Über eine Woche nach dem israelischen Doppelschlag gegen den Hizbullah in Beirut und die Hamas in Teheran ist trotz lauter Drohungen noch immer keine Reaktion erfolgt. Was könnte hinter der Verzögerungstaktik stecken?
Zumindest vordergründig geht das Leben in Beirut ganz normal weiter wie bisher. In den Strassen staut sich der Verkehr, die Cafés sind voll. Doch die israelischen Jets, die immer wieder im Tiefflug über die Stadt hinwegdonnern und dabei mit einem furchteinflössenden Knall die Schallmauer durchbrechen, erinnern daran, dass die libanesische Hauptstadt vor einem grossen Krieg steht.
Denn nachdem die Israeli am 30. Juli in einer einzigen Nacht sowohl den Hizbullah-Kommandanten Fuad Shukr in Beirut als auch den Hamas-Chef Ismail Haniya mit gezielten Angriffen getötet haben, haben sowohl Iran als auch die verbündete libanesische Schiitenmiliz Rache geschworen. Diesmal werde man mit Sicherheit zurückschlagen, sagte der Hizbullah-Chef Hassan Nasrallah zu Beginn der Woche in einer Rede.
Passiert ist seither jedoch nichts. Die zahlreich angereisten Journalisten sitzen nun Abends in den Bars des Beiruter Christenviertels Gemmayze und rätseln darüber, wann und ob der Gegenangriff erfolgen werde und was die Konsequenzen wären. Aber die Iraner und ihre Verbündeten von der sogenannten «Achse des Widerstands» lassen sich nicht in die Karten schauen – und warten fürs erste ab.
Das Dilemma des iranischen Regimes
Das scheint ihre Position allerdings nicht zu verbessern. Denn inzwischen haben die Amerikaner – die fest an der Seite Israels stehen – zusätzliches Kriegsmaterial in die Region gebracht, um einen Angriff beantworten zu können. Zudem schicken alle möglichen Länder ihre Diplomaten nach Teheran, um die dortigen Machthaber von einem harten Gegenschlag abzuhalten.
Vor allem der militärische Druck der Amerikaner scheint Wirkung zu entfalten. «Sowohl Iran als auch der Hizbullah sind sich bewusst, was ihnen im Falle eines Angriffs droht», sagt Michael Young vom Carnegie Center in Beirut. «Das trägt mit Sicherheit zur derzeitigen Zurückhaltung bei.»
Nach aussen hin geben sich die Iraner zwar entschlossen. Doch stehen sie vor einem Dilemma. Einerseits hat Teheran kein Interesse an einem grossen Krieg. Andererseits kann es den Tod Haniyas aus Reputationsgründen nicht ungesühnt lassen. Das gleiche gilt für den Hizbullah, der mitten in seinem Stammland getroffen wurde und dessen Anhänger jetzt Vergeltung fordern.
Eine mehrtägige Angriffswelle auf Israel?
Ein Gegenschlag müsste demnach signifikant genug sein, um die eigene Abschreckung aufrechtzuerhalten, ohne aber einen grossen Krieg auszulösen. «Möglicherweise planen Iran und Hizbullah, einen hochrangigen israelischen Beamten zu töten», sagt der israelische Iran-Experte Danny Citrinowicz vom Institute for National Security Studies in Tel Aviv. «Dafür müssen sie aber den richtigen Moment abpassen.»
Andere Experten glauben, Iran und seine Verbündeten könnten es auf israelische Militäranlagen abgesehen haben. In jedem Falle müssten sich Teheran und seine Kampfgenossen aber auf eine Strategie einigen. Das braucht Zeit. Citrinowicz geht davon aus, dass Iran und Hizbullah ihren Angriff zwar koordinieren, Iran allerdings zuerst auf die Folgen des Hizbullah-Gegenschlags warten werde, bevor es selbst angreift.
«Teheran will auch zeigen, dass nicht der Hizbullah für die Tötung von Haniya zurückschlägt, sondern die Reaktion dafür aus Iran selbst kommt», sagt er. Ein mögliches Szenario sei eine Angriffswelle über zwei oder drei Tage gegen militärische Ziele in Israel – wobei wohl auch zivile Opfer in Kauf genommen würden.
Auch in Israel herrscht Anspannung
Der Hizbullah-Chef Nasrallah verkauft die Verzögerung bei seinen Auftritten derweil «als Teil des Kampfes und als einen Teil der Bestrafung». Geht es nach den meisten Israeli, ist diese Taktik aber nur bedingt erfolgreich. Einige legen nun Vorräte an. Doch die meisten nehmen die Bedrohung schulterzuckend hin. «Wir sind daran gewöhnt», ist die häufigste Reaktion in Tel Aviv.
Allerdings fliegen viele internationale Fluggesellschaften Israel nicht mehr an. Gemeinden im Süden des Landes bereiten sich seit Freitag darauf vor, Tausende Flüchtlinge aus dem Norden in Zeltstädten unterzubringen. So fügt der Hizbullah Israel bereits begrenzten Schaden zu, ohne überhaupt eine Rakete abgefeuert zu haben. Ähnlich wie in Beirut herrschen auch hier Ungewissheit und Anspannung.
«Jeder nimmt das Risiko eines grossen Kriegs in Kauf»
Je mehr Zeit vergeht, desto unklarer wird allerdings, ob Iran tatsächlich immer noch einen direkten Angriff auf Israel ins Auge fasst. «Wir sehen, dass eine inneriranische Debatte um einen Gegenschlag entstanden ist, die es in den ersten Tagen nach der Haniya-Tötung nicht gab», sagt Danny Citrinowicz.
Vor allem Irans neu gewählter Präsident Masud Pezeshkian versuche den Sicherheitsapparat und Irans Revolutionsführer Ayatollah Ali Khamenei zur Zurückhaltung zu bewegen. Pezeshkians Argument sei, dass Haniya von einer in Teheran platzierten Bombe getötet wurde, sagt Citrinowicz. «Wenn Iran also nicht direkt von aussen angegriffen wurde, könnte es die Tötung zurückhaltender vergelten.»
Zudem sollen Teheran und der Hizbullah bereit sein, auf einen grossen Gegenschlag zu verzichten, falls in letzter Minute doch noch ein Waffenstillstandsabkommen im Gazastreifen erzielt würde. «Iran und der Hizbullah können Israel das eigentlich nicht durchgehen lassen», sagt Michael Young vom Carnegie Center in Beirut. «Doch falls die Israeli einem Waffenstillstand zustimmen würden, könnten die Iraner das als Ergebnis ihres Drucks und damit als Erfolg verkaufen.»
Gut unterrichtete Regierungskreise in Beirut bestätigen diese Einschätzung. Zudem hat Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu angekündigt, am 15. August eine Delegation nach Doha oder Kairo zu schicken. Ob die Verhandlungen aber von Erfolg gekrönt werden, steht in den Sternen – vor allem nachdem die Hamas ausgerechnet den Hardliner Yahya Sinwar zu ihrem neuen Chef gemacht hat.
Mit einem direkten Angriff des Regimes in Teheran sei deshalb weiterhin zu rechnen, meint der israelische Experte Danny Citrinowicz. «Die Drohungen Irans waren so schwerwiegend, inklusive vom Revolutionsführer Ayatollah Khamenei, dass Iran meiner Ansicht nach zurückschlagen muss.» Grundsätzlich wollten weiterhin weder Israel, Iran, noch der Hizbullah eine Eskalation, sagt Citrinowicz. «Doch jeder nimmt das Risiko eines grossen Kriegs in Kauf, um die gegenseitige Abschreckung wiederherzustellen.»

