Lindsey Vonn fährt wieder Rennen, mit einer Teilprothese im rechten Knie und nach fast sechs Jahren Weltcup-Pause. Den Medien gab sie vor den Super-G in St. Moritz keine Auskunft, doch in den sozialen Netzwerken ging sie zum Gegenangriff über.
Als Lindsey Vonn Anfang Dezember ein paar FIS-Rennen fuhr, begegnete sie am Start einer früheren Teamkollegin, der 45-jährigen Sarah Schleper. Sie hätten über die Strecke gesprochen, erzählte Schleper später, und Vonn habe gesagt: «Es ist wie in den guten alten Zeiten!»
Die Skiwelt schaut gespannt zu, wie Vonn diese «guten alten Zeiten» wieder aufleben lässt. An diesem Wochenende kehrt die 40-Jährige in den beiden Super-G in St. Moritz in den Weltcup zurück – unfassbare 23 Jahre nach ihrem ersten Start hier und fast sechs Jahre nach ihrem letzten Weltcup-Rennen.
Dass Vonn nach dieser langen Pause und mit einer Teilprothese im rechten Kniegelenk nochmals Rennen fahren will, hat ebenso Spott und Kopfschütteln ausgelöst wie Respekt und Neugier. Warum tut sie das? Hat sie nach der Pause Defizite? Und: Kommt das gut?
In den vergangenen Wochen fragten Vonn viele nach dem «Warum». Den Medien in St. Moritz gab sie vor den Rennen keine Auskunft, doch in den sozialen Netzwerken äussert sie sich ausführlich. Seit dem Rücktritt habe sie sich weiterentwickelt und sich intensiv mit sich beschäftigt, um herauszufinden, wer sie sein wolle. «Ich bin nicht nur eine Skifahrerin. Ich bin eine starke Frau, die Skifahren liebt.» Nichts sei mit der Freude vergleichbar, mit 130 km/h Ski zu fahren. «Das mag für andere verrückt klingen, für mich scheint es normal.»
Nun lieben alle Speed-Fahrerinnen die Geschwindigkeit. Doch gerade ehemalige Skigrössen kritisieren Vonn harsch. Das geht von Kommentaren wie «So bescheuert kann sie nicht sein» bis hin zum Rat, sie solle einen Psychologen aufsuchen. So harsch, dass Vonn auf der Plattform X gegen die Schweizer Skilegenden Sonja Nef, Bernhard Russi und Pirmin Zurbriggen zum Gegenangriff überging. «Jetzt reicht es. Sind sie alle Ärzte geworden, und ich habe das verpasst?»
Die Kritik an Vonns Comeback zielt vor allem auf zwei Aspekte: Die Amerikanerin suche nur Aufmerksamkeit und solle es mit 40 Jahren auch einmal gut sein lassen. Und dass Abfahrtsrennen mit einem teilweise künstlichen Kniegelenk gefährlich seien.
Ohne die Knieschmerzen wäre sie vielleicht gar nie zurückgetreten
Es steht ausser Frage, dass Lindsey Vonn es liebt, sich zu inszenieren. In den sozialen Netzwerken zeigt sie die ganze Bandbreite ihres Lebens, vom roten Teppich bis zum Operationssaal, sie spricht offen über ihre Depressionen und setzt sich gegen Bodyshaming ein. Ihre Besessenheit, Grenzen zu verschieben und Geschichte zu schreiben, scheint die Menschen zu triggern, das kennen auch andere erfolgreiche Frauen.
Doch dieser Ehrgeiz hat sie damals zur besten Skirennfahrerin der Welt gemacht – und ist ungebrochen. Der SRF-Experte Stefan Abplanalp, einst ihr Trainer im US-Team, sagt: «Ohne ihre Knieprobleme hätte Lindsey wohl gar nie aufgehört. Man hätte sie mit einem Schraubenzieher von den Ski lösen müssen.»
Der Schmerz zwang Vonn Anfang 2019 zum Rückzug aus dem Skisport. Die Knieprobleme waren so gravierend, dass Vonn in den letzten Jahren ihrer ersten Karriere viele Trainings bereits nach dem Einfahren abbrechen musste. Seit sie im April 2024 einen Teil ihres Kniegelenks durch Titanium habe ersetzen lassen, fühle sie sich körperlich so gut wie seit Jahren nicht mehr, sagte sie. Kleine einbeinige Sprünge waren lange unmöglich, nun springt sie wieder 50 Zentimeter hoch. Und sie macht ein Dutzend Trainingsläufe pro Tag, ohne dass das Knie danach gereizt ist.
Plötzlich eröffneten sich Vonn neue Perspektiven, zumal sie körperlich in Topform ist. «Ihr biologisches Alter liegt deutlich unter 40», sagt Abplanalp, der heute die Amerikanerin Breezy Johnson trainiert und Vonn in den vergangenen Wochen beobachtet hat.
Das Alter an sich dürfte kein Hindernis sein. Johan Clarey hat mit 42 Olympiasilber in der Abfahrt gewonnen, auch Adrien Théaux fährt mit 40 noch. In den Speed-Disziplinen sind Schnellkraft und Schnelligkeit weniger entscheidend als im Slalom und im Riesenslalom. Zudem zählt die Erfahrung viel; Vonn hat mehr als 400 Rennen und 82 Siege auf Top-Level in den Beinen. Und ihr aussergewöhnliches Gefühl fürs Gleiten ist unvermindert gut.
Dennoch fehlen ihr nach fast sechs Jahren Pause einige Trainingseinheiten und Abfahrtskilometer. Abplanalp sagt, Vonn müsse wieder lernen, zu trainieren und Rennen zu fahren. Was bedeutet das? «Die Kräfte wirken bei 80 oder bei 140 km/h unterschiedlich. Beim Kurvenfahren müssen sich gewisse Bewegungsabläufe automatisieren. Wenn du wie Lindsey ein Leben lang die Beste in diesen Disziplinen warst, kommt das sehr schnell wieder, du verlernst das nicht.» Doch sie muss es auch umsetzen können, wenn sie am Limit fährt, und das Gleichgewicht dort halten können.
Abplanalp war beeindruckt von Vonns technischem Niveau in Beaver Creek. Dort war Vonn noch nicht für den Weltcup qualifiziert, sie startete als Vorfahrerin – und wäre bei einer Teilnahme an der Abfahrt wohl in die Top Ten gefahren. Was bedeutet das für das Niveau in dieser Disziplin bei den Frauen? Die ehemalige Weltklasse-Fahrerin Tina Weirather winkt ab: «Die Leute begreifen nicht, was für eine Ausnahmeerscheinung Lindsey ist.»
She’s baaackkk 😏
From her 2011 super-G win to forerunning the historic women’s Birds of Prey downhill, it only feels right that @lindseyvonn’s comeback starts here.
She’ll do it again for tomorrow’s super-G 🤘#stifelusskiteam pic.twitter.com/aKZhRAAH0I
— U.S. Ski & Snowboard Team (@usskiteam) December 14, 2024
Ihr Ex-Trainer Stefan Abplanalp sagt: «Sie kann ihren Ehrgeiz heute besser kanalisieren»
Bleibt die Frage nach dem Risiko, das viele Fahrerinnen und Fahrer in fortgeschrittenem Alter nicht mehr auf sich nehmen wollen. Vonn ist anders, sie bewegte sich während ihrer Karriere nicht einfach am Limit, sondern immer wieder darüber.
Patrick Riml, ebenfalls ein ehemaliger Trainer von ihr und heute bei Vonns Sponsor Red Bull Alpinchef, sagte kürzlich der «Tiroler Tageszeitung»: «Sie hat ihrem Körper nichts geschenkt. Wenn ich daran denke, wie sie in manchen Passagen Kopf und Kragen, manchmal auch unnötigerweise, riskiert hat . . . Aber das ist Lindsey. Natürlich ist das eine permanente Gratwanderung.»
Es wird spannend sein zu sehen, ob ihr Alter etwas an ihrer Einstellung geändert hat. Abplanalp sagt: «Ich habe das Gefühl, sie kann ihren ausgeprägten Ehrgeiz heute besser kanalisieren, sie ist auch als Mensch gereift.» Vonn möchte das Risiko gar nicht relativieren: «Natürlich kann ich stürzen, aber so ist das Leben.»
Dieser Fatalismus hat auch mit ihrer Geschichte zu tun. Vonns Mutter erlitt einen Schlaganfall, während sie Lindsey zur Welt brachte, und kämpfte mit dessen Folgen. «Ich hatte ihretwegen immer eine andere Perspektive auf das Leben», sagte Vonn der «New York Times». Vor zwei Jahren starb die Mutter an ALS, einer Erkrankung des Nervensystems. Zwischen der Diagnose und dem Tod lag nur ein Jahr. «Ich fühle mich mir und ihr gegenüber verantwortlich, jeden Tag mein Potenzial auszuschöpfen und nie etwas zu bereuen.»
Als sie nach der Knieoperation im Sommer plötzlich schmerzfrei war, spürte Vonn: Versuche ich es nicht, werde ich es bereuen.
Niemand weiss, was die Belastungen von Weltcup-Abfahrten mit einem Knie mit Teilprothese machen. Niemand hat es je versucht. Vonn schreibt: «Nennt mich naiv, aber ich glaube an das Unmögliche. Weil es nur unmöglich ist, bis es jemand tut.»
“I’m not questioning my ability.”
Lindsey Vonn feels that she can still compete with the world’s best after coming out of retirement. pic.twitter.com/dV7x0xFiyP
— NBC Olympics & Paralympics (@NBCOlympics) December 18, 2024