Mittwoch, Oktober 9

Premieren sind der rote Faden in der Karriere des 21-jährigen Sprinters. In Paris wird er erster Olympiasieger Botswanas. Das ist auch der Grund, weshalb er vor der Athletissima in Lausanne das Training schwänzt.

«Erwartet bloss nichts von mir.» Das sagt Letsile Tebogo am Tag vor der Athletissima in Lausanne. Tebogo, 21 Jahre alt, wird am Donnerstagabend auf der Pontaise über 200 Meter starten. Doch trainiert hat der Sprinter aus Botswana dafür nicht.

Er schwänzt das Training nicht aus Faulheit. Seit dem 8. August steht seine Welt kopf. Der Grund dafür sind die Ereignisse im Stade de France. Tebogo erringt in Paris Olympiagold über 200 Meter, düpiert die Favoriten Kenneth Bednarek und Noah Lyles aus den USA – wobei Lyles wegen einer Corona-Infektion geschwächt ist. Tebogo gewinnt so überlegen, dass er schon auf den letzten Metern des Rennens zu jubeln beginnt.

Tebogo schreibt in Paris Sportgeschichte, nicht nur, weil er in 19,46 Sekunden afrikanischen Rekord läuft. Er ist der erste Olympiasieger seines Landes und der erste Afrikaner, der an Olympia über 100 oder 200 Meter triumphiert. Ausserdem gewinnt er die Silbermedaille mit der Staffel über 4×400-Meter. Plötzlich prasselt viel auf den jungen Mann ein. Beim Empfang in Botswanas Hauptstadt Gaberone säumen über 80 000 Menschen die Strassen, weitere 30 000 warten im Nationalstadion und bejubeln ihn.

Der Staatspräsident ordnet im Land einen halben freien Tag an. Er wartet am Flughafen auf Tebogo, legt auf dem Rollfeld ein Freudentänzchen hin. «Dass ich das für Botswana geschafft habe, kann ich kaum glauben», sagt Tebogo. Von der Regierung bekommt er zwei Häuser geschenkt. Die werde er vermieten, sagt Tebogo, er wohne lieber im Haus seiner Mutter. Das ist kein Zufall.

Die Mutter hat nur ihre Ruhe, wenn der Sohn endlich schläft

Tebogo wächst bei der Grossmutter auf, die Mutter ist alleinerziehend und arbeitet in einem 500 Kilometer entfernten Dorf. Die Mutter hat ihn gegenüber der BBC einst als «hyperaktives Kind» bezeichnet, ständig habe sie ihn beschäftigen müssen. Sie habe nur Ruhe gehabt, wenn ihr Sohn endlich einmal eingeschlafen sei.

Später begleitet sie Tebogo an Wettkämpfe und sorgt dafür, dass er den Schulabschluss erreicht. Das sei wichtig, sagt sie zum Sohn, falls es im Sport schiefgehen sollte. Die Mutter ist Tebogos engste Bezugsperson.

Doch knapp zwei Monate vor den Olympischen Spielen stirbt Seratiwa Tebogo nach kurzer Krankheit. Tebogo startet zwar wenig später an den Afrikameisterschaften über 100 Meter, bricht den Wettkampf aber nach dem Vorlauf ab. Er sagt: «Ich musste mich zuerst fangen und mich mit meinem Trainer neu fokussieren.» Sie entscheiden, sich auf die 200 Meter zu konzentrieren. In Paris erreicht er auch über 100 Meter den Final, läuft in 9,86 Sekunden Landesrekord, verpasst aber die Medaillen.

Die Leichtathletik ist bis vor fünf Jahren nur Tebogos Hobby

Seit dem Todesfall trägt Tebogo auf der Bahn Nagelschuhe mit dem Geburtsdatum der Mutter darauf. «Das motiviert mich, ich will sie bei mir haben. Ich weiss, dass sie mir zuschaut und sehr glücklich ist», sagt Tebogo.

Er erzählt seine Geschichte mit leiser Stimme, Tebogo wirkt fast scheu. Ein Ausnahmeerscheinung in der Sprintszene, in der viele Athleten für markige Sprüche und grosse Gesten bekannt sind. Das liegt vielleicht daran, dass es schnell gegangen ist mit seiner Karriere. Als Jugendlicher interessiert er sich mehr für Fussball als für Sprint; bis vor fünf Jahren sei die Leichtathletik ein Hobby gewesen, sagt er. Doch 2019 qualifiziert sich Tebogo erstmals für die Junioren-Weltmeisterschaften, darf nach Kenya reisen. Dort wird er U-20-Weltmeister über 100 Meter, gewinnt den Titel im Jahr danach erneut. «Ich habe realisiert, dass ich Grosses schaffen kann.»

Der Höhenflug setzt sich im vergangenen Jahr an den WM in Budapest fort. Es ist Tebogos erste ganze Saison in der Elite. Er erringt Silber über 100 Meter und Bronze über 200 Meter – er ist der erste WM-Medaillengewinner von Botswana. Premieren sind der rote Faden in Tebogos Laufbahn.

Folgt nun Afrikas Aufschwung im Sprint?

Er betont immer wieder, es sei an der Zeit, dass Afrika die Kontrolle im Sprint übernehme. Lange war die Aufteilung klar: Nordamerika und die Karibik dominieren den Sprint, afrikanische Läufer auf den Mittel- und Langstrecken.

Diese Zweiteilung ist mittlerweile aufgeweicht. Im Olympiafinal über 200 Meter stammt die Hälfte der Athleten aus Afrika, über 100 Meter verpasst der Südafrikaner Akani Simbine Bronze um eine Hundertstelsekunde. Die grosse Aufholjagd afrikanischer Sprinterinnen und Sprinter ist trotzdem ausgeblieben.

In den meisten Ländern fehlt die Tradition im Sprint. Und verglichen mit dem amerikanischen Universitätssystem, der wichtigsten Talentschmiede Nordamerikas, gibt es in Afrika vielerorts keine professionelle Infrastruktur. Die Suche nach Talenten ist schwierig, die Finanzen sind knapp.

Tebogo ist sich dessen bewusst, wenn er sagt: «Mein Olympiasieg bedeutet viel für unseren Kontinent.» Er hofft, dass sein Triumph eine Entwicklung anstösst. Er wolle die Menschen inspirieren und 2028 in Los Angeles Olympiagold über 100 Meter gewinnen. «Danach werde ich über die 400 Meter angreifen», sagt Tebogo. Er will die Erfolge Schritt für Schritt erreichen – das könnte auch für Afrikas Sprint zur Erfolgsformel werden.

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