Donnerstag, Dezember 26

Das bevölkerungsreichste Land Afrikas durchlebt eine schwere humanitäre Krise. Im armen Norden des Landes gehen Millionen von Menschen mit knurrendem Magen ins Bett.

Kingsley Nzams war vierzig Jahre lang Polizist. Ab den 1970er Jahren arbeitete er mal im Zentrum Nigerias, mal hoch im Norden. Er habe eng verfolgen können, wie sich sein Heimatland entwickle, wie es den Menschen gehe. «Es gab immer wieder Krisen im Land», sagt der 69-Jährige, der seit einigen Jahren pensioniert ist, «aber meistens war ein gutes Leben möglich. Jetzt ist das anders. So schlimm war es noch nie.»

Nzams, ein Mann mit müdem Blick und schmalem Schnauz, ist nach seiner Pensionierung nach Yola zurückgekehrt, in seine Heimatstadt im Nordwesten Nigerias. Rund eine halbe Million Menschen leben in dem staubigen Ort, der vielerorts wie ein riesiges Dorf anmutet. Auf den oft ungeteerten Strassen trifft man Hühner und Ziegen, manchmal auch ganze Kuhherden.

Für viele Bewohner der Stadt haben sich die Lebensbedingungen seit Jahren kontinuierlich verschlechtert. In den vergangenen Monaten indes hat sich die Lage nochmals zugespitzt, in vielen Familien breitet sich der Hunger aus. «Es ist schwer geworden, genug Essen auf den Tisch zu bekommen», sagt Nzams unter dem schattenspendenden Dach eines Quartierladens. Seine Rente – umgerechnet knapp 30 Franken im Monat – reiche nur noch für eine Mahlzeit pro Tag. Nur die Enkelkinder, die in seinem Haus in einem Aussenquartier Yolas wohnen, bekämen nebst dem Abendessen auch ein Frühstück.

Bald schon mehr als 20 Millionen Nigerianer von Hunger bedroht

So wie dem einstigen Polizisten geht es vielen in Nigeria, dem afrikanischen Riesen mit rund 220 Millionen Einwohnern. Laut dem Welternährungsprogramm der Uno (WFP) sind derzeit rund 18 Millionen Menschen im Land von Unterernährung betroffen. Diese Zahl könnte sich bis Mitte dieses Jahres auf mehr als 26 Millionen erhöhen.

Der Norden Nigerias, der in der trockenen Sahelzone liegt und von kargen Steppen geprägt wird, ist von der Ausbreitung des Hungers besonders stark betroffen. Alleine in den Gliedstaaten Borno, Yobe und Adamawa mit der Hauptstadt Yola haben bereits heute 4,4 Millionen Menschen zu wenig zu essen. In Yola und seiner unmittelbaren Umgebung kämpfen laut der Uno derzeit über 100 000 Menschen mit Nahrungsmittelengpässen. In den kommenden Monaten werden Zehntausende Hungernde dazukommen.

In Nigerias Nordosten breitet sich der Hunger stark aus

Mehrere, sich zum Teil gegenseitig verstärkende Faktoren haben zur derzeitigen Krise beigetragen. Dazu gehört zum einen die Sicherheitslage. Seit Jahren wütet im Nordosten Nigerias die islamistische Terrormiliz Boko Haram. Trotz den Bemühungen der nigerianischen Armee greift sie weiterhin Dörfer an und kontrolliert bestimmte Gebiete. Das hat insgesamt rund 2,2 Millionen Menschen – zumeist Bauernfamilien – in die Flucht getrieben. Viele von ihnen harren seit Jahren in improvisierten Unterkünften an den Rändern der nächstgelegenen Stadt aus; allein in Yola sind es mehrere tausend.

Zudem leidet die Region besonders stark unter den jüngsten Preisanstiegen von Grundnahrungsmitteln. Diese haben sich in Nigeria im vergangenen Jahr um rund 30 Prozent verteuert. Grund dafür ist zum einen der Ukraine-Krieg, der die Preise für Dünger stark hat ansteigen lassen. Zum andern hat die Streichung von Treibstoffsubventionen, die Nigerias neue Regierung im Sommer 2023 veranlasste, die Transportkosten deutlich erhöht.

Die höheren Preise machen die tägliche Grundversorgung für viele Bewohnerinnen und Bewohner Nordnigerias zu einer existenziellen Herausforderung. Rund 70 Prozent der Menschen leben hier unter der Armutsgrenze; schon vor dem jüngsten Preisanstieg gab die Bevölkerung im Schnitt knapp zwei Drittel ihres Einkommens für Lebensmittel aus.

Hinzu kommt, dass die Region immer stärker vom Klimawandel betroffen ist, etwa durch die zunehmende Verwüstung von Weideland und Ackerflächen. In der Nähe von Yola kam es zudem im vergangenen Oktober zu grossflächigen Überschwemmungen, die die Ernten von Tausenden Familien zerstörten.

Die Leute beginnen, Maismehl mit Streu zu strecken

Auf dem Zentralmarkt in Yola ist von der Krise wenig zu sehen – zumindest auf den ersten Blick. Die kleinen, eng zusammenstehenden Holzstände sind voll, Tomaten stapeln sich neben Zwiebeln und Yamswurzeln, beim Eingang werden pralle Reissäcke von einem Camion geladen.

Doch Hunger ist selten ein Problem des Angebots, Hunger ist ein Verteilungsproblem. Auch in Yola ist das so, wie im Gespräch mit Marktleuten rasch klar wird.

Ein älterer Verkäufer, der hinter mit Hirse, Erdnüssen und Bohnen gefüllten Säcken sitzt, beschreibt die Lage so: «Hier geht nichts mehr!» Die Preise für seine Waren hätten sich innert weniger Monate teilweise fast verdoppelt, sagt der Mann in der Lokalsprache Hausa. «Die Leute können sich das nicht mehr leisten, sie kaufen nur noch wenig – oder kommen gar nicht mehr.»

Andere Marktfahrer äussern sich ähnlich. Die Stimmung sei gedrückt, sagen viele, in den letzten Wochen sei hier weit weniger los als üblich. Eine Frau, die in einem Plastikzuber getrockneten Mais anbietet, sagt, manche ihrer Kundinnen hätten damit begonnen, den Mais beim Mahlen mit Tierfutter zu strecken, zum Beispiel mit Streu. «Die Leute leiden, und die Preise steigen immer weiter», sagt sie leise, «viele wissen nicht, wie es weitergehen soll.»

Viele warten vergebens auf Unterstützung

Dass sich die Situation bald merklich verbessern wird, glauben in Yola nur wenige. Zwar ist im Moment Erntezeit, was zumindest jenen, die im Garten oder ausserhalb der Stadt etwas anbauen können, ein wenig Linderung verschafft. Die Preise für Grundnahrungsmittel aber sind seit Jahresbeginn weiter angestiegen.

Auch der einstige Polizist Nzams glaubt nicht an eine baldige Besserung. «Die Politik hat keine Antworten auf diese Krise», sagt er, schüttelt den Kopf und zeigt dann mit dem Finger nach oben: «Wir können nur beten – und bitte beten auch Sie für uns.» Dann fügt er lakonisch an: «Wenn es nach mir ginge, sollte das Militär die Macht übernehmen.»

Nzams ist längst nicht der Einzige, der die Regierung in der Hauptstadt Abuja für das Malaise verantwortlich macht. Was dabei indes oft vergessengeht: Nigerias Staatshaushalt ist während der Pandemie weitgehend aus dem Lot geraten, die Handlungsfähigkeit der Regierung ist massiv eingeschränkt. Das Land ist inzwischen so stark verschuldet, dass es für die Bedienung seiner Schulden mehr als sechs Mal so viel ausgibt wie etwa für Bildung oder Gesundheit.

Hinzu kommt, dass zuletzt auch die internationale Unterstützung für die Notleidenden in Nordnigeria weit hinter dem Bedarf zurückblieb. Das von der Uno errechnete Budget für die humanitäre Hilfe im Land konnte 2023 nur zu 41 Prozent gedeckt werden. Die Folge: Viele Menschen in Not warten hier vergebens auf Unterstützung. Ihre Verzweiflung wird immer grösser.

Mitarbeit: Yakubu Dakléshelleng Musa

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