Fast alle wollen derzeit «politische Mitte» sein. Das Problem dabei: Die Botschaft muss möglichst viele ansprechen und wirkt langweilig. Davon profitieren die radikalen Ränder links und rechts.

Nachdem die Bundestagsparteien jenseits des linken und rechten Rands trotz allen Befürchtungen doch noch eine Mehrheit erhalten haben, ist das, was man seit je die «politische Mitte» nennt, immerhin nicht wie in Frankreich und anderen europäischen Staaten zur bedrohten Art, zu einer aussterbenden Minderheit geworden. Das aber kann sich durchaus ändern.

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Der Begriff ist ebenso diffus wie populär, unscharf und abgenutzt, ein «mobiler Deutungsort», wie der Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel einmal sagte. Bürgerliche Mitte, alte Mitte, neue Mitte, soziale Mitte, progressive Mitte – fast alle wollen irgendwie Mitte sein, weil dort, wie die Politikwissenschafter sagen, die Wahlen gewonnen werden. Aber gehört die Grüne Jugend, die Friedrich Merz für einen «Reaktionär» und «Rassisten» hält, zur politischen Mitte? Oder jene Jusos und linken Sozialdemokraten, die immer noch dem «demokratischen Sozialismus» nachtrauern?

Mass und Mitte, Vernunft und Skepsis

Wenn der Begriff der «Mitte» sinnvoll ist, dann als Bezeichnung jener politischen und gesellschaftlichen Kräfte, die die parlamentarische Demokratie, den Rechtsstaat und eine pluralistische Öffentlichkeit tragen und verteidigen – vor allem gegen jede Form von Extremismus. Der Rechtsphilosoph Ernst-Wolfgang Böckenförde brachte den Umstand, dass es ohne ein Fundament demokratisch gesinnter Bürger keine Republik geben kann, 1964 so auf den Punkt: «Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.» Da hilft im Zweifel auch kein Bundesverfassungsgericht.

Mass und Mitte gehören dabei zusammen, ebenso wie Vernunft, gesunde Skepsis und abwägendes Räsonnement, Toleranz gegenüber Andersdenkenden und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, im positiven wie im negativen Fall – für das Gemeinwesen wie für das eigene Handeln, Stichwort Rechenschaftspflicht. In einem Wort: Die Mitte steht in der Tradition der europäischen Aufklärung. All das klingt wenig aufregend, fast langweilig, so ganz ohne mitreissende Visionen und begeisternde Utopien.

Grundbedürfnis nach Konsens

Das Problem: Das Profil der «Mitte» ähnelt einem abgefahrenen Reifen, der immer wieder runderneuert, aufgearbeitet werden muss. Dabei hilft politisches Framing, also eine Botschaft, die möglichst viele anspricht und zugleich möglichst wenig sagt, wofür man später haftbar gemacht werden kann.

Die tagelangen Angela-Merkel-Festspiele anlässlich des Erscheinens ihrer Autobiografie, bei denen fast die gesamte Medienlandschaft strammstand und ein orchestriertes Festtagsspalier organisierte, haben noch einmal eindrucksvoll das deutsche Grundbedürfnis nach Konsens unter Beweis gestellt. Kein Wunder. Ihre völlig inhaltsleere Autobiografie, mit der sie nun auch offiziell beglaubigt, wie nachhaltig sie das Land eingeschläfert und ruhiggestellt hat, ist ein historisches Dokument; es belegt, wie erfolgreich sie bei der Beschleunigung des Schrumpfprozesses der politischen Mitte war. Die AfD ist Zeuge.

Die politische Mitte, die in den siebziger und achtziger Jahren noch mehr als 90 Prozent Zustimmung verzeichnete – Beispiel Bundestagswahl 1987: CDU/CSU 44,3 Prozent, SPD 37 Prozent, FDP 9,1 Prozent, Grüne 8,3 Prozent –, ist ähnlich wie in ganz Europa dramatisch geschrumpft. In den östlichen Bundesländern, wo die DDR-Prägung immer noch ihre Spuren hinterlässt, kann sie jetzt schon allein keine stabile Mehrheit mehr bilden und ist auf die Putin-Freunde des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW) angewiesen. Umso erstaunlicher, dass anders als etwa in Frankreich, Italien und den Niederlanden die deutschen Christlichdemokraten als grosse Volkspartei überlebt haben und nun den neuen Kanzler stellen.

AfD profitiert von Vertrauenskrise

Doch der Druck von rechts und links aussen, von AfD, BSW und Linkspartei, hält an. Eigentlich ist es eine Binsenwahrheit, dass das Versagen der politischen Mitte auf vielen Politikfeldern – zuvörderst in der Asyl- und Migrationskrise, aber auch bei Bildung, Infrastruktur und Sicherheit – zu einer Vertrauenskrise geführt hat, von der vor allem die AfD profitiert. Dass diese derart dauerhaft vor den Sozialdemokraten liegt, sollte genügen, um nachhaltig ins Grübeln zu geraten, woran das liegen könnte.

Dabei ist es ganz einfach: Die ruhmreiche Arbeiterpartei von Bebel, Liebknecht, Ebert, Scheidemann, Schumacher und Brandt vertritt weithin nicht mehr die Interessen derer, die sie jahrzehntelang gewählt haben. Exemplarisch ist das Paradeprojekt namens «Bürgergeld», von dem inzwischen weit mehr Ausländer, Flüchtlinge und Migranten profitieren als die ursprüngliche Zielgruppe deutscher Arbeitsloser, die zuvor meist jahrzehntelang einer Beschäftigung nachgegangen waren.

Als soziale Grosstat geplant, erweist sich das Ganze nun als Steuergeld verschlingendes, für den Arbeitsmarkt schädliches und sozial ungerechtes bürokratisches Monstrum. Da die SPD den Sozialstaat zur Tabuzone erklärt hat, auch wenn er immer neue Ungerechtigkeiten, steigende Kosten und jede Menge Fehlanreize samt Mitnahmeeffekten hervorbringt, ist sie nicht in der Lage, eine konsistente Reformpolitik für die Mehrheit der Bevölkerung zu entwickeln – also für die arbeitende Mitte.

By the way: Seit Hartz IV gilt allein der Begriff «Reform» als toxisch, ähnlich wie das Wort «sparen», auch wenn es in der politischen Sphäre allenfalls bedeutet, dass etwas weniger Schulden aufgenommen werden als geplant. Der Schuldenberg an sich samt Zinsen – allein im Bundeshaushalt mehr als 30 Milliarden Euro pro Jahr – wächst natürlich immer weiter. Das ficht die Verächter der im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse nicht an, obwohl ein Blick nach Frankreich, wo de facto eine Staatspleite à la Griechenland droht, durchaus «hilfreich» (Merkel) wäre.

Das wird nun Aufgabe einer neuen Koalition sein, die zuallererst eine Art Kassensturz machen wird, bei dem auch die Tatsache zur Sprache kommen muss, dass inzwischen ein Viertel des Bundeshaushalts aus Steuerzuschüssen für die gesetzliche Rente besteht – ein struktureller, auf Dauer unbezahlbarer Wahnsinn. Rechnet man die Ausgaben für die Asyl- und Flüchtlingspolitik, Bürgergeld und andere Sozialausgaben hinzu, dann kommt man schätzungsweise auf einen Betrag von jährlich 300 Milliarden Euro, mehr als die Hälfte des gesamten Haushalts.

Wenig Leistungsbereitschaft

Dass all das erst einmal erarbeitet und verdient werden muss, ist inzwischen bei vielen in Vergessenheit geraten. Laut einer Erhebung der OECD wird in keinem Land so wenig gearbeitet wie in Deutschland – bezogen auf die Jahresarbeitszeit etwa 200 Stunden weniger als im europäischen Durchschnitt. Nun erzeugt nicht jede Stunde Arbeit die gleiche Wertschöpfung, aber der grundsätzliche, gleichsam metaphysische, ja moralische Wert der Arbeit ist in Deutschland in Verruf geraten – zu viel, zu lang, zu stressig, zu schlecht bezahlt und überhaupt: warum eigentlich?

Jenseits der Zeitgeist-Polemik zwischen «Babyboomern» und «Generation Z» liegt die historische Wahrheit, dass der Aufstieg des Bürgertums im Europa der Kaiser und Könige seit dem 16. Jahrhundert auf das Engste mit Arbeit, Tatkraft, Leistungsbereitschaft, Selbstbewusstsein und Zukunftsoptimismus verbunden war – nützliche Sekundärtugenden einer neuen, aufstrebenden Klasse, die die Geschichte des Kontinents bis heute prägt: die bürgerliche Mitte der Gesellschaft.

Als profilierte gesellschaftliche Formation ist sie freilich kaum noch erkennbar. Zwar ist sie zur begehrten Zielgruppe von Wahlkampagnen für Besserverdiener, Steuerzahler und Gutlebende geworden, Leistungsträger eo ipso, eine Konsum-affine Klientel mit Hang zu Fernreisen, guten Restaurants und schönen kulturellen Erlebnissen, doch sie tritt nicht mehr als souveräne Kraft auf, die eine dynamische Agenda verfolgt.

Sie konzentriert sich auf die Wahrung der eigenen Interessen, versucht, auch in Krisenzeiten den privaten Wohlstand zu mehren, und schickt die Kinder gerne auf Privatschulen, wenn die öffentlichen Schulen in der näheren Umgebung einen zu hohen Anteil an Schülern mit Migrationshintergrund aufweisen. Die Grünen kann man ja trotzdem weiter wählen. Auch Ungläubige dürfen Ablasshandel betreiben.

Aktivierbare Restbestände

Jetzt aber, nach der Bundestagswahl, wird die bürgerliche Mitte mit den aktivierbaren Restbeständen von Bildung, Engagement und Verantwortungsbewusstsein für das Ganze dringend gebraucht – als politische Kraft einer entschiedenen Veränderung der Verhältnisse, die am Ende allen zugutekommen sollte.

Am wichtigsten: eine Renaissance der Marktwirtschaft jenseits des planwirtschaftlichen Staatsdirigismus, Durchforstung des irrsinnigen Bürokratiedschungels, eine grosse Bildungsoffensive von der Grundschule bis zur qualifizierten Berufsausbildung, dazu die massive Verringerung der illegalen Migration, Stärkung der Kriminalitätsbekämpfung und eine effektive Reform des Sozialstaats – mehr Geld, vor allem Investitionen, für Menschen, die arbeiten, und weniger Transferleistungen für die, die nicht arbeiten, obwohl sie es könnten.

Wenn das die furchtbare «Rückkehr in die bräsigen neunziger Jahre» wäre, welche die famose SPD-Vorsitzende Esken bei einer Kanzlerschaft von Friedrich Merz so sehr fürchtete, dann her damit, wobei die Verwendung des Attributs «bräsig» für die Jahre des Aufbruchs nach Mauerfall und Wiedervereinigung nichts weiter ist als eine Projektion der eigenen Geschichtsblindheit: sozialdemokratisches Provinzlertum.

Es wird allerdings nicht auf Esken und Co. ankommen, sondern darauf, ob sich die noch existierende politische Mitte dazu aufraffen kann, den politischen Bruch mit der woken «Ampel»-Republik wenigstens mit Sympathie zu begleiten. Andernfalls wächst die Wahrscheinlichkeit, dass man beim nächsten Mal zum Schluss kommen könnte: Isch over, Baby!

Dann übernehmen die Leute mit den radikalen «Visionen», vor denen schon Helmut Schmidt gewarnt hat.

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