Dienstag, Juli 15

Im Streaming sind die Filme zum hohlen, narzisstischen Content geworden. Aber eine Hoffnung bleibt.

Netflix ist schuld. Netflix hat alles kaputtgemacht. Es mag kulturpessimistisch klingen und, ja, zugegeben, ein bisschen unoriginell. Aber es ist, wie es ist: Streaming hat das Kino auf dem Gewissen.

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Nicht dass sein Niedergang überraschend gekommen wäre. Wir leben im asozialen Jahrhundert, wie der amerikanische Journalist Derek Thompson im «Atlantic» schreibt. Und Streaming ist nun einmal komfortabler, quasi das Lieferando der Kultur. Alles eine Frage der Bequemlichkeit.

Wer kaum noch vom Sofa hochkommt, schafft es auch nicht ins Kino. Vollkommen logisch. Die Pandemie braucht keiner vorzuschieben. Selbst ohne Viren hätte sich der Filmkonsument früher oder später ins eigene Refugium zurückgezogen. Klar, keine Hilfe sind die seelenlosen Kinos mit ihren traurigen Snacks. Aber vor allem ist der Mensch von seiner Konstitution her ein Couch-Potato. Wenn man ihn lässt, bleibt er kleben.

Jetzt kann man an den Zahlen herumlaborieren: Zweckoptimistische Kinobetreiber konstatieren seit ein, zwei Jahren, dass die Talsohle erreicht sei. Dass es wieder aufwärts gehe bei den Besucherzahlen. Aber das ist Kosmetik. Ob sieben oder zwölf Leute im Saal sitzen, ändert nichts am Gesamtbild. Kino, kurzum, ist kein Massenmedium mehr.

Die Leinwand ist sinnlicher

Das heisst nicht, dass das kollektive Filmeschauen verschwinden wird. Festivals sind gut besucht, Open-Air-Kinos genauso. Es ist wie mit der Füllfeder, die den Kugelschreiber überlebt hat. Oder manche Leute lesen diesen Artikel auf Papier: Es wird immer diejenigen geben, die noch zu schätzen wissen, wenn sich etwas gut anfühlt. Wobei man die Leinwand nicht streicheln muss, um zu wissen, dass sie sinnlicher ist als jeder Touchscreen.

Gar nicht zu reden von den Nutzeroberflächen bei den Streamern. Kaum dass man sich eingeloggt hat, brüllt einen der Content an. Aber die meisten Menschen haben sich damit arrangiert. Sie klicken irgendwo drauf. Hauptsache, Feierabend. Doch das suchthafte Serien- und Filmeschauen, diese zwanghafte Sehgewohnheit zieht alle in Mitleidenschaft. Der Filmkonsum verändert sich, die Herstellung auch. Und nicht zuletzt die gesellschaftliche Rolle, die der Film noch spielt.

Angefangen damit, dass man früher in einen Film ging. Betonung auf hineingehen. Heute liegt der Fokus darauf, dass der User nicht weggeht, sich nicht ausloggt. Geschweige denn das Abo kündigt. Für die Streamer geht es nicht primär darum, die Leute zu begeistern, sondern darum, sie zu behalten.

Dafür braucht es einen «stream of content», einen Sturzbach von neuem Material. Masse ist entscheidend, Qualität weniger. Ein einziger, noch so guter Film bindet den Konsumenten kaum an ein Portal.

Filme wie fade Tomaten

Womöglich ist ein Meisterwerk sogar kontraproduktiv. Es legt die Messlatte höher. Aus Streamersicht ist es klüger, den Zuschauer ans mittlere Qualitätssegment zu gewöhnen. Er soll gar nicht allzu viel erwarten. Das ist wie mit den Tomaten im Supermarkt: Sie schmecken das ganze Jahr über gleich, selbst geschmackliche Ausreisser nach oben sind unerwünscht. Weil dem Kunden, so glaubt man, die Konstanz am wichtigsten sei.

Streaming will ausserdem nicht sättigen, sondern ein leichtes Hungergefühl lassen. Es gebe noch ein Supplement, so wird der Gast beruhigt. «Worth the wait» heisst die für die Kundenbindung wichtigste Kategorie bei Netflix: Es lohnt sich zu warten. Womit eigentlich? Der Kündigung?

Wobei kündigen gar nicht so einfach ist, wie jeder weiss, der beispielsweise einmal ein Amazon-Prime-Abo stornieren wollte. Man muss sich einen Nachmittag freinehmen, um durch das Seitenlabyrinth zu navigieren. Heute würde Kafka einen Roman über Amazon schreiben.

Die Schikane hat Methode. Kürzlich beschäftigte sich sogar ein amerikanisches Gericht damit. Doch dieses hat entschieden, dass die Plattformen den abwanderungswilligen Usern das Leben leider schwermachen dürfen. Der «Hollywood Reporter» mahnt jetzt, dass man sich den Abschluss neuer Abos besser zweimal überlegen solle: «Streaming subscriptions may get tougher to cancel.»

Erfolg ist egal

Man ist gefangen in der Streaminghölle. Und in dieser schwitzen auch die Filmhersteller. Denn Filme müssen mittlerweile im Akkord produziert werden, Drehs werden durchgepeitscht, die Produktionsbedingungen sind brutal.

Kommt hinzu, dass man als Filmschaffender, der fürs Streaming arbeitet, wenig kommerziellen Ansporn hat. Denn Erfolg ist egal. Das ist die bittere Realität für die Produzenten und Filmemacher: Wer einen Film für Netflix realisiert, hat so gut wie nichts davon, wenn das Werk zum Hit wird. Die Tantiemen sind Peanuts.

Aber auch im Kino zieht nicht mehr viel. Höchstens so etwas wie «Jurassic World» rentiert noch. Aus nostalgischen Gründen gehen die Leute rein. Das ist bezeichnend. Statt die Prämisse der Reihe in die heutige Zeit überzuführen, in der das grösste Artensterben seit dem Ende der Dinosaurier zu beobachten ist, verharrt der Film in einer Selbstbeweihräucherung mit Bildzitaten, die auf die Vorgängerfilme anspielen.

«Jurassic World» ist beispielhaft für die Kreislaufwirtschaft im Gegenwartskino. All die Sequels, Remakes, Reboots, Spin-offs et cetera, et cetera sind aber nur die Spitze des Eisbergs. Der zeitgeistige Film verliert sich überhaupt in seiner Selbstbezogenheit. Im «Triggern der Wahrnehmung durch Wiedererkennungseffekte», wie Lars Henrik Gass in einem Essay zu «Film in der narzisstischen Gesellschaft» (XS-Verlag, Berlin 2025) schreibt: «Kino bildet keine gesellschaftlichen Verhältnisse mehr ab, sondern repräsentiert sie als Warenschau.» Er hat nicht unrecht.

Der narzisstische Film

Am Anfang des Kinos stand das Staunen. Der neuartige Apparat erlaubte es den Menschen, mit Neugierde auf die Wirklichkeit zu schauen. Filme beförderten «die gesellschaftliche Teilhabe und eine universalistische Sicht auf die Welt», wie der Filmtheoretiker festhält. Heute befördern die Filme vor allem noch den Narzissmus des Einzelnen.

Wir leben in einer selbstverliebten Gesellschaft, in der laut Gass «die mitunter schmerzliche, fremdartige Begegnung mit dem Anderen, Neuen, Nichtidentischen» keinen Platz mehr habe. Der Narzissmus «will nur noch erfahren und haben, was er kennt». Und so sehen die Filme dann auch aus.

Sie richten sich an Menschen, die 20 Franken im Monat für Netflix ausgeben. Oder ähnlich viel für ein Kinobillett. «Die Mittelschichten betrachten sich in diesen Filmen selbst», schreibt Gass. Allerdings «nicht im Sinne einer womöglich kritischen Darstellung der materiellen Bedingungen ihrer Existenz».

Exemplarisch sind für ihn die Filme von Ruben Östlund («Triangle of Sadness») und Paolo Sorrentino («Parthenope»), aber auch eine Serie wie «The White Lotus» liesse sich anführen: Diese Stoffe vertreten eine «vulgäre Kapitalismuskritik samt eingebauter Verstehanleitung». Dem Anschein nach werden soziale Missstände offengelegt, «über die man selbst natürlich erhaben ist dank einem hypersensiblen Mindset».

Alles ist nur noch Pose

Aber diese Produktionen interessieren sich nicht für eine Rea­lität, sondern sie «inszenieren Geschmack». Gass, der sich auch über das gutbürgerliche Arthouse-Kino von Joachim Trier, Wes Anderson oder Mia Hansen-Löve auslässt, kritisiert zu Recht, dass im typischen Gegenwartsfilm alles zur Pose wird, «die man umstandslos einnehmen kann, zur Ausstattung – ohne Entwicklung, ohne Komplexität, ohne Widersprüche».

Lars Henrik Gass nennt es den narzisstischen Film. Dieser bildet eine Gesellschaft ab, die immer seltener ins Kino geht, aber ihr Selbstbild auch im Film wiederfinden möchte. Auf Netflix muss sie nicht lange suchen. Der narzisstische Film, fasst Gass zusammen, sei «eine Art All-inclusive-Angebot für den Mittelstand als Zielgruppe, der hier sein Zeitporträt erhält, sein Epos».

Wird es irgendwann wieder besser? Die grosse Chance für das Kino ist ausgerechnet seine grösste Bedrohung: die KI. Paradoxerweise wird die Technik durch die Technik obsolet: Weil es immer weniger Mittel braucht, um Filme zu machen. Man muss nicht James Cameron heissen und mehrere hundert Millionen Dollar aufwenden, um «Avatar» in die Länge zu ziehen. In naher Zukunft kann praktisch jeder auf Pandora drehen und Geschichten von blauen humanoiden Mondbewohnern erzählen. Womit sich dann kein Mensch mehr dafür interessieren wird.

Blockbuster werden ihre Anziehungskraft verlieren. Denn selbst an noch so spektakulären Bildern hat sich das Publikum irgendwann sattgesehen. Was sich nicht erschöpft, sind die Geschichten. Solche, die sich keine KI ausdenken kann. Und die sich nicht darum drehen, was ohnehin jeder schon kennt, sondern die das eigene Weltbild herausfordern. Wenn es so kommt, dann kommt die beste Zeit für das Kino erst noch.

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