Mittwoch, Oktober 9

Anushree Fadnavis / Reuters

Schon Julius Cäsar wusste: Von allen Stämmen Galliens sind die Belgier die tapfersten. Das müssen sie auch sein bei 200 Regentagen im Jahr, einer masslosen Steuerlast und dem öffentlichen Dienst im Dauerstreik. Warum es sich trotzdem gut in ihrem Land leben lässt.

Belgien ist ein sonderbares Land. Vielleicht das sonderbarste Europas. In wenigen Wochen könnte es einen Ministerpräsidenten bekommen, der sich nichts sehnlicher wünscht, als dieses Land von der Karte zu tilgen.

«Laat België maar rustig verdampen», sagte Bart De Wever vor einigen Jahren, was so viel heisst wie: Lasst Belgien in aller Ruhe verdampfen! Der Bürgermeister von Antwerpen wurde im Juni vom belgischen König Philippe beauftragt, eine Regierung zu bilden. Gut möglich, dass der Auflösungsprozess des ungeliebten Bundesstaates damit voranschreitet.

Mittlerweile spricht De Wever zwar nicht mehr offen von der Unabhängigkeit Flanderns, sondern von einer Konföderation zwischen Flamen und Wallonen. Aber das dürfte letztlich auf dasselbe hinauslaufen.

Der Himmel so grau

Persönlich fände ich es bedauerlich, wenn sich Belgien in seine Einzelteile auflösen würde. Das kleine, bisweilen schrullige, oft missverstandene Königreich zwischen Nordsee und Ardennen war in den letzten fünf Jahren meine Heimat, und ich habe gelernt, es zu schätzen.

Gut, in keinem OECD-Staat ist die Abgabenlast für Arbeitnehmer höher. In keinem Land Europas wird so viel gestreikt, gehen Lokführer, Ärzte und sogar Gefängniswärter häufiger auf die Strasse. Das Wetter? Mit 200 Regentagen im Jahr gewöhnungsbedürftig. Der Himmel? Fast immer grau. So grau, dass man ihm verzeihen muss, wie Jacques Brel, der bekannteste Chansonnier des Landes, in «Le plat pays» singt.

Und dennoch hat Belgien etwas, worum man diesen Landstrich als Deutscher nur beneiden kann: einen Menschenschlag, so entspannt und freundlich, wie man ihn sonst kaum in Europa findet.

Vorweg sei an dieser Stelle festgehalten, dass viele Belgier die Existenz ihres Landes ja für einen Witz halten. «Sire, il n’y a pas de Belges», schrieb der Schriftsteller Jules Destrée schon vor mehr als hundert Jahren in einem Brief an den König. Es gebe keine Belgier. Es gebe nur Flamen und Wallonen. Bart De Wever und viele andere würden ihm nicht widersprechen.

Allerdings würde es den allermeisten niederländischsprachigen Flamen, französischsprachigen Wallonen sowie der kleinen Minderheit der Deutschsprachigen im Land noch weniger behagen, Niederländer (zu direkt!), Franzosen (zu selbstverliebt!) oder Deutsche (zu laut!) zu sein. Also ist man eben Belgier. Aber das ohne Leidenschaft.

Belgische Fahnen sind etwas für Touristen. Es sei denn, die belgische Nationalmannschaft, die «Roten Teufel», gewinnen beim Fussball. Belgiens Nationalhymne, die Brabançonne, existiert zwar in drei Sprachen. Aber über die erste Zeile kommt niemand hinaus. Als der ehemalige Ministerpräsident Yves Leterme einmal gebeten wurde, die Hymne vorzutragen, stimmte der Mann die französische Marseillaise an.

«Belgitude» statt Nationalismus

Vielleicht ist es der Mangel an Nationalstolz, der den Belgiern Raum für eine selbstironische Betrachtung der eigenen Identität gelassen hat. Manche nennen diese Geisteshaltung «Belgitude». Man spottet und leidet an den nationalen Widersprüchen, kokettiert aber auch mit ihnen. So wie Christian, unser Vermieter. Als wir ihn kennenlernten, sagte er, dass Belgien ein verrücktes Land sei, aber irgendwie trotzdem funktioniere.

Fast 500 Tage brauchten die Parteien nach der Wahl 2019, um eine Regierung zu bilden, aber die Parlamente arbeiteten unbeirrt weiter und machten Gesetze. Das öffentliche Leben brach auch nicht zusammen.

Überhaupt sind belgische Verwaltungsangestellte überraschend professionell und hilfsbereit. Einmal stand eine Beamtin vor unserer Tür und wollte den neuen Pass für einen Nachbarn bei uns abgeben. Was, wenn der Nachbar das Dokument brauche, so kurz vor den Weihnachtsferien, sorgte sie sich.

Belgier ertragen Schlangen vor der Supermarktkasse gelassener als Deutsche und nehmen gerne ein Schwätzchen in Kauf. Wer drängelt, wird verachtet. Auch Streiks werden geduldig ertragen. Dazu passt, dass für die Anzeigetafeln im öffentlichen Nahverkehr ein surrealistischer Geist den Hinweis «theoretische Zeit» erfunden hat. Soll heissen: In theoretisch 10 Minuten kommt das nächste Tram. Das hat therapeutische Qualität.

Während der Pandemie war ich besonders froh, in Belgien zu leben. Wir bekamen damals besorgte Anrufe von Freunden und Verwandten. Was denn da in Belgien los sei, wollten sie wissen, als sie in den Nachrichten hörten, dass angeblich nirgendwo sonst so viele Menschen, proportional zur Einwohnerzahl, dem Virus zum Opfer gefallen seien.

In Wahrheit hatte das Königreich deutlich mehr getestet als andere Länder. Es hatte bei den Todeszahlen von Anfang an auch Verdachtsfälle mitgezählt. Und letztlich bewies Belgien mehr Weitsicht im Umgang mit der Pandemie als etwa Deutschland oder Frankreich. Schulen und Kitas wurden schneller wieder geöffnet, weil sich früher die Erkenntnis durchsetzte, dass Kinder und Jugendliche keineswegs die grössten Treiber waren, wie anderswo behauptet wurde.

Regeln nur für die anderen

Mit den Corona-Regeln, etwa bei den Kontaktbeschränkungen, nahmen es viele Belgier nicht so genau. Unsere Nachbarn spielten Pétanque auf dem Sand der Strasse, die gerade neu verlegt wurde. Man brachte Wein und Gebäck mit, und am Ende der Strasse stand jemand Schmiere. Erlaubt war es in dieser Zeit, sich mit maximal einer Person, die nicht zum engsten Kreis der Familie gehörte, zu treffen, dem sogenannten «Knuffelkontakt».

Nur der ungarische Europaabgeordnete Jozsef Szajer trieb es damals zu weit. Er hatte sich auf einer schwulen Sexparty erwischen lassen und war bei dem Versuch, über eine Regenrinne aus der Wohnung zu fliehen, von der Polizei verhaftet worden. Im humorverliebten Brüssel ist der Tatort heute eine Sehenswürdigkeit.

Belgier haben ein misstrauisches, fast südeuropäisches Verhältnis zur Obrigkeit. Im Zweifel, so erklärte es mir der Virologe Marc van Ranst, seien Regeln in dem katholischen Land dafür da, umgangen zu werden. Oder um sich wenigstens über sie lustig zu machen.

Flamen wie Wallonen sind zum Anarchismus neigende Individualisten – was sie jedes Mal eindrucksvoll unter Beweis stellen, wenn sie sich den Traum vom Eigenheim erfüllen. Ein Bonmot lautet, dass jeder Belgier mit einem Backstein im Magen geboren wird. Dabei korreliert die Lust zum Hausbau nicht notwendigerweise mit architektonischer oder ästhetischer Sorgfalt.

Der belgische Vlogger Hannes Coudenys hat Tausende von hässlichen Häusern in seiner Heimat fotografiert und ein Internetphänomen daraus gemacht. Seine Bildersammlungen von Pyramiden aus rotem Backstein oder Vorstadtfestungen mit Türmchen und Zinnen wurden unter dem Namen «Ugly Belgian Houses» zum Kult.

Die Hausbesitzer, sagt Coudenys, seien keineswegs immer beleidigt, sondern fühlten sich oft sogar geehrt, wenn ihr Gebäude in die Serie aufgenommen werde. Auch das ist Belgitude.

Genervte Flamen

Aber Vorsicht: Ist die Belgitude wirklich ein gesamtbelgisches Phänomen? Dominiert wurde das Land nach seiner Unabhängigkeit 1830 lange Zeit von frankofonen Eliten, die das Niederländische für eine Sprache der Bauern und Dienstmädchen hielten. Noch im Ersten Weltkrieg nahmen flämische Soldaten Befehle nur auf Französisch entgegen.

Trotz allen Sprachreformen können sich viele Flamen deswegen bis heute weniger mit Belgien identifizieren als ihre wallonischen Brüder und Schwestern. Und genervt sind die Flamen auch, dass der typische Expat in ihrem Land vielleicht französisch spricht, aber sich selten die Mühe macht, Niederländisch zu lernen – obwohl das immerhin die Muttersprache von 60 Prozent der Bevölkerung ist.

Es ist aber nicht nur der Sprachenstreit, es ist auch die ungleiche wirtschaftliche und politische Entwicklung, die die Landesteile auseinanderdividiert. Als Faustregel gilt, dass der frankofone Süden und das mehrsprachige Brüssel eher links und der flämische Norden eher rechts wählt. Einen «sanften» Rechtsruck gab es im Juni allerdings auch in der Wallonie, wo die Liberalen erstmals die Sozialisten einholten.

Ökonomisch hat der merkantile Norden den Süden seit dem Niedergang der wallonischen Schwerindustrie schon vor Jahrzehnten eingeholt. In Flandern ist man nicht amüsiert über die finanziellen Transfers von Nord nach Süd, die in diesem Jahr mit 1259 Euro pro Bürger Rekordniveau erreicht haben.

Klammern sich deswegen vor allem die Frankofonen an das gemeinsam Belgische, an die klischeehafte Folklore von Pommes und Waffeln, Manneken Pis und Atomium, wie böse Zungen behaupten?

Als ausländischer Beobachter, der gut reden hat, gebe ich zu, eine sentimentale Schwäche für Belgien in seiner heutigen, unvollkommenen Fassung zu haben. Der belgische Föderalismus ist ein faszinierendes Labyrinth der Macht und der Zuständigkeiten. Aber klar, er verschlingt zu viel Geld und hat den Konflikt zwischen den Sprachgruppen nicht wirklich befriedet.

Die Klischees stimmen

Belgien ist ein Staat aus zwei Hauptvölkern, die sich arrangieren mussten. Der Autor Wolfgang Boller hat den Belgiern deswegen sehr wohlwollend das Etikett «gelernte Europäer» verliehen. Die Wahl Brüssels als Sitz der wichtigsten EU-Institutionen war immer naheliegend.

Aber das Land hat Schattenseiten. Eine grausame, spät aufgearbeitete Kolonialgeschichte. Eine verfehlte Integrationspolitik und überforderte Polizeiapparate, die den Terror von 2016 nicht kommen sahen. Belgien ist durch Jahrzehntelange Einwanderung aus Europa, Afrika, Arabien noch ein Stück komplizierter, aber eben auch kein «failed state» geworden. Auch in anderen EU-Staaten versagten die Dienste; und das muslimische Molenbeek ist weit weniger ein Brennpunkt als manche französische Banlieues oder Teile von London.

Einst bezeichnete der römische Feldherr Julius Cäsar die antiken «Belgae» als den tapfersten aller gallischen Stämme. Daran hat sich 2000 Jahre später nichts geändert. Auf schlechtes Wetter und schlechte Politik reagieren die Menschen hier tapfer mit Humor und Genusssucht.

Womit wir bei den Klischees über Belgien wären – die im Grunde alle zutreffen. Belgische Schokolade ist tatsächlich die beste der Welt (pardon, liebe Schweiz!), das beste Bier der Welt ist ganz sicher ein belgisches (Westvleteren 12, von Trappisten gebraut), und die Comic-Kultur des Landes ist einzigartig (sogar im belgischen Reisepass zu finden).

Die Schönheit einiger Regionen, die man nur abseits der beleuchteten Autobahnen entdecken kann, ist spektakulär (die Kathedralen von Gent und Mechelen, die Jardins d’Annevoie bei Namur). Natürlich wäre sie auch dann noch an Ort und Stelle, wenn sich das Gesamtkunstwerk Belgien eines Tages verflüchtigt. Nur wäre dann Europa um ein sympathisches Land in seiner Mitte ärmer.

Von Brüssel nach Paris

pra. Mit diesem Artikel verabschiedet sich unser Korrespondent Daniel Steinvorth von Brüssel. Er hat dort seit 2019 für die NZZ über das politische Geschehen in der EU sowie in Belgien und den Niederlanden berichtet. Ab diesem Sommer wird DSt. von Paris aus über Politik und Wirtschaft Frankreichs berichten. In Brüssel wird er ersetzt durch Antonio Fumagalli, der bisher aus Lausanne über die Westschweiz berichtet hatte.

Exit mobile version