Der Autor Werner Bellwald hat beim Felssturz im Lötschental alles verloren. Er schreibt über seine 96-jährige Mutter, die nun in einer WG lebt. Und über Politiker, die das Care-Team nötiger hätten als die Einheimischen.
Das letzte Bild der Webcam an unserer Hausfassade existiert in einer Cloud. Die Webcam gibt es nicht mehr, unser Haus ebenso wenig. Und mit ihnen sind das Dörflein Ried und das Nachbardorf Blatten verschwunden. Sind begraben unter Schutt und Schlamm und Stein. La grande peur dans la montagne hat – frei nach Ramuz – das schlimmstmögliche Ausmass angenommen. Wenns denn nicht noch schlimmer wird wegen der Stauung des Talflusses Lonza.
Zuerst ist man wortlos. Diese Filmsequenzen vom Gletscher- und Bergsturz, die anschliessenden Fotos, die Aufnahmen aus den Helikoptern, das braucht keinen Kommentar. Man weiss, dass man alles verloren hat. Vom einen Talhang bis hinüber zum anderen erstreckt sich eine weite braune Fläche, einem frisch gepflügten Acker gleich, wie ein riesiger brauner Koloss. Darunter begraben: Häuser, Wälder, Siedlungen, saftige Wiesen, auf denen das Gras schon erfreulich hoch stand.
Auch begraben: Erinnerungen. Blatten war die Heimat von 300 Menschen und nochmals so vielen in der Deutschschweiz arbeitenden Einheimischen, die regelmässig zurückkehrten. Und eine Zweitheimat von Feriengästen, die immer wieder kamen. Alles pulverisiert.
Eine Katastrophe wie schon vor 15 000 Jahren
Folgt jetzt Ohnmacht? Vielleicht Wut? Auf was, auf wen? Zum Glück gibt es auf den ersten Blick keine Schuldigen. Das kann helfen; erinnern wir uns nur an die Lawinen von Evolène im Unterwallis, bei denen im Februar 1999 zwölf Menschen starben, weil sie von den Behörden nicht in Sicherheit gebracht worden waren.
Ich will all die erwiesenen Fakten rund um den Klimawandel hier nicht infrage stellen, aber es reicht nicht, im Fall von Blatten nur den vielzitierten Permafrost zu bemühen. Es mag meine déformation professionnelle als Historiker und Ethnologe sein, die mich an das Ende der letzten Kaltphase (landläufig: Eiszeit) vor 15 000 Jahren denken lässt.
Mit dem Rückzug der riesigen Gletscher wurden die freien Talhänge oft instabil und donnerten abwärts. Die Erosion hatte ihr Werk vor Jahrtausenden begonnen, Bächlein schwemmten Sand und Steine ins Tal, wo sich Schwemmfächer und Schuttkegel ausbreiteten, während sich höher am Berg die Seitentäler immer tiefer und breiter einschnitten.
Zwei Bundesräte lachen
«Lesen» wir diese Landschaft und stellen uns die Länge der Zeiträume und die Kräfte in der Vertikalen vor, so wird deutlich, dass dem jetzigen Abbruch im Verlauf der Zeit einiges vorausgegangen war, teilweise noch in markant heftigeren Bergstürzen.
Davon transportierte die Lonza wiederum vieles in die Ebene des Rhonetals. Der bis anhin verbliebene Schuttkegel des Birchbaches ist immer noch um ein Mehrfaches grösser als die Masse des jetzigen Bergsturzes. Womit klar wäre: Das Problem ist hier nicht die Natur. Das Problem ist die Anwesenheit des Menschen.
Vor allem die Anwesenheit gewisser Menschen.
Die soziale Umwelt tritt einem in diesen heiklen Momenten bisweilen kafkaesk entgegen, so dass spätestens jetzt Emotionen in mir aufkommen: Ich sehe grossmundig angekündete Pressekonferenzen, vor deren Beginn (welcher Lump hat schon die Kamera eingestellt?) zwei Bundesräte lachen, als wären sie kurz vor dem Durchschneiden eines roten Bandes auf einem Jahrmarkt.
Und ich sehe den französischsprachigen Walliser Staatsrat Stéphane Ganzer, der von der zweiten offiziellen Amtssprache des Kantons Wallis keine Ahnung hat und überdies noch nicht mitbekommen hat, welche Gemeinde des anderssprachigen Kantonsteils hier so schwer getroffen ist. Er sagt Wiler statt Blatten. Tatsächlich.
Bei Lichte betrachtet: Lassen wir künftig gescheiter die künstliche Intelligenz eine Rede halten. Solche Gestalten dürfen zu Hause bleiben. Sie sollen auch alle Regierungsgebäude meiden. Gleiches gilt für gewisse Chefbeamte, die an diesen Medienkonferenzen weder eine einfache Frage verstehen noch einen einzigen normalen Satz zu antworten imstande sind.
Will man das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in einen Staat nachhaltig zerstören, dann hat man hier eine Bedienungsanleitung vorgeführt bekommen. Oder müsste ich mildernde Umstände gelten lassen, weil das Care-Team zum Zeitpunkt dieser Pressekonferenz noch nicht auf Platz war? Die Angereisten von Bund und Kanton hätten die «professionelle Hilfe» deutlich nötiger gehabt als die Einheimischen.
So weit jene Tatsachen, die ich als unfassbar einstufe. Trost ‹von oben›, also von «denen da oben», wird man uns zweifellos schon am nächsten Jodler- oder Blasmusikfest wieder zusprechen, bei dem die gleichen Herren die kantonale Einheit und die schweizerische Solidarität beschwören werden.
Die Bevölkerung hält zusammen
Am anderen Ende der Skala gebührt den Menschen Respekt, die an Ort und Stelle arbeiten, Tag und Nacht. Sie sind an der Front, sie wissen, wovon sie reden, und sie wissen, was sie machen und weshalb. Vom Entscheidungsträger bis zum letzten Ausführenden tun sie ihr Ding. Dieses Verhalten erlebe ich jetzt überall in der Bevölkerung: Man ist konkret zugange, man wird aktiv. Mir wurde mehrfach eine Wohnung angeboten, «wir haben Kleider deiner Grösse, melde dich bei uns, falls du etwas nötig hast, wir sind dort und dort in jenem Haus».
Was die Einheimischen seit der Evakuierung an gegenseitiger Hilfe geleistet haben, berührt mich. Meine Mutter, immerhin im 96. Altersjahr, lebt jetzt in einer Ad-hoc-WG – und erfüllt mit Abwaschen und Salatrüsten täglich ihre kleine Aufgaben. Zum Packen hatte sie wenige Minuten Zeit, es blieb, was sie gerade am Leibe trug, rasch noch die Medikamente in eine Tasche – und ab ging’s. Sie wurde, gerade so, wie sie dastand, in Sicherheit gebracht, und kurz darauf verschwand ihr Haus, ihre Umgebung und überhaupt alles, was zu ihr gehörte. Für immer.
Bei all diesem Unfassbaren bin ich selbst erstaunlich gefasst. Vielleicht auch, weil ich schon als Jugendlicher unter dem Birchgletscher unterwegs war: Wenn es hiess ga sandun (zu den Schafen gehen, die Tiere zählen, sind alle gesund? Salz streuen, Felle streicheln . . .), dann hielten der alte Bergführer Max oder Onkel Fidelis vor der Passage unter dem Gletscher inne, schauten nach oben, warteten, ob keine rollenden Steine zu sehen oder zu hören waren. Dann absolvierte man schnell und wortlos den Weg unter diesen Hängen, einer nach dem anderen, etwas Abstand, keine Pause. Das war vor fünfzig Jahren.
Seither streife ich gelegentlich durch diese Talkessel am Fuss des Bietschhorns, durch wegloses Gelände, wo der Blick immer wieder auf immense Flächen lockeren Schutts und maroden Gebirges fällt, und auf die Taldörfer, die tausend Höhenmeter tiefer liegen. Wie oft hab ich mich gewundert, dass «das» hier oben überhaupt hält. Wie oft hab ich mich gewundert, dass da unten, wo schon zu römischer Zeit die ersten kleinen Siedlungen archäologisch belegt sind, der Mensch immer bleiben konnte. Bis heute.
Gerne wird in solchen Momenten von Jahrhundertereignissen gesprochen. Aber in Blatten handelt es sich eher um ein Jahrtausendereignis: Alles, was man bisher in näherer und weiterer Umgebung an Lawinen, Murgängen, Gletscherabbrüchen und Felsstürzen gekannt hatte, wurde um Faktoren übertroffen. Die ältesten Gebäude von Blatten, es sind solide Kantholzblockbauten, datieren aus dem 15. Jahrhundert. Sie wurden weggefegt wie die neuesten Bauten jener jungen Familien, die die Hoffnungen der überalterten, eh schon ausblutenden Bergdörfer der Gegenwart dargestellt haben.
Einige Häuser stehen noch
Es geht uns in diesen Tagen emotional wohl ähnlich wie den Heimatvertriebenen des Zweiten Weltkrieges, wie den Einwohnern jener Orte, die in der Hochkonjunktur in Stauseen verwandelt wurden, wie den Geflüchteten der schweren Brandkatastrophen, von denen es im Wallis mehrere gab.
Das Nachbardorf von Blatten heisst Wiler und wurde ziemlich genau vor 125 Jahren durch einen katastrophalen Grossbrand vollumfänglich zerstört. Heute ist es die wirtschaftlich blühendste Gemeinde des Tales.
Wir hätten unser Dorf, aber nicht unser Herz verloren, sprach der Gemeindepräsident von Blatten an einer Medienkonferenz mutig und wies auf Licht am Horizont. Auf den endlosen Schuttflächen, die sich wie ein unbeholfen gestrandeter brauner Koloss ausbreiten, ist kaum an Häuserbau zu denken. Doch die Realität von Blatten ist auch, dass auf den östlichen Felsrücken des Dorfes einige Häuser oberhalb der Schuttmassen stehen, noch immer, und hinter ihnen scheint der Schutzwald intakt.
Sind hier und im nahen Weiler Eisten, wo Dutzende leere, alte landwirtschaftliche Gebäude existieren, die Plätze für das künftige Blatten? Zumindest für jene Menschen, die den Mut für eine Rückkehr haben und denen kantonale wie eidgenössische Behörden nicht mit Bauvorschriften, Reglementierungen und bürokratischen Prozessen von mehreren Jahren die letzte Lust zerstören, hier wenigstens ein Stück Heimat wiederaufzubauen.
Einem Ereignis wie Blatten mit all seinen Fragezeichen kann ein kurzer Text nie gerecht werden. Und noch ist es zu früh für Lösungen aller Art. Viele wissen noch nicht, ob und was sich entwickeln kann. Aber es geht weiter. Es geht immer weiter.
Eine Wegstunde hinter dem erdbraunen Koloss habe ich im Weiler Kühmatt auf 1630 Metern, Anfang Mai war es, ein kleines Äckerlein umgestochen und ein paar Kartoffeln gesetzt. Noch liegt die Ernte in einiger Ferne. Aber die ersten Keime werden bald aus dem Boden schauen. Im Kleinen gedeiht da etwas.
Werner Bellwald (65) aus Blatten im Lötschental ist Kulturhistoriker, Ethnologe und Autor. Er ist wissenschaftlich tätig, schreibt Bücher, lanciert Kulturprojekte und konzipiert Ausstellungen.