Mittwoch, September 10

In ihrem zweiten Spielfilm entfaltet Mascha Schilinski ein eigenwilliges Porträt weiblicher Erfahrung im Schatten deutscher Geschichte. Über vier Generationen hinweg verwandelt sich ein Hof in Sachsen-Anhalt in eine Projektionsfläche für schmerzvolle Erinnerungen.

In der Frühzeit der Fotografie besuchten oftmals Geister die Familienporträts. Das lag an den langen Belichtungszeiten. Personen, die sich während der Aufnahme ins oder aus dem Bild bewegten, erschienen später als blasse Schemen auf dem Abzug. Das ist umso spukhafter, wenn es sich um sogenannte Post-mortem-Fotografien handelt, jene Bilder von verstorbenen Familienmitgliedern also, die in westlichen Kulturen bis zum Zweiten Weltkrieg häufig aufgenommen wurden.

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Dieser unheimliche Effekt kommt nicht nur mehrfach in Mascha Schilinskis international gefeiertem zweiten Spielfilm «In die Sonne schauen» vor. Er bietet gewissermassen eine visuelle Entsprechung für ihr filmisches Vorgehen, das den üblichen Modi des narrativen Kinos widerspricht. Denn wie diese Geister halten sich bisweilen unerklärliche Stimmungen zwischen den Bildern. Die Zeit vergeht hier nicht chronologisch, sie hält sich als Echo in den Räumen eines Hofs in der Altmark im Norden Sachsen-Anhalts, wo der ganze Film angesiedelt ist.

Die Menschen gehen, ihr Schmerz bleibt

In der Scheune, im Schlafzimmer, am Fluss und auf den Feldern nisten Schichten des Unverarbeiteten. Der Trümmerhaufen deutscher Geschichte ist bei Schilinski ein durch die Zeit reisendes Trauma. Insgesamt vier Zeitebenen auf dem Hof lässt der Film ineinanderfliessen, im Zentrum stehen dabei immer Frauen. Töchter, die versuchen, den körperlichen und brutalen Geheimnissen der Welt näherzukommen, Mütter, die leiden und das nicht verbergen können. Die Menschen gehen, ihr Schmerz bleibt.

Einmal ist da das Mädchen Alma, die am Vorabend des Ersten Weltkriegs mit der eigenen Sterblichkeit konfrontiert wird, nachdem sie sich selbst als Tote auf einem Foto zu erkennen geglaubt hat. Ausserdem sieht sie, wie Fritz, der Sohn des Hofes, vom Scheunenboden stürzt, als er von seinen Eltern verfolgt wird. Sein Bein muss amputiert werden. Später wird klar, dass ihn die Familie so vor einem Kriegseinsatz bewahrt hat.

Jahre später humpelt Erika während des Zweiten Weltkriegs über den Hof. Sie spielt sich vor, ein Bein verloren zu haben wie ihr Onkel Fritz, zu dem sie sich erotisch hingezogen fühlt. Sie berührt den Bauchnabel des nackten Mannes, betrachtet fasziniert seinen Stumpf. In den 1980er Jahren befindet sich der Hof in der DDR. Die Tochter Angelika will mit aller Macht leben und lieben und torkelt zugleich entlang eines suizidalen Abgrunds. Wie bei allen Figuren ist auch bei ihr das Verhältnis zur eigenen Mutter belastet. Es fehlt an Liebe, an Lebensfreude, etwas ist abhandengekommen.

In einer anderen Szene versteckt sich ein Mädchen auf einem Baum. Es schreit, aber keiner hört es. Diese Bilder machen den Film aus, sie funktionieren wie Vignetten, die eine Stimmung festhalten. In der Gegenwart ist da die junge Lenka, die von Albträumen und dem Gefühl eines unter den Oberflächen schwelenden Horrors geplagt wird, während ihre Familie den alten Hof herrichtet. Ein Jahrhundert vergeht. Es gibt Selbstmorde, Unfälle, Zusammenbrüche. In von Kerzenlicht beleuchteten sepiafarbigen Räumen entwickelt sich eine durch Motive und Blicke verbundene Meditation auf transgenerationale Traumata.

Dabei geht es nicht um eine psychologisch aufgeladene Erschliessung der Gründe für die Traumata der Frauen. Die schwingen einfach mit, wenn die Männer die Frauen ohrfeigen oder zu lange anstarren oder ignorieren. Es geht um den Versuch, diese eigentlich unsichtbaren Vorgänge mit filmischen Mitteln greifbar zu machen. Gelegentlich wirkt die symbolistisch angehauchte Düsterkeit arg bemüht, etwa wenn sich eine Protagonistin zu einem toten Reh ins Gras legt und ein weiterer drohender Selbstmord mit allzu viel Pathos dargeboten wird.

Aber so ist das eben mit Wunden, die sich ausbreiten, wenn sie nicht verpflegt werden. Das Albtraumhafte an den Geschichten führt den Film an den Rand des Folk-Horrors, die Bilder zittern, und man kann sich nie sicher fühlen. Ein ausgeklügeltes Spiel mit sich überlagernden subjektiven Perspektiven löst die Grenzen zwischen Erinnerung, Imagination, Wirklichkeit und Ahnung vollends auf. Man weiss nicht immer, wer blickt, oder die Sicht wird versperrt. Die Erinnerung trügt.

Ein Flackern wie von analogem Material

Der von Deutschland für den Oscar eingereichte Film arbeitet mit Unschärfen, Dunkelheit und Bildern, die plötzlich auftauchen, aber erst viel später einen Sinn ergeben. Die Kameraarbeit von Fabian Gamper ist bemerkenswert, seine digitalen Bilder sind von einem lebendigen Flackern erfüllt, wie man das eigentlich nur von analogem Material kennt. Dabei helfen auch das Knistern und das Knacken auf der Tonebene, der Film ist eine aus allen Rohren feuernde Beschwörung des Kinos als Geistermaschine.

Die Blicke reisen durch Zeit und Raum. Manchmal spürt jemand einen Blick auf sich und lässt sich nichts anmerken. Das hat zum einen mit den patriarchalen Machtstrukturen am Hof zu tun, zum anderen mit den Kräften, die hier wirken, obwohl sie nicht gesehen werden. Das deutsche Kino täte gut daran, solche Filme nicht als geglücktes Wagnis, sondern als grundsätzlichen Anspruch an ein künstlerisch gelungenes Kino zu betrachten.

Kinotrailer "In die Sonne schauen" - Kinostart 28. August 2025

«In die Sonne schauen»: Im Kino.

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