Donnerstag, Januar 9

Vor sechzig Jahren brachte Plastik Philosophen zum Träumen. Der Werkstoff, der die Welt heute transformiert, lässt sich nicht mehr anfassen: Daten. Obwohl KI-generierte Daten schon jetzt die digitale Welt verstopfen.

Im 20. Jahrhundert eroberte ein Material die Welt, das den Stoff für Utopien lieferte: Plastik. Der Werkstoff galt als Inbegriff des Fortschritts. Musste man vorher Dinge aus Materialien wie Holz, Leder oder Glas herstellen – Materialien, die häufig knapp und teuer waren –, gab es nun eine Substanz, die sich beliebig reproduzieren liess.

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Kunststoff war leicht, billig und schnell verfügbar. Das brachte postmoderne Denker zum Träumen. Sie stellten sich eine Welt des Überflusses vor, in der man Möbel, Häuser und Raumschiffe aus synthetischen Stoffen herstellt. Roland Barthes hob in seinen «Mythen des Alltags» zu einer Hymne auf die «magische Materie» an: «So ist Plastik nicht nur eine Substanz, es ist die Idee ihrer unendlichen Transformation.»

Heute ist die Begeisterung der Ernüchterung gewichen. Die Plastifizierung der Welt ist keine Verheissung mehr: Futuristische Möbel im Space-Age-Design sind out, aber Kunststoffabfälle verursachen gigantische Müllberge, und die PET-Flaschen verfangen sich auch dann im pazifischen Müllstrudel, wenn EU-Bürokraten in Brüssel einen «Lass-mich-dran-Deckel» verordnen. Mittlerweile gilt eine Welt ohne Plastik als Utopie.

Der Stoff, der alles kann

Der Werkstoff, der die Welt heute transformiert, lässt sich nicht mehr anfassen: Daten. Wie vor sechzig Jahren sind die Visionäre von der Idee beseelt, dass sich die Welt neu formen oder formatieren lässt. «Software frisst die Welt», lautet ein Diktum des Investors Marc Andreessen. Autos, Musik, Finanzdienstleistungen – einst analoge Gegenstände und Prozesse werden zu Computerprogrammen.

Daten sind der digitale Kunst-Stoff, mit dem man fast alles schaffen kann, was man sich vorstellt. Der digitale Rohstoff ist flexibel und scheinbar endlos verfügbar, er lässt sich in Sekundenschnelle über Glasfaserleitungen transportieren und treibt eine Maschinerie an, die die Design- und Formensprache der zeitgenössischen Kultur verändert: künstliche Intelligenz. Architekturbüros zeichnen mit KI-Bildgeneratoren Projektentwürfe, Modelabels lassen Kleider von KI entwerfen, KI macht Modellautos für Spielzeughersteller.

Künstliche Intelligenz ist das neue Plastik, die Knetmasse unserer Vorstellungskraft. Sie ist zwar radikal entstofflicht, besitzt aber trotzdem die wunderliche Eigenschaft, Geistiges in Materie zu verwandeln und Dinge zu synthetisieren. So wie die Plastikmode lebt auch KI von der Nachahmung: Der ikonische Plastikstuhl Monobloc, das meistverkaufte Möbelstück, von dem es weltweit schätzungsweise eine Milliarde Exemplare gibt, ist die Vorwegnahme der Copy-and-Paste-Kultur im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit.

Die Spur des digitalen Unrats

Die digitale Moderne hat das Leben gleichförmig gemacht – die Hipster-Cafés von New York bis Jakarta sehen fast identisch aus, weil sie dem Designstandard der Instagrammability folgen und die Besucher diese Muster in ihrem Konsum perpetuieren. Egal, an welchem Ort: Der Nutzer bleibt stets in der Komfortzone seiner Filterblase. Allein, die Form- und Dehnbarkeit der digitalen Welt hat ihren Preis – und hier wird die Analogie zu Plastik augenfällig.

Zum einen verschlingen KI-Systeme massenhaft Ressourcen wie Strom und Wasser. Zum anderen produzieren sie jede Menge Müll, der die digitalen Ökosysteme verunreinigt. Das World Wide Web quillt über vor KI-generiertem Spam: Deepfakes, Nonsens, Ramschliteratur. Die digitalen Klärwerke sind überfordert, und weil KI-Systeme mit Trainingsdaten aus dem Netz gefüttert werden, zieht die Schleimspur des digitalen Unrats immer weitere Kreise. Spam ist der Plastikmüll des digitalen Zeitalters.

Anfangs war die Arbeit mit KI-Werkzeugen Fachleuten vorbehalten, doch mittlerweile ist Prompten keine Kunst mehr. Und das verstärkt den Distinktionsdruck in künstlerischen Milieus, die ihre schöpferische Praxis vom Klickpöbel abgrenzen müssen. Nachhaltig produzieren heisst heute auch: wenig Daten verbrauchen (Small Data).

Wahre Schönheit

Analog zur Umweltbewegung hat sich im Netz eine Anti-KI-Bewegung formiert, die den Verzicht auf technische Hilfsmittel und Zusatzstoffe zum neuen ästhetischen Standard erhebt. Schriftsteller betonen, dass ihr Werk «KI-frei» sei, auf Instagram werden unter Hashtags wie #NoAI oder #nofilter analoge Fotografien und handgemachte Comics geteilt, und mit Cara gibt es mittlerweile auch eine Fotoplattform, die KI-generierte Werke herausfiltert.

Angesichts der industriellen Massenware von Fakes und Billigduplikaten entwickelt sich auch bei Unternehmen so etwas wie ein ökologisches Bewusstsein für Informationen. So promotet das Tech-Unternehmen Inqwire seine Softwarelösungen als «100% LLM-Free» – also als 100 Prozent frei von grossen Sprachmodellen (LLM). Als wäre Chat-GPT das neue FCKW.

Auch die Konsumgüterindustrie ist auf den Zug aufgesprungen: So hat die Unilever-Marke Dove anlässlich des 20-Jahre-Jubiläums ihrer «Real Beauty»-Kampagne ein Bekenntnis zur KI-Freiheit abgegeben. Im Gegensatz zu Modelabels wie Gucci, die mit virtuellen Influencerinnen arbeiten, will der Konsumgüterhersteller auf die Technologie verzichten: «Dove erneuert sein Versprechen für wahre Schönheit und verspricht, niemals KI zu verwenden, um Bilder von Frauen zu erstellen, zu verändern oder zu verfälschen», heisst es auf der Website.

Von Menschen gemacht

Der Politikwissenschafter Andre Wilkens schreibt in seinem Buch «Analog ist das neue Bio» (2015): «So wie Bio eine Antwort auf die industrielle Massenproduktion von Lebensmitteln ist und diese nun beeinflusst, kann Analog eine Antwort auf die industrielle Massenproduktion und Verarbeitung von Daten sein und auch diese Entwicklung beeinflussen.»

Gut möglich, dass angesichts der maschinellen Konkurrenz in Zukunft auch Verlage auf ihre Druckerzeugnisse ein «KI-frei»-Label kleben werden: «100 Prozent menschengemacht.» An den Kundenpräferenzen werden KI-Systeme wohl nichts ändern: Der Verbraucher wird Handarbeit gegenüber Fabrikware bevorzugen.

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