Die weltweite Nachfrage nach Gold verlagert sich vom Westen in den Osten. Bisherige Gesetzmässigkeiten müssen überdacht werden. Der Ausbruch des Goldpreises markiert bloss den Beginn einer mehrjährigen Hausse.
Ende des 15. Jahrhunderts kam es zu einer tiefgreifenden Veränderung der Schachregeln. Bis zu diesem Zeitpunkt durfte die Dame nur ein Feld diagonal ziehen, seither darf sie beliebig viele Felder diagonal, vertikal und horizontal ziehen. Die Regeländerung wertete die Dame deutlich auf, sie wurde abgesehen vom König zur wichtigsten Schachfigur.
Schach blieb zwar Schach, dennoch wurde es infolge dieser Aufwertung der Dame zu einem gänzlich anderen Spiel. Alte Gewissheiten des Schachspiels waren Geschichte. Die Schachspieler mussten sich ein neues «Playbook» zurechtlegen.
Vergleichbar tiefgreifende Veränderungen vollziehen sich gegenwärtig auch auf dem Goldmarkt. Die das Angebot und die Nachfrage bestimmenden Faktoren haben sich in den vergangenen Jahren zum Teil grundlegend geändert. Die Neuordnung des internationalen Wirtschafts- und Machtgefüges, das Erreichen der Grenzen der Schuldentragfähigkeit und womöglich multiple Inflationswellen sorgen für eine Aufwertung des Edelmetalls.
Daher war es an der Zeit, ein neues Gold-Playbook zu entwerfen, das diesen Entwicklungen Rechnung trägt.
Die zehn Eckpunkte des neuen Gold-Playbooks
- Die hohe inverse Korrelation zwischen US-Realrenditen und dem Goldpreis ist (vorerst) Geschichte. Die deutlich anziehenden Realrenditen führten nicht zu einem sinkenden Goldpreis.
- Die Zentralbanken sind zu einem entscheidenden Faktor in der Goldnachfrage geworden. Die Nachfrage dieser Institutionen ist wenig preissensitiv. Die Zentralbanken dürften einen Boden unter den Goldpreis eingezogen haben.
- Die Militarisierung des Fiat-Geldes hat dauerhafte Konsequenzen. Die Beschlagnahmung russischer Währungsreserven sowie der Vermögenswerte russischer Oligarchen im Jahr 2022 war ein Weckruf für zahlreiche Staaten, aber auch reiche Privatpersonen aus den Golfstaaten, Russland, China etc., ihre Vermögenswerte umzuschichten.
- Im Gegensatz zum Gold Drain der 1960er-Jahre in den USA findet nun ein Gold Gain der Schwellenländer statt. China hält diesbezüglich die Führungsrolle, aber immer mehr Staaten des globalen Ostens folgen Chinas Beispiel. Eine Folge daraus ist, dass der westliche Finanzinvestor ist nicht mehr der marginale Käufer bzw. Verkäufer von Gold ist. Damit verschiebt sich die Preissetzungsmacht am Goldmarkt immer stärker in den Osten.
- Monetärer Klimawandel und die Grenzen der Schuldentragfähigkeit. Die fiskalischen Eskapaden der vergangenen Jahre beginnen die Schuldentragfähigkeit der westlichen Staaten ernsthaft zu gefährden. Die Explosion der Zinslast infolge der raschen und starken Zinserhöhungen wird schon bald die Schuldentragfähigkeit selbst westlicher Industriestaaten zu testen beginnen.
- Das neue Gold-Playbook im Kontext der «Stagflation 2.0». Die Zeit der Great Moderation gemässigter Konjunkturzyklen ohne Inflation ist vorbei. Periodische Angebotsschocks werden zusätzliche Inflationsschwankungen verursachen.
- Das Ende des 60/40-Portfolios. Eine positive Korrelation zwischen Aktien und Anleihen, wie im Fall strukturell erhöhter Inflationsraten, bedeutet, dass Anleihen keinen Schutz bieten, wenn das Wachstum nachlässt. Daher war es an der Zeit, ein neues 60/40-Portfolio zu konzipieren, das sich zu 60% aus Aktien und Anleihen und zu 40% aus alternativen Anlageinstrumenten wie Gold, Silber, aber auch Bitcoin zusammensetzt.
- Das neue Gold-Playbook der Notenbanker. Das Inflationsziel von 2% ist nicht mehr unantastbar. Noch bevor diese Marke nachhaltig wieder erreicht wurde, haben westliche Notenbanken offen von einem Kurswechsel zu einer weniger restriktiven Geldpolitik zu sprechen begonnen.
- Sichere-Hafen-Anlagen werden Mangelware. Die Liste der liquiden Safe-Haven-Assets wird kürzer. Neue und alte Safe-Haven-Assets gewinnen an Bedeutung.
- Nicht inflationierbare Anlagen wie Gold, Silber, Rohstoffe, aber auch Bitcoin spielen für Anleger eine zunehmend wichtige Rolle.
Einige dieser veränderten Spielregeln verdienen eine nähere Betrachtung. Zunächst aber ein Blick auf die Entwicklung des Goldpreises.
Der Goldpreis-Ausbruch als Beleg für das neue Playbook
Manifestiert haben sich die grundlegenden Änderungen nicht zuletzt in der spektakulären Entwicklung des Goldpreises im Frühjahr. Der Showdown im Goldpreis, den wir im Vorjahr angekündigt hatten, ist eingetreten. Der Goldpreis durchbrach seine langfristigen Widerstände und ist in nie zuvor gesehene Höhen gestiegen. Gold und Goldinvestoren betreten nun terra incognita.
Die Breite und auch Vehemenz des Goldpreisausbruchs ist beachtlich. Das zeigen die Kursgewinne in unterschiedlichsten Währungen allein seit Jahresbeginn. In Franken beträgt das Plus 27,2%, in Euro 19,4% und in Renminbi 17,6%. Die markante Abwertung des Yen führte zu einem Anstieg des Goldpreises von 30,2% in der japanischen Valuta.
Die Dollar-Realzinsen sind nicht mehr der ultimative Faktor für den Goldpreis
Beachtlich am kräftigen Anstieg des Goldpreises ist, dass sich dieser in einem Umfeld vollzog, in dem laut bisherigem Playbook der Goldpreis eigentlich hätte fallen müssen. Bis Anfang 2022 bestand eine enge, inverse Korrelation zwischen dem Goldpreis und den Dollar-Realzinsen.
Im alten Paradigma war es undenkbar, dass der Goldpreis während einer Phase stark steigender Realzinsen fester tendiert. Doch diese Korrelation scheint Geschichte zu sein.
Der Goldpreis wird zunehmend vom Globalen Osten bestimmt
Ein weiterer Trend verfestigt sich: Der Goldpreis wird immer stärker im Osten bestimmt. Der Einfluss des Westens auf die Goldpreisbildung ist klar rückläufig. So hat die chinesische Zentralbank, die People’s Bank of China (PBoC), den Titel des grössten einzelnen Goldkäufers zurückerobert. Sie meldete 2023 einen Anstieg ihrer Goldreserven um insgesamt 225 Tonnen, die grösste Menge seit mindestens 1977.
2024 setzt sich der Trend fort. Mit den Zukäufen im April hat die PBoC bereits den 18. Monat in Folge ihre Goldreserven auf nun insgesamt 2264 Tonnen aufgestockt.
Diese Verschiebung des marginalen (Ver-)Käufers von West nach Ost zeigt sich auch darin, dass sich die einst starke, positive Bindung zwischen der Investorennachfrage aus dem Westen und dem Goldpreis in den vergangenen Quartalen aufgelöst hat.
Denn entgegen der Erwartung führte der Rekordlauf des Goldpreises nicht zu Rekordzuflüssen in Gold-ETF (Exchange Traded Funds). Im Gegenteil: Seit April 2022 flossen 760 Tonnen Gold, d. h. 20%, aus ETF ab. Das würde gemäss altem Gold-Playbook einem Goldpreis von rund 1700 $ entsprechen.
Asiatische Gold-ETF verzeichneten hingegen leichte Zuflüsse. Die Dominanz nicht-westlicher Staaten und Regionen in den anderen Nachfragesegmenten ist ebenfalls erheblich. Die Nachfrage nach Goldschmuck belief sich im Jahr 2023 auf insgesamt 2092 Tonnen, davon 562 Tonnen aus Indien, 630 Tonnen aus China und 171 Tonnen aus dem Nahen Osten. Das sind 65% der Gesamtnachfrage aus diesen drei Märkten.
Von den 1189 Tonnen an Goldbarren und -münzen, die im Jahr 2023 nachgefragt wurden, entfielen die drei grössten Anteile auf China (279 Tonnen), Indien (185) und den Nahen Osten (114), die zusammen fast die Hälfte des Gesamtvolumens ausmachten.
Der enorme chinesische Appetit nach Gold lässt sich auch anhand der Prämie für chinesisches Gold im Vergleich zu den offiziellen «westlichen» Preisen der London Bullion Market Association (LBMA) ablesen. Chinesische Anleger bezahlen an der Shanghai Gold Exchange (SGE) aktuell umgerechnet rund 25 $ oder ca. 1% mehr für eine Unze Gold als an der LBMA verlangt wird. Die hohe inländische Nachfrage nach China speist sich mittlerweile auch aus der Jugend Chinas, die seit einiger Zeit «Gold Beans» als Investment entdeckt hat.
Angesichts der tiefgreifenden Krise am chinesischen Immobilienmarkt ist diese Suche nach alternativen Sparformen wenig überraschend, zumal es in China bislang üblich war, Immobilien zur Altersvorsorge zu erwerben. Zudem könnten Importbeschränkungen oder Zölle auf Goldimporte die Preise in China künstlich hochhalten. Ein weiterer Grund dürfte der Rückzug Chinas aus den Goldauktionen der LBMA im letzten Jahr sein, was möglicherweise das Volumen des nach China fliessenden Goldes eingeschränkt hat.
Ein Blick auf das Wirtschaftswachstum und die Bevölkerungsentwicklung in den Industriestaaten, d. h. dem Westen, bzw. Schwellenländern zeigt unmissverständlich, warum Letztere einen immer grösseren Einfluss auf die Goldpreisbildung erhalten und immer bedeutender für den Goldmarkt werden.
Unser Freund Louis-Vincent Gave von Gavekal Research sieht daher ein Investment in Gold als eine Möglichkeit, an der wirtschaftlichen Entwicklung der Schwellenländer zu partizipieren: «Gold is a low-beta emerging market proxy.»
Abschliessend lässt sich zusammenfassen, dass sich die politischen wie ökonomischen tektonischen Verschiebungen auch am Goldmarkt manifestieren. Der Einfluss des Westens nimmt ab, die Bedeutung des Ostens nimmt zu.
Die weiterhin beträchtlichen Finanzvermögen im Westen sollten dem Goldpreis einen weiteren Schub verleihen können, sobald auch die Anleger und die Finanzinvestoren im Westen der gegenwärtigen Rally beitreten.
An unserem Kursziel von leicht über 4800 $ je Feinunze bis Ende 2030 halten wir daher fest. Zur Einordnung: Das Erreichen dieses Kursziels setzt eine annualisierte Rendite von knapp 12% voraus. Zum Vergleich: Im ersten Jahrzehnt nach der Jahrtausendwende betrug die Rendite über 14% p. a., während es in den 1970er-Jahren etwa 27% p.a. waren. Zwischenzeitliche Konsolidierungen und Korrekturen sind dabei nicht nur möglich, sondern auch zu erwarten. Dennoch spricht sehr viel dafür, dass die Goldpreisrally erst an ihrem Anfang steht. Das Beste für Gold kommt noch.
Der «In Gold We Trust»-Report von Incrementum ist kostenlos als Langversion sowie als Kurzversion erhältlich. Die im Text abgebildeten Grafiken stammen alle aus dem aktuellen Report.
Ronald-Peter Stöferle