Ein neues Gesetz verleiht der Politik mehr Mitbestimmung bei der Ernennung von Richtern. Kritiker der Regierung sehen den Rechtsstaat in Gefahr. Sie übertreiben masslos.

Es war schon wieder hell am Donnerstagmorgen, als die Parlamentarier in der Knesset nach einer Nacht voller hitziger Debatten zur Abstimmung übergingen. In den Stunden zuvor hatten sie eine rekordhohe Anzahl von mehr als 70 000 Einsprachen gegen ein Gesetz abgelehnt, das Politikern mehr Einfluss auf die Ernennung von Richtern verleiht. Schliesslich wurde es mit 67:1 Stimme verabschiedet – die Opposition hatte zuvor geschlossen den Saal verlassen, während Tausende wütende Israeli vor dem Parlamentsgebäude demonstrierten.

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Damit hat ein Kernelement der umstrittenen Justizreform von Netanyahus Koalition die letzte Hürde genommen – und laut Kritikern der Regierung wurde gleichzeitig das Ende der israelischen Demokratie eingeleitet. Noch am Donnerstag gingen mehrere Klagen gegen das Gesetz beim Obersten Gericht ein. «Demokratien fallen und sterben langsam», mahnte der Oppositionspolitiker Benny Gantz im Parlament.

Diese Kritik ist masslos überzogen. Ja, künftig werden Politiker grösseren Einfluss auf die Auswahl von Richtern ausüben können. Das ist allerdings nicht per se undemokratisch, und vor allem ist das neue Prozedere fein säuberlich austariert. Ein Richter kann gemäss dem Gesetz nur ernannt werden, wenn sowohl Politiker der Koalition wie auch der Opposition zustimmen. Neu ist zudem, dass es nicht zwingend die Zustimmung eines amtierenden Richters braucht, um offene Sitze am Obersten Gericht zu besetzen. Im bisherigen System gab es dieses faktische Vetorecht der Judikative. Ausserdem: Das Gesetz tritt erst zu Beginn der nächsten Legislatur in Kraft – dann wird mutmasslich eine andere Regierung an der Macht sein.

Ein legitimer Kompromiss

Sollte sich das Ernennungskomitee während eines Jahres nicht einig werden – womit angesichts der politischen Spaltung in Israel zu rechnen ist –, sieht das Gesetz einen Lösungsmechanismus vor: Sowohl die Koalition wie auch die Opposition dürfen in diesem Fall je drei Kandidaten vorschlagen, wovon die andere Seite jeweils einen auslesen muss. Laut Kritikern wird damit ein Anreiz geschaffen, Ernennungen so lange hinauszuzögern, bis der Mechanismus greift, so dass in der Folge möglichst weit links oder rechts stehende Kandidaten durchgedrückt werden können – die Folge wäre eine Polarisierung des Gerichts. Doch warum sollte ein Gericht in einem demokratischen Staat nicht ein breites Spektrum von Meinungen und Rechtsauffassungen abbilden?

Im Gegensatz zur ursprünglich geplanten Justizreform der Netanyahu-Regierung, die eine faktische Entmachtung der israelischen Justiz zur Folge gehabt hätte, ist das nun verabschiedete Gesetz ein durchaus legitimer Kompromiss. Doch die Wut der Demonstranten richtet sich nicht unbedingt gegen diese Vorlage, sondern generell gegen eine als autoritär und rücksichtslos empfundene Politik Netanyahus. Dazu zählen sie auch die jüngst erfolgte Entlassung des Chefs des Inlandgeheimdienstes, die geplante Absetzung der Generalstaatsanwältin sowie weitere Gesetzesvorhaben der Regierung, um die Macht der Justiz einzuschränken.

Laut neusten Umfragen fürchten 63 Prozent der Israeli um die Zukunft der israelischen Demokratie. Lediglich 17 Prozent geben an, Vertrauen in die Regierung zu haben. Fast anderthalb Jahre nach dem Hamas-Angriff vom 7. Oktober 2023 ist die Bevölkerung Israels erschöpft, verunsichert und zutiefst traumatisiert. Viele Israeli haben kein Verständnis dafür, dass Netanyahus Koalition nun erneut den Umbau der Justiz vorantreibt, während weiterhin israelische Geiseln in den Tunneln der Hamas eingesperrt sind und Reservisten wieder in den Kriegsdienst im Gazastreifen eingezogen werden.

Netanyahus Kampf gegen den «tiefen Staat»

Die Machtspiele von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu und seiner Regierung vertiefen die gesellschaftlichen Gräben zusätzlich, und auch die Opposition heizt die Konflikte aus eigenem Interesse an. Angesichts einer Vielzahl äusserer Feinde täte Israel jedoch mehr innere Geschlossenheit gut. Doch Netanyahu, der inzwischen immer feuriger von einem «tiefen Staat» schwadroniert, war noch nie eine einigende Figur. Und auch seine mit Extremisten besetzte Regierung scheint nicht gewillt, den Ton zu mässigen.

Dass im israelischen Justizsystem Reformbedarf besteht, ist eigentlich unbestritten. Das Oberste Gericht hat sich während Jahrzehnten Macht und Kompetenzen zugeschanzt, ohne dass das Parlament oder die Bevölkerung ein Wörtchen mitgeredet hätten. Andererseits ist die israelische Justiz faktisch die einzig nennenswerte Kontrollinstanz der Regierung in einem Land, in dem es weder zwei Parlamentskammern noch föderale Strukturen oder eine kodifizierte Verfassung gibt.

Das neue Gesetz zur Ernennung der Richter rüttelt keineswegs an der nach wie vor lebhaften israelischen Demokratie. Doch die massiven Proteste dagegen zeigen, wie viel Vertrauen Netanyahu in den vergangenen Jahren verspielt hat. Ein guter Teil der Bevölkerung wittert inzwischen hinter jeder seiner politischen Aktionen finstere, antidemokratische Absichten. Daran dürfte sich bis zur nächsten Wahl 2026 auch nichts mehr ändern.

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