenden aus Moshes Heimatstadt, die sich an ihn erinnerte und erzählte, wie er damals von den rumänischen Verbündeten der Nationalsozialisten ins Ghetto deportiert worden war. Das war am Feiertag Simchat Tora im Jahr 1941. Es war derselbe Tag. Moshe Ridler war an demselben jüdischen Feiertag von den Nazis deportiert worden, an dem er 82 Jahre später von der Hamas ermordet wurde.
Lee Yaron: Israel, 7. Oktober – Protokoll eines Anschlags. Aus dem Englischen von Sigrid Schmid, Cornelia Stoll und Maria Zettner. Mit einem Nachwort von Joshua Cohen. S.-Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2025. 320 S., Fr. 39.90. – Lee Yaron und Joshua Cohen sind am Literaturfestival Leukerbad (20. bis 22. Juni) zu Gast.