Samstag, Oktober 5

Auch von Hannah Arendt gibt es noch unentdeckte Schriften. Zwei Essays zu Palästina und zur Flüchtlingsfrage sind soeben publiziert worden. Sie sind beklemmend aktuell.

Man kann begeistert sein und ist vielleicht doch leicht enttäuscht von den zwei Texten von Hannah Arendt, die nun erstmals an die Öffentlichkeit kommen – Jahrzehnte nachdem sie entstanden sind. Der eine wurde Anfang 1944 geschrieben und plädiert für die Schaffung einer jüdischen Heimstatt in Palästina. Ein Postulat, das damals selbst in den USA noch nicht breiten Rückhalt hatte.

Als der Text entstand, war der Holocaust weitgehend «abgeschlossen». An die fünf Millionen Juden waren bereits ermordet worden, die «Ungarn-Aktion» mit etwa 400 000 weiteren Opfern stand unmittelbar bevor. Der Essay mit dem Titel «Amerikanische Aussenpolitik und Palästina» entstand am grausamen Schlusspunkt der jüdischen Geschichte in Europa. Er wurde auf Deutsch verfasst und nie veröffentlicht. Thomas Meyer, der kürzlich eine lesenswerte Arendt-Biografie vorlegte, hat ihn im Dezember 2022 entdeckt und jetzt herausgegeben.

Der zweite Text, «The Palestine Refugee Problem. A New Approach and a Plan for a Solution», ist ein Gemeinschaftswerk von siebzehn Autoren. Er entstand im Auftrag des Institute for Mediterranean Affairs, wurde im September 1958 veröffentlicht und in den USA in den Medien breit kommentiert. Er erscheint nun unter dem Titel «Das palästinensische Flüchtlingsproblem. Ein neuer Ansatz und ein Plan für eine Lösung».

An der politischen Realität vorbei

Der Herausgeber Thomas Meyer bezeichnet «Das Flüchtlingsproblem» als «Kuriosum» und weist darauf hin, es sei kaum eine «Sensation im Werke Arendts». Das trifft den Punkt. Mit der Forderung nach einer massenhaften Repatriierung der 1948 aus Palästina vertriebenen Araber geht Arendt an der politischen Realität eines Israel hassenden ägyptischen Präsidenten Nasser zumindest teilweise vorbei. Im Übrigen skizziert sie in grossen Zügen die Aufteilungslösung, wie sie bereits seit 1948 bestand.

Arendt plädiert dafür, eine Uno-Repatriierungsbehörde einzurichten und allen staatenlosen Flüchtlingen die «volle Staatsbürgerschaft Israels» zuzusprechen. Dafür müssten sie dem Staat Israel Treue geloben. Die Frage, was das für Israel bedeutet und welche Konzessionen das Land dafür allenfalls machen müsste, berührt sie nicht. Vielleicht war die nachträgliche Besinnung darauf der Grund, dass Arendt ihre Mitarbeit an diesem Text bald verschwieg. Eine ausführliche Replik von Karl Jaspers, dem sie die Studie geschickt hatte, liess sie unbeantwortet.

Der eigenständige Text aus dem Jahr 1944 hat eher Sensationscharakter. In ihm stellt Arendt sich hinter die Resolution 247 «National Home for Jewish People in Palestine». Die Senatoren Taft und Wagner brachten sie Anfang 1944 im US-Kongress ein, zogen sie aber wieder zurück, weil absehbar war, dass sie kaum Chancen hatte. Am Vorabend der letzten grossen Etappe der Shoah plädierte Hannah Arendt hier für die Errichtung eines jüdischen Nationalstaats.

Klarsichtig betont sie, dass der Nahe Osten, «ja das ganze Mittelmeergebiet» in Gefahr sei, zum «künftigen Pulverfass der Welt zu werden». Nichts habe der Integration des Judentums «in die Gemeinschaft der europäischen Völker so entscheidend geschadet» wie dass es «in nahezu allen europäischen Ländern zu den Vertretern fremder Interessen oder zu den Agenten weit entfernter Höfe gemacht worden» sei. Das dürfe sich mit einem jüdischen Palästina nicht wiederholen, betont Arendt. Es dürfe keine blosse Marionette für die Westmächte oder die Sowjets werden, die auf das nahöstliche Öl schielten.

Auf fremdem Boden

Damit nimmt Arendt schon während des Krieges Erkenntnisse ihres Buches «Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft» vorweg. In Europa hatten sich die Juden trotz allen Anpassungsbemühungen bis zuletzt auf fremdem Boden befunden, ohne eine nationalstaatliche Heimstätte zu haben. Das staatsbürgerliche Fremdsein und -bleiben war ihnen zum Verhängnis geworden. Die Definition des israelischen Teils Palästinas als ethnonationale Heimat sollte die Juden schützen, falls sie irgendwo auf der Welt wieder unter Fremdenrecht gestellt werden.

«Das gegenwärtige Problem», heisst es im Flüchtlingstext von 1958, «kann nicht gelöst werden, indem man über die relative Legitimität von Eroberungsansprüchen von vor dreitausend, tausend oder zehn Jahren diskutiert.» Leider bestimmen genau solche vermeintlich theoretischen Topoi auch nach Jahrzehnten noch immer das politische Geschehen, sei es in Gaza oder in der Ukraine.

Die beiden Texte lesen sich mit Gewinn. Sie sind mehr als Zeugen ihrer Zeit und Dokumente von Arendts politischer Publizistik. Um das Wesentliche über die Entstehung des Antisemitismus und die Legitimität der Staatsgründung Israels zu lernen, wird man sich allerdings nach wie vor an Arendts grosse Studie über den Totalitarismus halten.

Hannah Arendt: Über Palästina. Herausgegeben von Thomas Meyer, übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Mike Hiegemann. Piper-Verlag, München 2024. 272 S., Fr. 34.90.

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