Samstag, Oktober 5

Amelia Earhart versuchte 1937 als erste Pilotin die Welt zu umrunden. An ihrem Ziel kam sie nie an.

Die amerikanische Flugpionierin und Frauenrechtlerin Amelia Earhart hat Laurie Anderson zur sinfonischen Komposition «Amelia» inspiriert.

Sie fand es schlecht, die Aufführung und ihr Stück. Unglaublich peinlich sei es ihr gar gewesen, erinnert sich Laurie Anderson und schneidet eine Grimasse: «Die Leute haben geklatscht, wie man das halt so macht. Aber ich wäre am liebsten im Boden versunken. Eine sinfonische Komposition war ein Novum für mich. Ich hatte keine Ahnung, wie man so was macht. Nie wieder, sagte ich mir.»

Die Rede ist von der Orchesterpremiere von «Amelia» im Jahr 2000 unter der Leitung von Dennis Russell Davies. Der amerikanische Dirigent teilt das Urteil der Musikerin offenbar nicht gänzlich. Ein paar Jahre später schlug er ihr vor, das Werk neu anzugehen, diesmal nur mit Streichern. «Ich willigte nochmals ein. Ich hatte ‹Amelia› tatsächlich auf der Geige komponiert. Und in dieser Form gefiel es mir besser.»

Singen mit Anohni

Wieder vergingen Jahre, da meldete sich Davies erneut. Inzwischen Chefdirigent der Philharmonie Brünn, schlug er vor, die revidierte Komposition mit seinem Orchester neu aufzubereiten. Die Aufnahme bearbeitete Anderson dann überdies mit Elektronik, Perkussion, mit hörspielartigem Sprechgesang und mit der Stimme von Anohni. Der spukhafte Gesang des queeren Pop-Stars passte perfekt zur Ambiance eines Werks, das einen Flug ins Ungewisse, ja in den Tod thematisiert.

Jetzt ist die eigenwillige Komposition als Album erschienen. Es ist der Flugpionierin Amelia Earhart gewidmet, die 1937 als erste Pilotin versuchte, die Welt zu umrunden. Doch über dem Pazifik brach der Funkkontakt ab. Trotz grosser Suchaktion blieben die Pilotin und das Flugzeug verschwunden.

Als sprachliche Vorlage griff Laurie Anderson auf Interviews zurück, die Earhart während ihrer Zwischenstationen gab, sowie auf Flugtagebücher, Telegramme und Funksprüche. Anderson selbst rezitiert die Texte mit meditativer Abgeklärtheit – selbst da, wo diese Müdigkeit oder Zweifel der Pilotin dokumentieren.

«Amelia» ist ein packendes Album, das sehr viel Wärme ausstrahlt, wobei die sonnig-romantische Melodik mit subtilen Dissonanzen gewürzt ist. «Ich wollte ein Stück Musik schaffen, von dem ein Gefühl von Abenteuer, Freiheit und Einsatz ausgeht», sagt Anderson im Gespräch. «Dafür habe ich Earhart immer bewundert: Sie war eine Frau, die gewillt war, sich für eine Sache einzusetzen.»

Laurie Anderson - Fly Into the Sun (Official Audio)

Frauen seien die grössten Nutzniesser technischer Errungenschaften, wird Earhart im O-Ton zitiert. Anderson ist von dieser These zwar nicht überzeugt. «Aber es ging Earhart darum, die Frauen aufzurütteln», sagt sie. Die Pilotin fand, dass auch Mädchen wissen sollten, wie ein Motor funktioniert. Sie habe deshalb versprochen, sich nach der Weltumrundung für die technische und handwerkliche Ausbildung von Mädchen einzusetzen; sie sollten wie Knaben die Möglichkeit haben, mit Holz und Metall zu arbeiten.

Laurie Anderson verbindet mit Amelia Earhart das Interesse für neue Technologien ebenso wie das emanzipatorische Engagement. Und so wie die Pilotin Präsident Roosevelt um Unterstützung bei der Planung ihrer Weltreise bat, so verlangte Laurie Anderson einst Rat vom angehenden Präsidenten John F. Kennedy: Als Zwölfjährige wollte sie von ihm wissen, wie sie ihre Kandidatur für den Schülerrat aufziehen sollte. «Alles versprechen, was die Schüler verlangen» lautete die Antwort. Und als sie ihm mitteilte, dass sie gewonnen habe, bekam sie einen Strauss Rosen zugeschickt.

An Selbstvertrauen scheint es Laurie Anderson nie gefehlt zu haben – genauso wenig wie am Mut, sich auf künstlerische Abenteuer einzulassen. Aufgewachsen in einer reichen Familie, habe sie eben nie das Gefühl gehabt, dass Geldverdienen eine primäre Sorge sei, erklärte sie jüngst in einem Interview mit dem «Guardian».

Ein Welthit für die Avantgarde

Als Teenager hegte sie Ambitionen als klassische Geigerin, ehe sie an der Columbia University und privat unter Sol LeWitt und Carl André Kunst und Kunstgeschichte studierte. Im Umkreis von Philip Glass, John Cage und William Burroughs driftete sie in die Konzeptkunst, die sie alsbald mit Musik kombinierte. So entstand «O Superman (for Massenet)», ein gespenstisches, acht Minuten langes elektronisches Stück, dessen «Refrain» aus der endlos repetierten Silbe «ha» bestand.

Zum Erstaunen aller Beteiligten verhalf die Single dem Minimalismus New Yorker Prägung zu einem Welthit – und Anderson zu einem Plattenvertrag. Es war der Startschuss für eine beispiellose Karriere. Laurie Anderson gelang so der Spagat zwischen Avantgarde und Mainstream-Pop. Dabei legte sie auch viel Fleiss an den Tag. Sie komponierte Film-Soundtracks und Theatermusik. Sie organisierte Multimedia-Shows in eigener Regie oder mit Partnern wie Brian Eno. Hingegen fehlte die Zeit für die Pläne, die sie mit ihrem Lebenspartner Lou Reed geschmiedet hatte – etwa eine Bar zu betreiben, in der der Rocksänger jeden Tag würde auftreten können, ohne dass man ihn von der Bühne vertrieb.

Lou Reed ist vor über zehn Jahren gestorben. Laurie Anderson aber ist weiterhin aktiv. Trotz ihren 77 Jahren spielt noch immer ein jugendlicher Schalk um ihre Augen. Und sie scheint voller Tatendrang. «Mein nächstes Werk handelt von einem Schiff namens Arche», verrät sie.

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