Donnerstag, September 19

Ihr Gesicht prägte die sechziger Jahre wie kein anderes. Nun wird Twiggy Lawson 75. Die Bilder von ihr – und ein bestimmtes Video – sind noch immer allgegenwärtig.

Es gibt ein Video von Twiggy, das taucht immer wieder in den sozialen Netzwerken auf. Sie trägt darin die blonde Kurzhaarfrisur, die sie zum Stilvorbild einer Generation machte. Ihre Augen sind schwarz dekoriert, und sie steckt in einer eng anliegenden Jacke mit hohem Kragen. Doch für einmal geht es nicht um den Look des Models. Stattdessen geht es um Woody Allen. Der junge Regisseur steht mit einem Mikrofon vor der damals 17-Jährigen und fragt sie aus. «Was sind Ihre Ansichten zu ernsten Angelegenheiten?», sagt er, und man vermutet, dass er darauf keine ernsthafte Antwort erwartet.

Und was macht Twiggy? Sie zieht ihre Augenbrauen zusammen und fragt in ihrem breiten Londoner Dialekt, was er denn meine. «Wer ist dein liebster Philosoph?» fragt Allen. Sie habe keinen, entgegnet das Model, ihre Zunge wie bei einem in Verlegenheit geratenen Kleinkind kurz aus dem Mund gestreckt, «wer ist deiner?». Als Allen keinen einzigen Namen nennen kann, stellt sich die Dynamik des Gesprächs plötzlich auf den Kopf: «Wer?», fragt das Model, immer wieder, immer verschmitzter. Allen stottert. Twiggy lacht.

Ein süsses Gesicht in einer grausamen Welt

In den Kommentaren zum Video wird das Model häufig zu so etwas wie einer feministischen Ikone hochstilisiert. Das mag etwas überhöht sein und nicht wenig mit der Person Woody Allen zu tun haben, die umstritten ist. Doch Twiggys kecke Art und ihre spontane Reaktion auf die Offensichtlichkeit von Allens Herablassung treffen heute, da Twiggy 75 Jahre alt ist und nicht mehr 17, noch immer einen Nerv. Das Video ist gleichzeitig zeitgenössisch und zeitlos. So, wie es die Bilder des Models aus den sechziger Jahren sind.

Die Karriere von Lesley Hornby, geboren 1949 im Nordwesten Londons, begann mit einer beinahe universellen Erfahrung: Sie konnte beim Coiffeur nicht Nein sagen. Also schnitt der berühmte Leonard of Mayfair in seinem Salon ihre Haare zu einem seiner präzisen Bubiköpfe und liess sie von einem Freund fotografieren. «Wir brauchen süsse Gesichter in dieser grausamen Welt», dachte Deirdre McSharry, die Moderedaktorin der nationalen Zeitung «Daily Express» laut eigenen Angaben, als sie die Bilder des 15-jährigen Mädchens sah. Bald erkor ebendiese Zeitung Twiggy, so ihr Spitzname, zum Gesicht des Jahres 1966. Ihr Look würde «Tausende von Kleidern, eine Begeisterung für Sommersprossen, Dutzende von Perücken und einen Ausverkauf von Kajalstiften nach sich ziehen», prophezeite sie.

Twiggy, die Marke

Die Zeitung würde recht behalten. Obwohl: Twiggy war mit ihren 168 Zentimetern klein für ein Model. Sie stammte aus der Arbeiterklasse – «grammar school» statt «finishing school», erklärte sie einmal stolz –, und man hörte es ihr an. Ihre dürre Statur war der Grund für den Übernamen, den sie schon als Kind verpasst bekommen hatte. Doch all das fügte sich zu einer Figur zusammen, die auf Bildern Freiheit, Leichtigkeit und Modernität schrie und die Mode nicht allzu ernst nahm.

Das perfekte Gesicht für das neue Lebensgefühl der sechziger Jahre also, und erst noch kam es aus London, dem Epizentrum des Youthquake. Teenager waren plötzlich zu einer eigenen Kategorie geworden, an die man verkaufen konnte, und die junge (und noch jünger wirkende) Twiggy war eine von ihnen. Sie modelte für die Designerin Mary Quant mit ihren immer kürzer werdenden Miniröcken – das Modesymbol schlechthin für die neue, von der Pille vereinfachte sexuelle Freiheit der Frauen – und ging samstags in der Londoner Boutique Biba shoppen.

Die geraden Schnitte der Zeit, seien es Kleider in A-Linie oder Yves Saint Laurents «Le Smoking», bevorzugten Körper wie ihren statt die zuvor gefragten Kurven einer Marilyn Monroe. Twiggy posierte für Richard Avedon, Bert Stern, Cecil Beaton und Helmut Newton und damit für die wichtigsten internationalen Fotografen ihrer Zeit. Gleichzeitig wurde sie selbst zu einer Marke: Es gab Twiggy-Kleider, Twiggy-Puppen und einen Twiggy-Eyeliner namens «Twiggy Stix».

So posh!

Doch wie so oft in der Mode wurde ein einstiger Befreiungsschlag bald als Diktat verstanden. Twiggy sagte später, sie sei für die wachsende Anzahl von magersüchtigen Mädchen verantwortlich gemacht worden. Und ohnehin, sie habe sich das Modeln nicht ausgesucht, es sei einfach passiert. Nach nur vier Jahren vor den Kameras von Modefotografen konzentrierte sie sich auf das Schauspielern und Singen.

Sie gewann für ihre Rolle im Film «The Boy Friend» (1971) zwei Golden-Globe-Auszeichnungen und arbeitete als Musical-Darstellerin. Das stiess nie auf dasselbe öffentliche Interesse wie ihre Rolle als das Gesicht der Swinging Sixties. Sie habe sich damit abgefunden, sagte Twiggy einmal in einem Interview, obwohl ihre Zeit am Broadway sie mit mehr Stolz erfülle als ihre Modelkarriere.

Dennoch bleibt Twiggy bis heute ein Faszinosum – und eine gekonnte, weil sympathische Selbstvermarkterin. Sie hat einen Podcast und engagiert sich auf Instagram für Schildkröten. Wenn sie in Talkshows als «Dame Twiggy» vorgestellt wird, denn Queen Elizabeth II. ernannte sie 2019 zu einer solchen, sagt sie mit einem Lachen: «So posh!» 2023 erzählte ein Musical in London ihre Lebensgeschichte, basierend auf ihrer Autobiografie. Der «Guardian» gab der Produktion lediglich zwei von fünf Sternen: Sie habe unter anderem das wahre Phänomen Twiggy nicht ausreichend einfangen können.

Es wird nicht der letzte Versuch bleiben. Am London Film Festival in diesem Oktober feiert ein neuer Dokumentarfilm der britischen Regisseurin Sadie Frost seine Premiere. Er heisst schlicht «Twiggy». In Grossbuchstaben, versteht sich.

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