Mittwoch, März 12

Die Niederländerin Jente Posthuma erzählt in ihrem Roman «Woran ich lieber nicht denke» vom Unsagbaren nach einem Suizid. Sie macht es auf überraschende und darum umso beklemmendere Weise.

Tod und Komik zusammenbringen? Geht das? Wenn es geht, kann das ungemein tröstlich sein. Mit ihrem Roman über ein Zwillingspaar, wo der Bruder der Erzählerin Suizid begeht, stand die Niederländerin Jente Posthuma 2024 auf der Shortlist des International Booker Prize. «Woran ich lieber nicht denke» kümmert sich nicht um die Konventionen der Trauer. Diese Geschichte verarbeitet den Schmerz so unkonventionell, dass hier alles gleichzeitig echt und wunderbar überdreht wirkt.

Optimieren Sie Ihre Browsereinstellungen

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Eins und Zwei nennen sich die Geschwister. Der Bruder war bei der Geburt eine Dreiviertelstunde früher da als die Schwester. Die Eltern sind beide Geologen. Der Vater führt mikroskopische Bodenuntersuchungen durch, und die Mutter ist Expertin für Erdrutsche. Im Leben der Zwillinge spielen seltene Mineralien eine nicht unbedeutende Rolle. Der praktische Wert einer zu Hause aufbewahrten Sammlung wird immer wieder ausgetestet. Einmal lassen die Kinder schwere Drusen und Dendriten die Treppe hinunterpoltern und hoffen, damit ein Erdbeben auszulösen. Später wird sich der Bruder die wertvollen Gesteinsbrocken in einen Rucksack packen und damit in den Fluss radeln.

So funktioniert Jente Posthumas Roman: Hinter lakonischer Kürze verbirgt sich die grosse Menge an Ungesagtem und Unsagbarem. Die 1974 in Enschede geborene Schriftstellerin hat ihre Tricks, und ihre Sätze gehen zum Beispiel so: «Wir entdeckten, dass wir auf Jungs standen, als wir acht waren und uns in Hans verliebten.» An anderer Stelle heisst es: «Als ich siebenundzwanzig war, besass ich hundertzweiundvierzig Pullover, und es wurde Zeit, in Therapie zu gehen.»

Eine Liste der Todesarten

Der Bruder ist schwul und arbeitet in einer einschlägigen Bar. Die ich-erzählende Schwester hat einen Pullover-Tick und verdient ihr Geld in einem Secondhandladen. Sie ist mit Leo zusammen, der ein gutes Stück kleiner ist als sie und sein Geld mit einem erstaunlich erfolgreichen Geschäftszweig verdient. Er schnitzt naturgetreue Vulven aus Holz und verkauft sie europaweit.

Leo ist ein Resilienzkünstler, der die Sehnsucht seiner Freundin nach dem eigenen Bruder umsorgend hinnimmt und auch mit anderen familiären Traumata umzugehen weiss. Als die Zwillinge elf Jahre alt waren, hat sich der Vater aus dem Staub gemacht, um den Amazonasschlamm zu erforschen. Er ist nie wieder zurückgekommen, weil er in der Ferne an einer plötzlichen Hirnblutung starb.

Mit obsessiver Melancholie wird im Roman von Todesarten erzählt. Von Katastrophen wie dem Angriff auf die Twin Towers genauso wie vom Kleinen und Privaten. Es geht um Morde und Suizidraten in New York. Um imaginierte Schicksale und um die weissen Stellen auf der Landkarte des Unglücks: «Der 12. Juli 1993 war ein selbstmordloser Tag in New York, lasen mein Bruder und ich am folgenden Tag im Teletext.» Die Suizide von Schriftstellern wie Sylvia Plath und Anne Sexton erwähnt Jente Posthumas Erzählerin, wenn sie ihr Inventar des Sterbens erstellt, das auch ein Inventar der Trennungen ist.

Der Roman beginnt als Wir-Erzählung. Viele Sätze beginnen mit dem Wir. Die Zwillinge sind ganz beieinander, haben ihre Rituale, aber allmählich schleicht sich so etwas wie Abschied ein. Es gibt ein Schweigen, das vom Bruder ausgeht. Auf eine gemeinsam geplante Reise nach New York kommt er nicht mit, sondern geht für ein Jahr nach Brasilien. Der Kontakt wird dünner.

Was man als natürlichen Trennungsprozess von Zwillingen, die mit Mitte zwanzig ihre Leben zu schultern haben, sehen könnte, hat ein inneres Drama. Der Bruder ist depressiv. Seine Phasen der Selbstversunkenheit sind Abschiede auf Probe. Auf seinem Schreibtisch liegen zwei Ordner. Der eine gehört zum Plan A: leben. Der zweite zum Plan B: sterben. «Ich war für A, mein Bruder tendierte zu B.»

Am Ende der Hoffnung

Nach und nach verwandelt Jente Posthuma das komische Element in ihrem Roman, dosiert es neu. Andreas Ecke als Übersetzer aus dem Niederländischen hat diese sprachlichen Nuancen präzise nachgebildet. Im Fortgang des Romans wird die Geschichte der Zuneigung zwischen Bruder und Schwester immer weniger durch slapstickhafte Momente unterlaufen. Sie spaltet sich auf in eine düstere Gegenwart und in helle Vergangenheiten. Nicht die einzelnen Augenblicke sind absurd, sondern das Leben selbst ist es.

Die Lakonie wird zur Waffe. «Wenn man all unsere Telefonrechnungen zwischen unserem neunzehnten und unserem neunundzwanzigsten Lebensjahr durchsieht und diese nächtlichen Gespräche zwischen meinem Bruder und mir addiert, kommt man auf 318 Stunden und 38 Minuten», sagt die Schwester zu ihrer Therapeutin. Und sie sagt: «Der Vorteil des Verlusts ist, dass man ihn hinter sich hat.» Ist es so? Ist es nicht der Nachteil von schweren Verlusten, dass sie immer spürbar bleiben?

Davon handelt Jente Posthumas Roman, in dem der Ernst des Lebens als existenzielle Ironie daherkommt. Fünfunddreissig Staffeln des Reality-TV-Formats «Survivor» haben die Zwillinge gemeinsam gesehen. Als der Bruder fünfunddreissig ist, hat er die Hoffnung aufgegeben, ein Survivor zu sein. Er fährt mit dem Rad an jener Stelle in den Fluss, wo die Kinder oft waren. «Ich träumte, dass ich ihn wiedersah», schreibt die Zwei nach dem Tod von Eins, «ich bin nur dienstags hier, sagte er. Das war in Ordnung. Damit konnte ich leben.»

Jente Posthuma: Woran ich lieber nicht denke. Roman. Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke. Luchterhand-Literaturverlag, München 2025. 256 S., Fr. 32.90.

Exit mobile version