Sonntag, Oktober 6

Der Bariton ist einer der grossen Charakterdarsteller auf der Bühne. Nun hat er ein bewusst intimes Konzertformat erfunden. Es führt zurück in die Zukunft.

Nach den ersten Takten haben plötzlich fast alle ein Lächeln im Gesicht. Mozarts «Zauberflöten»-Ouvertüre, gespielt auf Mozarts Clavichord: wie ulkig! Ist das ernst zu nehmen? Dieses dreifache Es-Dur-Pochen an die Tür der Loge tönt so zwergenhaft fein und leise, als würde man die Musik durch ein umgedrehtes Opernglas betrachten. Es gibt auch ein paar diszipliniertere Leute im Publikum, das sich hier zu später Stunde im Europasaal des Stefan-Zweig-Zentrums versammelt hat, hoch über den Dächern von Salzburg. Sie haben vielleicht davon gehört oder gelesen, dass nichts Lächerliches passieren wird in dieser Nacht. Vielmehr etwas Wunderbares. Schliesslich: Das neue Konzertformat des grossen Wiener Baritons Georg Nigl ist unter Musikfreunden längst Tagesgespräch.

Und sieh da, es funktioniert. Nicht lange, da schalten unsere Ohren um auf leise Töne. Es ist das, was Ohren sowieso am besten können. Schalleinwirkungen von aussen werden gefiltert, der Höreindruck innen passt sich der neuronalen Aktivierung an. Nach zwei, drei Minuten tritt das Knarzen der Mechanik in den Hintergrund, und wir hören das Unhörbare: den Gesang der Tangente, die Farben der Obertöne und Fugato-Botschaften aus fernen Welten.

Gesungen für Freunde

Georg Nigl kennt sich aus mit unerhörten Tönen: Er ist ein gesuchter Spezialist für Uraufführungen. Dabei singt er nicht nur zeitgenössische Musik, sondern auch Barockes und Romantisches, Oper und Lied, von Monteverdi über Bach bis Wagner und Mahler, in sagenhafter Vielseitigkeit. Aus seiner frühen Sängerknaben-Karriere hat er ein hohes Mass an Empathie bewahrt. Nigl ist eine Kämpfernatur. Schon seit längerem hadert er mit dem, was heutzutage «Liedrezital» heisst.

Die Säle sind dafür zu gross, das Publikum sitzt zu weit entfernt, der Steinway-Flügel ist zu stark. Wie kann der Sänger da das Forcieren oder gar Knödeln vermeiden? Wie Sinnzusammenhänge erfassen? Nicht umsonst gab Gerald Moore, der kongeniale «Begleiter» (so nannte man das damals) von Dietrich Fischer-Dieskau, seinem Erinnerungsbuch den sprichwörtlich gewordenen Titel «Bin ich zu laut?». Dass die Liederzyklen von Schubert, Schumann und Kollegen für den privaten Rahmen geschrieben wurden, gesungen für Freunde von Freunden, ist wahrhaftig keine Neuigkeit – nur ist diese Erkenntnis noch nicht in der Aufführungspraxis angekommen. «Das Lied ist falsch im grossen Konzertsaal», sagt Nigl, «Lieder sind Kompositionen für zu Hause!»

Oder eben für den schmucken, weissen Europasaal in Salzburg: Dort passen nur sechzig bis maximal achtzig Zuhörer hinein. Am liebsten, sagt Nigl, «würde ich jeden einzeln ansingen, dann kann ich auch flüstern». In Aufnahmen, mit Mikrofon ist das zumindest annäherungsweise möglich, in der Pop-Musik gibt es dafür sogar einen eigenen Namen, da nennt man das intime Herunter-Tunen der Stimme «Crooning». Nigl hat es in seinen beiden jüngsten Liederalben «Vanitas» und «Echo» schon erfolgreich ausprobiert. Seine Klavierpartnerin Olga Pashchenko spielte dabei auf einem feinen historischen Hammerflügel. Dann verliebte sich Nigl in Mozarts letztes Clavichord, das von der Stiftung Mozarteum behütet wird.

Inklusive Bodyguards

Die Saiten eines Clavichords werden von einer Tangente berührt, nicht von einem Dorn angerissen oder mit dem Hammer angeschlagen. Man kann darauf also, anders als bei Cembalo oder Klavier, echt Legato spielen. Über zwei Jahrhunderte hinweg war das Clavichord das «Instrument der Tonsetzer» gewesen. Sie alle, von Bach bis Beethoven, benutzten es zum Improvisieren, Komponieren und Ausprobieren von Ideen.

Bald darauf, im lärmenden Industriezeitalter, verstummte das Instrument. Es wurde zum Kuriosum, weithin vergessen. Nur ein paar Nerds interessierten sich noch dafür. Mozarteum-Direktor Linus Klumpner dagegen erklärt: An diesem schönen, leisen, gesanglichen Instrument habe Mozart nachweislich seine letzten Werke komponiert: «Die Zauberflöte», «La clemenza di Tito», das «Requiem». Es habe einen hohen ideellen Wert, aber keinen «nominellen», der versicherungstechnisch relevant sein könnte. Was bedeutet: Es ist schlicht unbezahlbar. Für eines der Nachtkonzerte hat Klumpner es an Nigl ausgeliehen. Inklusive Bodyguards.

Den dazu passenden Clavichordspieler fand Nigl an der Grazer Kunstuniversität. Dort lehrt Alexander Gergelyfi trotz seiner Jugend schon so seltsame Orchideenfächer wie «Historische Sprachformen» oder «Continuopraxis». Er selbst besitzt das älteste erhaltene Clavichord Österreichs. Klein, tragbar, nur 85 Zentimeter breit. Tönt hell. Hat nur vier Oktaven und wird allgemein «Admont»-Clavichord genannt, weil das Gemälde auf dem Deckel das Stift Admont im Steirischen zeigt. Gergelyfi indes hat ihm den Namen «Ursula» gegeben. Warum? Nun ja. Wieso sollten nur berühmte alte Geigen einen Namen haben dürfen?

In Nigls erster Nachtmusik spielt Gergelyfi auf «Ursula» ein «Capriccio» von Georg Friedrich Händel, das wie verrückt um sich selbst kreiselt und nicht enden kann. Anschliessend liest August Diehl, der zu den wenigen Schauspielern gehört, die noch ohne Mikro klar und sinnvoll sprechen können, aus «Der perfekte Schuss» von Mathias Énard. Ein Scharfschütze, stolz auf sein Handwerk, preist das Mechanisch-Schöne am Töten. Dieser Roman entstand 2003. Das mechanisch sich verselbständigende Musikstück hat Händel um 1720 geschrieben. So werden rund dreihundert Jahre in Sekunden übersprungen, ein Blick zurück in die Zukunft.

Exklusives Kleinod

Nigls Nachtmusiken sind also keineswegs nur simple «Lesungen mit Musik», bei denen Letztere die Funktion eines Gemütsschnullers erfüllt. Vielmehr werden Texte gesungen, und es wird in Musikreden gesprochen. Das schärft die Sinne. Aus Zuhörern werden Teilhaber. Die erste Nachtmusik ist eine «Bachiade», sie erzählt von der Liebe zum Leben, vom Töten und vom Krieg. Der Titel «Komm, süsser Tod» stammt aus einem der Schemelli-Lieder von Johann Sebastian Bach.

Die «Mozartiade», in der die «Zauberflöten-Ouvertüre» auf Mozarts Clavichord so zärtlich zirpte, befasst sich mit Leben und Sterben dieses Komponisten. Zeitzeugen werden zitiert, dumme und kluge. Das ist lustig und traurig zugleich. Einmal parodiert Nigl, in dreistem Wiener Dialekt, Kaiser Joseph II. Danach skandiert Diehl das «oh oh oh oh» aus dem Falco-Schlager, als sei er in der Rille hängengeblieben. In der «Schubertiade» schliesslich trifft der winterreisende Wanderer der Metternich-Zeit auf Emigranten aus Nazideutschland.

Atemraubend der Zusammenprall des «Mainacht»-Liedes mit Ernst Tollers offenem Brief an Goebbels. Schweres Wetterleuchten begleitet die letzten Worte, die Stefan Zweig niederschrieb, vor seinem Freitod in Brasilien. Auch wenn Nigl zurückkehren wird nach Salzburg mit seiner Nachtmusik-Combo und auch anderswo eingeladen wurde, in Bremen und in Luxemburg – dieses Kleinod wird exklusiv bleiben. Erstens, weil nur wenige hineinpassen in einen Raum mit Zimmerlautstärke. Und zweitens, weil mit Stille einfach kein Geschäft zu machen ist.

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