Donnerstag, Oktober 3

Er kam im Indianerkostüm zum Prozess, nutzte den Gerichtssaal als Showbühne und war vom Freispruch selber am meisten überrascht. Das Obergericht hat diesen nun geschützt.

Am 16. Mai 2023 galoppierte der 53-jährige schweizweit bekannte Impfgegner Daniel Stricker auf einem hölzernen Steckenpferd beim Bezirksgericht Zürich vor, begleitet von Freiheitstrychlern. Er trug einen klischierten beigen Indianeranzug – so wie Winnetou – mit Federschmuck und posierte mit «Friedenspfeife» und Tomahawk in der Hand.

Stricker hatte einen Strafbefehl des Statthalteramts Bezirk Zürich angefochten, wollte ihn gerichtlich beurteilen lassen und sah sich dabei selber in der Rolle eines Kämpfers für die Medienfreiheit.

Ein Einzelrichter sprach ihn an jenem Tag vom Vorwurf der Widerhandlung gegen die Covid-19-Verordnung frei, was Stricker damals selber überraschte, wie er dem NZZ-Reporter sagte. Der Richter war zum Schluss gekommen, dass der Betreiber des Youtube-Kanals «Stricker TV» im Mai 2020 als Medienschaffender im weiteren Sinne und nicht als Demonstrant an einer unbewilligten Demonstration auf dem Zürcher Sechseläutenplatz teilgenommen hatte.

Das Statthalteramt liess den Freispruch nicht auf sich sitzen und zog ihn ans Obergericht weiter. Es hatte Stricker ursprünglich mit einer Busse von 800 Franken bestraft. Stricker erhob Anschlussberufung und verlangte eine Erhöhung der Entschädigung für seine erbetene Verteidigung.

Wie bei blossen Übertretungstatbeständen üblich, kam es am Obergericht nicht zu einer Verhandlung, sondern zu einem schriftlichen Verfahren. Das Obergericht hat seinen Entscheid nun veröffentlicht. Es bestätigt den vorinstanzlichen Freispruch mit derselben Argumentationslinie.

Live-Stream vom Sechseläutenplatz

Stricker hatte sich während der Pandemie mit seinem Youtube-Kanal unter Massnahmen-Skeptikern und Impfgegnern schweizweit eine Führungsrolle erarbeitet. Laut dem Strafbefehl waren an der unbewilligten Kundgebung im Mai 2020, die unter dem Titel «Anti-Lockdown» gegen die Corona-Massnahmen lief, rund 65 Personen anwesend, obschon politische Kundgebungen mit mehr als fünf Personen damals untersagt waren.

Die Teilnehmer missachteten mehrere Lautsprecher-Aufforderungen der Polizei, sich von der Örtlichkeit zu entfernen. Auch Daniel Stricker wurde kontrolliert und gebüsst. Vor Bezirksgericht sagte er, die Busse sei ein Missverständnis gewesen. Er sei nicht als Teilnehmer, sondern als Journalist an der Demonstration anwesend gewesen. Er habe vom Sechseläutenplatz live gestreamt.

Er sei gerade mitten in einem Interview gewesen, als ihn die Polizei weggewiesen habe. Er sei überrascht gewesen, weil er nicht gedacht habe, dass die Anordnung auch für Journalisten gelten würde. Er habe nie aktiv an einer nicht bewilligten Corona-Demonstration teilgenommen. Journalist sei seit 2020 sein Hauptberuf.

Der Einzelrichter sprach Stricker von allen Vorwürfen frei. Er kritisierte ihn zwar dahingehend, dass er beim Statthalteramt jegliche Aussage verweigert habe und das Argument, er sei als berichtender Journalist am Sechseläutenplatz gewesen, ganz neu und erstmals vor Bezirksgericht eingebracht worden sei. Er habe das Gefühl, Stricker habe den Prozess und die Öffentlichkeit «gesucht».

Das Gericht sei aber tatsächlich der Meinung, Stricker sei als Journalist am Sechseläutenplatz gewesen. Es spiele dabei keine Rolle, ob er regierungs- und massnahmenkritisch sei. Jeder Journalist dürfe berichten und müsse gleich behandelt werden. Die polizeilichen Aufforderungen, den Platz zu verlassen, seien nicht an ihn als Journalist gerichtet gewesen.

Stricker hielt Leuten ein Mikrofon vor das Gesicht

Das Obergericht kommt in seinem Freispruch zum Schluss, dass die vorinstanzliche Sachverhaltserstellung nicht willkürlich gewesen sei. Wie aus dem schriftlichen Urteil hervorgeht, treffe das Argument des Statthalteramtes, wonach sich Stricker auf dem Sechseläutenplatz nicht als Medienschaffender ausgegeben habe, nicht zu. Auf einem durch den Beschuldigten eingereichten 27-minütigen Video sei zu sehen, wie er von Beginn weg das Geschehen kommentiere.

Im Urteil heisst es dazu: «Obwohl eine Sympathie für die Demonstranten nicht in Abrede zu stellen ist», erscheine Stricker gegen aussen hin als Journalist, «zumal er diverse Personen interviewt und ihnen zu diesem Zweck ein Mikrofon vorhält». Als der Beschuldigte von der Polizei gegen Ende des Videos angesprochen worden sei, habe er umgehend ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er als Journalist anwesend sei.

Entsprechend habe er sich überrascht darüber gezeigt, dass er zum Polizeifahrzeug mitkommen müsse, nicht aber die Journalisten des SRF. Auch habe der Beschuldigte mehrfach gegenüber den Zuschauern des Live-Streams zum Ausdruck gebracht, er fühle sich als Journalist und deswegen von den an die Demonstrationsteilnehmern gerichteten Durchsagen der Polizei nicht angesprochen.

Weiter hält das Obergericht fest: «Es kann dabei nicht von entscheidender Bedeutung sein, dass der Beschuldigte im Gegensatz zu anderen Medienschaffenden keine gelbe Weste mit der Aufschrift ‹Presse› trug, zumal er eine solche als privat tätiger Journalist bzw. Medienschaffender aus dem Social-Media-Bereich allenfalls auch gar nicht hätte erhältlich machen können.»

Und weiter: «Eine eigentliche Akkreditierung oder etwas Ähnliches war für die Berichterstattung über die Kundgebung nicht notwendig, weshalb alle Medienschaffenden grundsätzlich das gleiche Recht in Anspruch nehmen durften.»

Die Argumentation des Statthalteramtes, wonach auch Journalisten polizeilich weggewiesen werden könnten, treffe zwar grundsätzlich zu. Im v0rliegenden Fall sei der Beschuldigte aber vor seiner «Anhaltung» seitens der Polizei nie persönlich zum Verlassen des Sechseläutenplatzes aufgefordert worden.

Trotz Freispruch muss Stricker ein Sechstel der Kosten des Berufungsprozesses von 1800 Franken bezahlen, weil er mit seiner Anschlussberufung, in der er eine Erhöhung seiner Anwaltsentschädigung forderte, nur teilweise obsiegte. Für die anwaltliche Vertretung in der Untersuchung und im erstinstanzlichen Prozess erhält er 3648 Franken 35 Rappen; für die anwaltliche Vertretung im Berufungsverfahren eine auf fünf Sechstel reduzierte Prozessentschädigung von 3758 Franken zugesprochen.

Urteil SU230054 vom 16. April 2024, noch nicht rechtskräftig.

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