Freitag, Dezember 27

Nach über dreissig Jahren Fahndung wurde die Terroristin Daniela Klette gefasst. Ihre zwei Komplizen sind noch flüchtig. Die letzten Mitglieder der Rote-Armee-Fraktion zogen eine Blutspur durch Deutschland.

Am 1. Februar 1985, kurz nach sieben Uhr morgens, klingelte eine Frau am Gartentor von Ernst Zimmermanns Haus in der Nähe von München. Sie habe einen Brief abzugeben, sagte sie, und brauche eine Unterschrift. Als Zimmermann und seine Frau die Haustür öffneten, rannte ein Mann mit einer Maschinenpistole hinzu und drängte sich ins Haus. Er und die vermeintliche Postbotin überwältigten das Ehepaar, fesselten es und führten Zimmermann ins Schlafzimmer. Dort setzten sie ihn auf einen Stuhl und töteten ihn mit mehreren Schüssen ins Genick.

Von den Tätern fehlt bis heute jede Spur. In einem Bekennerschreiben übernahm ein Kommando der Rote-Armee-Fraktion gemeinsam mit einer französischen Terrororganisation die Verantwortung für die Tat. Zimmermann war in der Öffentlichkeit kaum bekannt, aber passte ins Opferschema der linksextremen Terroristen: Er war der Chef der Motoren- und Turbinen-Union (MTU), die Triebwerke für den Tornado-Kampfjet und Motoren für den Leopard-Panzer herstellte.

Die Ermordung von Ernst Zimmermann ist der erste Mordanschlag der dritten Generation der RAF. Dieser gehörte mutmasslich auch Daniela Klette an, die vergangene Woche überraschend enttarnt und in Berlin festgenommen wurde. Rund dreissig Jahre lang hatte sie unter falschem Namen in Deutschland gelebt. Zusammen mit den ehemaligen RAF-Mitgliedern Ernst-Volker Staub und Burkhard Garweg, die noch nicht gefasst werden konnten, soll Klette zwischen 1999 und 2016 mehrere Raubüberfälle auf Geldtransporter und Supermärkte begangen haben.

Bilder aus dem Album

Vermutlich war sie spätestens ab den 1990er Jahren auch an Terroranschlägen beteiligt. Ob ihr das je nachgewiesen werden kann, ist allerdings fraglich. Denn noch heute, mehr als fünfundzwanzig Jahre nachdem sich die RAF formell aufgelöst hat, ist über die dritte Generation der Terrororganisation nur wenig bekannt. So wenig, dass einzelne Journalisten und Historiker zweifelten, ob sie tatsächlich existierte oder nicht eher ein Phantom sei.

Daniela Klette gehört zu den wenigen, die Auskunft geben können. Ihre Aussagen würden Verbrechen klären, die Deutschland in den vergangenen vierzig Jahren in Atem hielten – wenn sie bereit ist, zu reden. Ihre Festnahme ist ein später Erfolg der Polizei, nach mehr als dreissig Jahren Fahndung. Und sie macht bewusst, dass die letzten RAF-Terroristen jahrelang unter uns waren und noch immer unter uns sind, auch wenn die RAF längst Geschichte ist.

Der Bauwagen, in dem Burkhard Garweg mutmasslich längere Zeit gewohnt hat, stand in unmittelbarer Nähe der Berliner Aussenstelle des Bundeskriminalamts. Er lebte gewissermassen unter den Augen seiner Fahnder. Unerkannt. Jahrelang wurde nach ihm gesucht, genauso wie nach Daniela Klette und Ernst-Volker Staub. Ohne Erfolg. Man wusste, dass das Trio regelmässig Raubüberfälle verübte und sich dabei auch des versuchten Mordes schuldig gemacht hatte. Doch es gelang nicht, es zu fassen.

Bei manchen Überfällen erbeuteten die drei über eine Million Euro. Ob sie damit einfach ihren Lebensunterhalt finanzierten oder ob das Geld auch in terroristische Netzwerke floss, ist nicht bekannt. Hinweise darauf, dass sie selbst noch terroristisch tätig waren, gab es keine. Seit 2020 standen sie auf der «Europe’s Most Wanted»-Liste von Europol. Die Bilder, aufgrund deren man sie suchte, waren über dreissig Jahre alt. Aufnahmen von Überwachungskameras, unscharf. Die Bilder, die bei der Durchsuchung von Daniela Klettes Wohnung aufgetaucht sind, stehen dazu in seltsamem Gegensatz: brave Familienbilder. Der mutmassliche Mörder Garweg sitzt auf dem Sofa und isst einen Teller Pasta.

Am Rand des Ausnahmezustands

Die dritte Generation der RAF entstand Anfang der 1980er Jahre. Die prägenden Gründerfiguren Andreas Baader, Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin waren damals schon lange tot. Ihre Nachfolger, die durch spektakuläre Aktionen versucht hatten, ihre Kampfgefährten aus dem Gefängnis Stuttgart-Stammheim zu befreien, sassen hinter Gittern. Mit der Entführung und Ermordung von prominenten Repräsentanten des Staates, den sie als «imperialistisches Herrschaftssystem» bezeichneten, hatten sie die Bundesrepublik an den Rand des Ausnahmezustands geführt. Aber sie waren letztlich gescheitert.

Die dritte Generation hatte gelernt. Sie agierte unauffällig, aber effizient. Als Organisation war sie nur schwer fassbar. Wie gross die Gruppierung war, wussten selbst Polizei und Staatsschutz nicht genau, wer die Drahtzieher waren, war unklar. Die Aktionen kamen scheinbar aus dem Nichts und waren minuziös geplant. Die Täter agierten professionell: kaum Spuren am Tatort, nicht einmal Fingerabdrücke. Keine konspirativen Wohnungen, Autos wurden höchstens gemietet, für einzelne Aktionen. Von den zehn Morden, die der dritten RAF-Generation zur Last gelegt werden, sind neun bis heute nicht aufgeklärt.

Ideologisch waren die Mitglieder auf den Kampf gegen den «internationalen Imperialismus» eingeschworen. Dafür waren sie bereit, skrupellos und kaltblütig zu morden. Im August 1985 lockte ein RAF-Mitglied, mutmasslich die damalige Rädelsführerin Birgit Hogefeld, einen amerikanischen Soldaten aus einer Wiesbadener Diskothek. Am nächsten Tag entdeckten ihn Spaziergänger im Wald. Er war mit einem Genickschuss getötet worden.

Die RAF hatte seine Identitätskarte gebraucht, um auf die Rhein-Main Air Base zu gelangen, wo sie einen Anschlag plante. Am 8. August 1985 explodierte dort eine Bombe. Zwei Menschen wurden getötet, elf zum Teil lebensgefährlich verletzt. In einer Erklärung, die ein paar Tage später veröffentlicht wurde, schrieb die RAF, die Aktion richte sich gegen die Welteroberungsgelüste der USA und ihres Präsidenten Ronald Reagan: «Alle müssen begreifen, dass Krieg ist – und sich entscheiden.»

Töten für eine ID-Card

Die RAF-Mitglieder hatten sich offenbar entschieden und hielten es für legitim, einen Soldaten zu ermorden, nur um in den Besitz von dessen Ausweis zu gelangen. Mit dieser Aktion verlor die RAF auch im linken Lager Sympathien, doch das hielt sie nicht von weiteren Morden ab. Im darauffolgenden Jahr tötete sie einen Siemens-Manager und dessen Chauffeur auf offener Strasse mit einer Bombe. Drei Monate später, im Oktober 1986, erschossen RAF-Schergen einen Diplomaten des Auswärtigen Amts. Im Bekennerschreiben wurde sein Tod mit einem amerikanischen Militärschlag gegen Libyen in Verbindung gebracht, mit dem das Opfer nichts zu tun hatte.

Das war der RAF egal. Ein Diplomat war ein Vertreter des «Systems», Krieg war Krieg, und die Terroristen waren überzeugt, auf der richtigen Seite zu stehen. Auf der Seite dessen, was sie Freiheit nannten, im Kampf gegen Macht, Herrschaft und Imperialismus. Am 30. November 1989 wurde Alfred Herrhausen, der Vorstandssprecher der Deutschen Bank, getötet. Als er am Morgen zur Arbeit fahren wollte, detonierte wenige hundert Meter von seinem Wohnhaus in Bad Homburg entfernt eine Sprengladung, die die RAF deponiert hatte. Das Auto wurde in die Luft geschleudert, schlug quer zur Fahrbahn wieder auf der Strasse auf und brannte aus. Herrhausen war sofort tot, sein Fahrer überlebte mit leichten Verletzungen.

Warum sich die RAF ausgerechnet Herrhausen als Opfer ausgewählt hatte, verstand nicht einmal jener Teil der Linken, den die Terroristen eigentlich als Sympathisanten gewinnen wollten. Herrhausen war zwar eines der prominentesten Gesichter der deutschen Wirtschaft. Aber er war kein sturer Vertreter des «Systems». Auch kein ehemaliger Nazi, wie einige Opfer der zweiten RAF-Generation, sondern ein weltoffener junger Manager, der mit seinen unkonventionellen Ideen manchmal auch in den eigenen Kreisen auf Widerstand stiess.

Herrhausen engagierte sich für Entwicklungsprojekte in Osteuropa, schlug vor, den Finanzhaushalt von Schwellenländern wie Mexiko oder Brasilien durch Umschuldung zu entlasten und gewissen afrikanischen Staaten die Schulden ganz zu erlassen. Ein Kapitalist, der zwar wusste, wie sich Gewinne maximieren lassen, aber auch an die Verlierer der Globalisierung dachte. Kurz vor seinem Tod, nach der Maueröffnung, sprach er sich für eine rasche Wiedervereinigung Deutschlands aus.

Haare am Tatort

Die Wahl des Opfers zusammen mit dem Umstand, dass die Täter, im Gegensatz zu den Tätern der ersten und zweiten RAF-Generation, kaum Spuren hinterlassen hatten, bereitete den Boden für Verschwörungstheorien: Nicht linke Terroristen hätten Herrhausen ermordet, sondern westliche Geheimdienste hätten unter dem Deckmantel der RAF einen Mann aus dem Weg geschafft, der mit seinen Ideen für die internationale Finanzindustrie zur Belastung geworden sei.

Dieses Muster wiederholte sich beim letzten Mord, der der RAF zugeschrieben wird: der Tötung von Detlev Karsten Rohwedder, dem Präsidenten der Treuhandanstalt, im April 1991. Die Wahl des Opfers schien einigermassen nachvollziehbar. Aber auch diesmal ein fast perfekt ausgeführtes Verbrechen. Präzis gezielte Schüsse aus relativ grosser Distanz, kaum Spuren am Tatort.

Bis heute hält sich die These, nicht die RAF habe den Mord zu verantworten: die Stasi, der ehemalige Geheimdienst der DDR, habe ihn begangen und den Verdacht auf die RAF gelenkt. Die Treuhand und Rohwedder seien kurz davor gewesen, das verschwundene Parteivermögen der SED zu finden.

Eine abenteuerliche Erklärung. Zehn Jahre nach Rohwedders Tod gab das Bundeskriminalamt bekannt, dass Haare, die am Tatort gefunden worden waren, dank einer neuen DNA-Analyse als Haare von Wolfgang Grams identifiziert werden konnten. Grams galt zusammen mit Birgit Hogefeld als einer der Köpfe der dritten RAF-Generation. Er kam 1993 bei einer Polizeiaktion ums Leben, vermutlich durch Selbstmord.

Ein Haar könnte auch Daniela Klettes Mittäterschaft an einem der grössten Attentate der dritten RAF-Generation beweisen. Im März 1991 wurde die Justizvollzugsanstalt Weiterstadt in Hessen durch einen Sprengstoffanschlag fast komplett zerstört. Die RAF übernahm die Verantwortung, der Schaden belief sich auf über hundert Millionen Mark.

Das Gebäude war noch nicht bezogen worden, deshalb wurde niemand verletzt. Um auf das Gelände zu gelangen, mussten die Täter eine Mauer überwinden. Dafür benützten sie eine Strickleiter, deren Sprossen sie mit Teppichresten umwickelt hatten, damit sie keine Geräusche machen. In diesen fand die Polizei Haare von Daniela Klette und Ernst-Volker Staub.

Der Anschlag in Weiterstadt war die letzte Aktion der RAF. Im Frühling 1998 gab die Terrorbande in einer den Medien zugespielten Erklärung ihre Auflösung bekannt. Ein Dokument, das das Eingeständnis, gescheitert zu sein, auf seltsame Weise mit der Verherrlichung der eigenen Geschichte verbindet. «Vor fast 28 Jahren, am 14. Mai 1970, entstand in einer Befreiungsaktion die RAF», hiess es darin, und weiter: «Heute beenden wir dieses Projekt. Die Stadtguerilla in Form der RAF ist nun Geschichte.» Nochmals 26 Jahre später ist die Polizei ihren letzten Mitgliedern auf der Spur.

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