Samstag, Januar 4

Seit mehr als drei Jahrzehnten reist Noriaki Kasai auf der Suche nach dem perfekten Sprung um die Erde – inzwischen ist er in der Anonymität des zweitklassigen Continental-Cups angekommen. Was treibt diesen Mann an?

«Meine Damen und Herren. Jetzt kommt der Doyen der Skispringer schlechthin. Einfach schauen und geniessen», erklingt es durch die Lautsprecheranlage. Es ist Freitagnachmittag in Engelberg, am Schanzentisch sitzt ein Unikum: Noriaki Kasai, 52, einer der klingendsten Namen in der Geschichte dieser Sportart. Er springt ab, fliegt 122,5 Meter, aber aus dem Zielraum ist kein «Zieeeeeeh» zu hören, wie das sonst oft der Fall ist. Wie auch? Auf der Tribüne verlieren sich 84 Menschen und ein Hund. Das Weltcup-Springen fand eine Woche zuvor statt; der Zirkus ist weitergezogen in Richtung Vierschanzentournee, die noch immer die Massen anzieht.

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Das hier ist der Continental-Cup, die zweithöchste Division, ein Vehikel, über das der Nachwuchs sich nach oben kämpfen kann – vergleichbar mit dem Europacup im Ski alpin. Wer sich hier bewegt, tut das in totaler Anonymität. Es gibt keine TV-Übertragungen und kaum Zuschauer. Die Medienchefin sagt, man brauche keine Akkreditierung, es sei eh nicht viel los. Im eisigen Wind lottern die Schilder der längst abgereisten TV-Stationen. Es gibt keine Tickets, keine Gastronomie, nur 52 Athleten, die sich nach oben strampeln wollen. Nur für die besten acht Springer gibt es Preisgeld; 3900 Franken total, der Sieger erhält 1000, wie das Internet weiss. Das vom Weltverband FIS ausgegebene Regularium umfasst sechs Seiten, der Vermerk «2023/24» ist durchgestrichen und mit roter Farbe korrigiert worden.

1992 holte Kasai in Planica WM-Gold im Skifliegen – es blieb sein einziger grosser Titel

In diesem Umfeld ist Kasai angekommen. Ein Mann, der viel erreicht hat und so viele Rekorde hält, dass er dem Team des «Guinness-Buchs der Rekorde» bei der Übergabe einer weiteren Plakette jüngst sagte, er habe zu Hause keinen Platz mehr. Man könnte mühelos den Rest dieses Artikels mit Meriten füllen, so wie ein Reiseleiter bei einer Stadtrundfahrt Fakt um Fakt herunterleiert, von denen man sich nicht einen merken kann.

1988 debütierte Kasai mit 16 im Weltcup, er flog wie alle anderen im Parallelstil und musste den gesamten Bewegungsablauf neu erlernen, als die bis heute gängige V-Technik aufkam. Seiner extremen Oberkörpervorlage wegen erhielt er den Übernamen «Kamikaze Kasai», und auch weil er im Training die Risiken nicht dosierte. Inzwischen hat Kasai die meisten Weltcup-Starts absolviert und nahm acht Mal an Olympischen Spielen teil. 1992 wurde er Weltmeister im Skifliegen. Im gleichen Jahr kam hierzulande der Super Nintendo auf den Markt und Baby Jail sangen die «Tubel Trophy». Es ist unsagbar lange her.

Aber Kasai ist immer noch da, und es stellt sich schon die Frage: Warum eigentlich? Er zieht seinen Goldhelm aus, überlegt kurz und sagt dann: «Ich liebe diesen Sport. Und es gibt noch so viel, was ich nicht geschafft habe: Ich habe kein Olympiagold, keinen Weltmeistertitel im Skispringen. Ich suche noch immer nach dem perfekten Sprung.»

Der letzte Satz vereint viel in sich. Es hat etwas Rührendes und Tragisches, dass Kasai in 37 Jahren als Profi nie Perfektion gefunden hat, auch in seiner Blütezeit nicht, als er viele Springen gewann. Und etwas Romantisches, dass er dieser offenkundig unerreichbaren Illusion auch heute noch hinterherfliegt, mit 52, und sei es in der Anonymität von Engelberg. Obwohl das Ziel am Horizont immer weiter zu entschwinden scheint. Sein letzter Podestplatz bei einem FIS-Wettbewerb liegt acht Jahre zurück.

Hat er sich nie überlegt, aufzuhören, zu coachen, einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen – zumal als inzwischen zweifacher Vater? «Nur Coach sein?», fragt Kasai und wirkt erstaunt. Das könne er mit 60 immer noch tun. So lange will er weiterspringen. Er fühle sich körperlich und mental stark. Manchmal schmerzten die Knie, aber das sei noch lange kein Grund, aufzugeben. Er ist Angestellter des von einem Immobilienunternehmen finanzierten «Team Tsuchiya» und in Japan ein Volksheld, der sich das Privileg erarbeitet hat, selbst zu entscheiden, wann es Zeit ist, in Rente zu fliegen.

Auch der vierfache Olympiasieger Simon Ammann springt trotz durchzogenen Resultaten einfach weiter

Kasai ist nicht der einzige etwas angejahrte Skispringer, der weitermacht, obwohl die Erfolgserlebnisse selten geworden sind. Der Toggenburger Simon Ammann müht sich mit 43 noch immer im Weltcup ab; an den letzten zehn Springen hat er die Qualifikation für die Top 30 verpasst. In Engelberg steht Bernhard Schödler, Ammanns früherer Coach, der seit drei Jahren für die FIS den Continental-Cup managt. Und dabei Abenteuer erlebt. In China hätten die Organisatoren kürzlich vergessen, einen Speaker zu organisieren. Er sagt: «Skispringen ist ein spezieller Sport, er kann zur Sucht werden. Wenn ein Skispringer aufhört, dann ist es fertig. Man kann nicht einfach in der Freizeit eine Schanze herunterhüpfen und das als Hobby betreiben wie Fussball oder Eishockey. Ich denke schon, dass das ein Faktor ist. Dass sich manche Athleten davor fürchten, nicht mehr fliegen zu können.»

Kasai nickt, als er auf diese Theorie angesprochen wird. Und sagt: «Ich liebe diesen Sport zu sehr, als dass ich aufhören könnte.»

Als Ziel gibt er die Rückkehr in den Weltcup an und die Teilnahme an den Olympischen Spielen in Italien 2026. «Nummer 9», sagt er lächelnd. Und blendet gekonnt aus, dass das sportlich wenig realistisch ist. In gewisser Weise ist Kasai Opfer seines eigenen Erfolgs: Sein Bekanntheitsgrad ist mitverantwortlich dafür, dass Japan seine Tradition als stolze Skisprungnation fortgeführt hat. Die Konkurrenz um die Startplätze ist gross; mit Ryoyu Kobayashi gibt es einen absoluten Überflieger. 2022 schaffte Kasai den Cut nicht, Peking erlebte er nur als TV-Kommentator.

Für die Spiele in Mailand braucht er jeden Punkt. In Engelberg sammelt er nicht viele – am Freitag wird er 13., am Samstag 23. Stört es ihn nicht, hier vor leeren Rängen zu springen? Kasai sagt: «Klar wäre ich lieber im Weltcup. Die Fans fehlen mir, ich springe auch ihretwegen weiter, sie motivieren mich.» Längst ist er ein Publikumsliebling, was ihn selbst zunächst erstaunte: Als die Leute ihm in Europa zujubelten, dachte er, sie würden sich über sein Alter lustig machen. Erst mit der Zeit realisierte er, dass die Bewunderung echt ist. Noriaki Kasai fragt sich, wie es erst sein wird, wenn ihm der perfekte Sprung gelingt.

Exit mobile version