Samstag, November 23

Sergei Gerasimow befindet sich noch immer in Charkiw und führt sein Kriegstagebuch weiter. Auch wenn die Raketenangriffe nachgelassen haben, der Schrecken des Krieges mit seinen seelischen Abgründen und absurden Situationen bleibt in drängender Weise präsent.

25. Oktober

Nachdem die Russen im März 2022 in der Region Tschernihiw drei Brüder, allesamt Bewohner eines ukrainischen Dorfes, gefoltert, erschossen und verscharrt hatten, gelang es einem der Brüder, Nikolai, sich aus dem gemeinsamen Grab zu befreien. Ukrainische Quellen geben an, er sei vierzig Kilometer gelaufen und habe sich danach auf den Heimweg in sein Heimatdorf gemacht, während CNN-Journalisten schreiben, er sei durch die Felder bis zum nächstgelegenen Haus geirrt, wo eine Frau ihn aufgenommen und ihm ein Unterkommen für die Nacht gewährt habe.

Beide Versionen sind nicht ganz korrekt. Die Entfernung zwischen dem Exekutionsort und Nikolais Haus betrug nicht vierzig, sondern rund fünfzehn Kilometer, und ich denke, dass dies die schwierigsten Kilometer in seinem Leben gewesen sein müssen. Die Kugel hatte seinen Kiefer zertrümmert, und seine Rippen waren durch die vielen Schläge gebrochen. Die Nacht war kalt, und die Temperatur sank bis zum Gefrierpunkt, obwohl es glücklicherweise nicht regnete oder schneite. Ich glaube, dass Nikolai zunächst einfach keine Ahnung hatte, wohin er ging, weil er in die entgegengesetzte Richtung von seinem Zuhause lief.

Am Rande des nächstgelegenen Dorfes kletterte er in einen verlassenen Backsteinkeller, um sich zu verstecken. Da es da sehr kalt war, ging er in das Haus hoch, das leer stand und wahrscheinlich geplündert war. Dort fand er eine Matratze, schleppte sie in den Keller und legte sich einige Zeit darauf, da es unmöglich war, auf dem Steinboden zu liegen. Bald jedoch konnte er die Kälte nicht mehr ertragen, ging wieder nach oben und machte es sich auf dem Sofa bequem. Dort verbrachte er die Nacht.

Gegen sieben Uhr morgens am 22. März wurde eine Frau aus der Nachbarschaft auf ihn aufmerksam und nahm ihn mit zu sich nach Hause. Nikolai war ganz blau von den Schlägen, voller Schmutz und Blut. Die Frau bot ihm etwas zu essen an, aber ich glaube nicht, dass der Mann essen konnte, nachdem ihm eine Kugel verpasst worden war, die seinen Kiefer zertrümmert hatte und in der Nähe des Ohrs ausgetreten war.

Seine Schwester wird bei seiner Heimkehr sehen, dass seine Wange blau und schrecklich geschwollen ist. Lange Zeit wird er im Schlaf schreien und kaum noch gehen können. Nach der Räumung der von den Russen besetzten Gebiete wird man nach der Hinrichtungsstätte suchen und sie erst beim fünften Versuch finden. Das forensische Untersuchungsteam wird bestätigen, dass die Beine und Hände der beiden toten Brüder mit Klebeband gefesselt waren, dass ihnen die Augen verbunden waren und dass beide durch Schüsse in den Kopf starben.

«Das sind Tiere», wird Nikolais Schwester über die russischen Soldaten sagen. «Oder nein, Tiere sind wahrscheinlich freundlicher als diese Menschen.»

Sie hat natürlich recht, allerdings glaube ich nicht, dass die russischen Soldaten, die Unschuldige erschossen haben, besonders böse oder gewalttätig sind. Sie sind ganz normal, sie unterscheiden sich nicht von allen anderen. Das Problem ist, dass ein einzelnes Menschenleben in Russland niemals einen Wert hatte, und Menschen, deren eigenes Leben nichts wert ist, werden nie in der Lage sein, das Leben eines anderen Menschen zu schätzen.

Russlands Verluste in diesem Krieg nähern sich bereits der Zahl menschlicher Todesopfer beim Bau der Grossen Chinesischen Mauer. Im 3. Jahrhundert v. Chr. war ein Drittel der chinesischen Bevölkerung an diesem gigantischen Schutzwall beteiligt, die Sterblichkeitsrate unter den Arbeitern erreichte manchmal vierzig Prozent, und insgesamt starben laut Quellen rund 400 000 Menschen.

Beim Bau von St. Petersburg hingegen kamen etwa 200 000 Menschen ums Leben, bis zu einem Drittel aller Arbeiter – also nicht viel weniger als bei dem chinesischen Mammutprojekt. Auch beim brutal vorangetriebenen Bau von Stalins Weissmeer-Ostsee-Kanal starben zwischen 25 000 und 250 000, zumeist Zwangsarbeiter, die genauen Zahlen werden wir wohl leider nie erfahren. Damals kamen bis zu 700 Menschen pro Tag um, etwa so viele wie jetzt Russen in diesem Krieg, obwohl es damals keinen Krieg gab.

Selbst jetzt gibt es in Russland offiziell nur einen «militärischen Sondereinsatz», aber keinen Krieg. Fast 300 000 Russen sind bereits tot. Gestern starben 800 Russen, am Tag zuvor waren es 810, am Tag davor 890 und so weiter.

Es scheint, dass die Horde, die Russland einst von aussen eroberte, es jetzt von innen besiegt hat, und egal, was der Kreml auch tut, er baut immer an einer chinesischen Mauer. Oder besser gesagt, die Grosse Schwerfällige Mauer von Russland, was noch schlimmer ist, und wie es die asiatische Tradition seit alters verlangt, bauen auch die Russen sie stets auf menschlichen Knochen.

Zur Person

PD

Sergei Gerasimow – Was ist der Krieg?

Von den Kriegstagebüchern, die nach dem russischen Überfall auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 verfasst wurden, gehört jenes von Sergei Wladimirowitsch Gerasimow zu den aufwühlendsten und anrührendsten. Es vereinigt Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis, Empathie und Phantasie, Sinn für das Absurde und forschende Intelligenz. Gerasimow wurde 1964 in Charkiw geboren. Er studierte Psychologie und verfasste später ein Psychologielehrbuch für Schulen sowie wissenschaftliche Artikel über kognitive Aktivitäten. Seine literarischen Ambitionen galten bisher der Science-Fiction und der Lyrik. Gerasimow und seine Frau leben im Zentrum von Charkiw in einer Wohnung im dritten Stock eines Hochhauses. Der Beginn des Tagebuchs liegt mittlerweile gesammelt unter dem Titel «Feuerpanorama» als Buch bei DTV vor. Dem Autor freilich geht der Stoff nicht aus. – Hier der 397. Beitrag des vierten Teils.

Aus dem Englischen von Andreas Breitenstein.


Serie: «Kriegstagebuch aus Charkiw»

Nach einer Pause hat der ukrainische Schriftsteller Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch weitergeführt. Ab Beginn der Kämpfe berichtete er über die Schrecken und Absurditäten des Alltags im Zentrum seiner Heimatstadt Charkiw, die noch immer beschossen wird.

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