Sonntag, Oktober 6

In der «Blinden Kuh» im Zürcher Seefeld tappt man buchstäblich im Dunkeln. Und wenn das Auge ruht, erwachen die anderen Sinne.

Das Auge, so will’s der Volksmund, isst mit. An diesem Abend aber fischen wir im Finstern in den Tellern. Das ist der Clou der «Blinden Kuh» im Zürcher Seefeld.

Das Restaurant in einer ehemaligen Kapelle, das im September sein 25-Jahr-Jubiläum feiert, ist ein Pionierprojekt mit mehrfachem Nutzen: Es beschäftigt gegen dreissig Leute mit oder ohne Sehbehinderung zu marktüblichen Löhnen und vermittelt den Gästen eine Ahnung davon, was ein Leben ohne Augenlicht bedeutet.

Unserem Kellner, der sich als Matze vorstellt, hat vor dreissig Jahren im Kindesalter eine Erkrankung der Netzhaut fast das ganze Sehvermögen geraubt. Er holt uns beim Empfang ab, wo wir die monatlich wechselnde Karte studieren, führt uns in einer Art Polonaise zum Tisch und begleitet uns geduldigst durch den stockdunklen Abend. Raumgrösse und Gästezahl sind schwer abzuschätzen, es sollen ein Dutzend Tische sein – fast alle für sechs bis acht Personen, nur einer für Tête-à-têtes.

Der gute Freund, mit dem ich dieses kleine Abenteuer wage, wählt à la Carte, ich das dreigängige Menu surprise (Fr. 78.–), und die Herausforderungen beginnen beim Anstossen mit dem Apéritif: Die Gläser verfehlen sich beim ersten Versuch, beim zweiten fällt das Klingen noch zaghaft aus. Aber das heitere Ratespiel ist eröffnet: Beim Gin Tonic (Fr. 15.–) tippe ich auf ein Tonic von Schweppes, was später draussen ein Blick auf die heimlich abgelöste Etikette bestätigen wird.

Zum Glück wird uns kein Schweigegelübde abverlangt in der einstigen Kapelle. Die vertraute Stimme des Begleiters vis-à-vis lässt dessen jüngste Ferien auf Madagaskar aufleben. Er schildert den Gesang der Lemuren, der bei Tagesanbruch den Urwald erfüllt, und die Finsternis der Nächte, geschuldet der Stromrationierung.

In der «Blinden Kuh» aber erlischt das Feuerwerk an optischen Reizen, das im Alltag oft unsere Wahrnehmung vernebelt, für ein paar Stunden. Das Auge ruht, es erwachen alle anderen Sinne. Und das erweist sich, ist das anfängliche Unbehagen einmal verflogen, auch für die Seele als Gewinn. Dies ist ein Grund für den Erfolg des Konzepts, das seit 2005 auch in Basel umgesetzt wird und an der Expo.02 für Aufsehen sorgte.

Matze, dem Vernehmen nach ein Abenteurer, der das Meer, den Salzgeruch, den Sand unter seinen Füssen liebt, bringt die Vorspeisen. Sofort steigt mir ein unliebsamer Duft in die Nase: Trüffeln! Auf der Zunge wird das parfümierte Öl zum Glück weitgehend vom Aroma des Rucolasalats überlagert, der so leicht zu erraten ist wie das pochierte Ei. Es folgt ein saftiges, dick tranchiertes Roastbeef, dessen mundgerechte Portionierung im Dunkeln einiges abverlangt, doch Tischmanieren (ausser dem Schmatzverbot) sind in diesem Kuhmagen fakultativ; das dazu gereichte Ratatouille ist fast wie eine Caponata mit Essig zubereitet, so dass man das Fleisch für einen Sauerbraten halten könnte.

Der Freund führt ein Mitbringsel aus Madagaskar mit, das Auspacken wird zum sensorischen Erlebnis: Der Duft der Vanilleschoten kitzelt die Nase, zwei beigefügte, geschnitzte Löffel beschnuppere und betaste ich. Als weiteres Präsent hat er mir eines seiner Eierschwämmli-Ravioli (Fr. 32.–) auf den Tellerrand gelegt, doch als ich es kosten will, stochere ich im Leeren. Es ist unauffindbar. Geht etwa ein Dieb um? Sei’s drum, wir heben die Kelche mit dem spanischen Roten «Lazarus» (Fr. 9.30/dl), in dessen Namen Düsternis und Licht anklingen. Diesmal finden sich die Gläser schon besser, und jene mit dem Digestif bringen wir schliesslich fast traumwandlerisch sicher zum Klingen.

Die Quarkmousse mit Erdbeeren und das Erdbeersorbet sind leicht zu identifizieren und munden. Doch in dieses Dunkelrestaurant – selbst der Duden führt heute den Begriff – kommt man wohl weniger des Essens als der Erfahrung wegen. Nur leicht getrübt wird diese durchs Knistern des Funkgeräts zur Küche, der wohl auch der winzige Funken Licht entweicht, der gelegentlich aufblitzt. Nur einmal leuchtet an einem Tisch ein Smartphone auf, das eigentlich in einem der Kästchen draussen zu deponieren gewesen wäre, und ein Gast schimpft: «Heilandsack!» Auch fluoreszierende Zifferblätter oder Fingernägel sind untersagt – und Lachs, dessen Haut lumineszierende Bakterien zum Leuchten bringen, wurde von der Speisekarte verbannt.

«Wenn ihr gehen möchtet, ruft!», sagt Matze. Er wird uns als letzte Gäste hinausführen, als alle Stimmen in diversen Sprachen verstummt sind. Wir schätzen, knapp zwei Stunden im Walfischbauch verbracht zu haben. Tatsächlich sind es fast drei.

Restaurant Blinde Kuh
Mühlebachstrasse 148, 8008 Zürich
Montags geschlossen.
Telefon 044 421 50 50

Für diese Kolumne wird unangemeldet und anonym getestet und am Ende die Rechnung stets beglichen. Der Fokus liegt auf Lokalen in Zürich und der Region, mit gelegentlichen Abstechern in andere Landesteile.

Die Sammlung aller NZZ-Restaurantkritiken der letzten fünf Jahre finden Sie hier.

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