Mittwoch, März 12

Was bringt diese Lebensweise? Lohnt sich jene Partnerwahl unter dem Strich? Selbst im Privaten werden Lebensfragen bilanziert. Das rechnende Denken darf nicht dominieren, sonst gibt man der künstlichen Intelligenz den Vorrang.

Wenn es um die Chancen und die Gefahren des digitalen Zeitalters geht, etwa der künstlichen Intelligenz, entsteht oft der Eindruck, diese Hightech-Evolution sei von der Erfindung des Computers und des Internets ausgelöst worden. Computer und Internet sind jedoch nicht Ursache, sondern ein Ergebnis dieser Evolution. Sie konnten nur deshalb erfunden werden, weil das Denken des Menschen schon vor der Industrialisierung ein «rechnendes Denken» geworden war, wie es der Philosoph Martin Heidegger diagnostiziert hatte. Damit meinte er ein Denken nicht im philosophischen Sinn, sondern ein Forschen und Kalkulieren, ein zweckorientiertes Sammeln und Anwenden von Arbeitshypothesen.

Betrachtet man den Zusammenhang zwischen Denken, Wissenschaft und Technologie, dann geht es nicht um das Potenzial neuer Erkenntnisse oder Technologien, sondern um die Frage nach ihrer Bedeutung für das Menschsein. Wie kann eine digitale Zivilisation, die sich dem rechnenden Denken verdankt, ihre Errungenschaften nicht allein zweckorientiert und kalkulierend, sondern in einem ganzheitlichen, humanistischen Sinn sich zu eigen machen?

Grund des Seins

Eine Kultur, in der Technologien dem Menschen dienen und nicht umgekehrt, in der nur Maschinen nach Massgabe ihrer Nützlichkeit beurteilt werden, aber keine Menschen – eine solche kann mit empirischer Forschung oder Kosten-Nutzen-Erwägungen weder geschaffen noch erhalten werden. Dies geht nur mit Fragen anderer Natur, etwa mit der, was die Natur des rechnenden Denkens ist, inwiefern es dem Leben dient, wie es sich zur seelischen Dimension des Daseins verhält oder zum philosophischen und «besinnlichen Denken», wie Heidegger es nennt.

Rechnendes oder besinnliches Denken: Um zu verstehen, dass dies keine begrifflichen Feinheiten sind, sondern unterschiedliche Zugänge des menschlichen Geistes zur Wirklichkeit, ist eine Betrachtung des Begriffs «denken» im klassischen Sinn hilfreich. Von der antiken griechischen Tradition bis zur Aufklärung war damit auch ein Denken gemeint, das nach Ursache und Bedeutung des Seins fragt. Man wollte sich auf etwas besinnen, was jeden Menschen im Innersten unmittelbar betrifft. Das geht weit über das Speichern, Ausweiten oder Anwenden von Fachwissen hinaus, wie es dem rechnenden Denken eigen ist.

Das besinnliche Denken fragt nach der Bedeutsamkeit von Ereignissen und Phänomenen, nach dem tieferen Zusammenhang. Zur Besinnung kommen bedeutet hier also, sich denkend auf den Grund des Seins einzulassen, auch wenn dies in schwer fassbare Dimensionen des Denkens und Lebens führt. Daher charakterisiert Heidegger das besinnliche Denken als «Offenheit für das Geheimnis».

In Forschung, Politik und Wirtschaft ist heute wenig Platz für Geheimnisse, denn es dominiert das rechnende Denken. Selbst im Privaten werden heute nicht nur die persönlichen Finanzen, sondern auch Lebensfragen nach Art einer Bilanz beurteilt. Was bringt oder kostet eine Handlung, eine Lebensweise? Wird sich diese oder jene Berufswahl, diese oder jene Partnerwahl unter dem Strich lohnen? Rechnet sich das gewählte Leben? Überwiegen die positiven Seiten nach Abzug aller negativen?

Frühes Tinder von Charlie Chaplin

Umgeben von den Geräten der Hightech-Kultur, die sich dem rechnenden Denken verdanken, betrachtet man offenbar auch das Leben wie eine Daseinsmaschine. Diese soll laufend optimiert werden für die bestmögliche Pendelbewegung zwischen Leistung und Konsum, bei grösstmöglicher Leidvermeidung. Wenn die Rechnung eines Tages nicht mehr aufgeht, durch Unfall, Krankheit oder Alter, wird es Zeit, die defekte Maschine abzustellen. Eine Denkweise, die viele Debatten um Sterbehilfe und «selbstbestimmtes Sterben» der letzten Jahre erklärt.

Interessant ist, dass bereits Charlie Chaplin in «Modern Times» (1936) Bilder für das maschinelle Selbstverständnis des Menschen gefunden hat. Bilder, die nicht einfach von der Ausbeutung des Menschen durch die Fabrik erzählen, sondern vom umfassenden Prozess der Besitzergreifung des Menschen durch die Funktionsweise der Maschine. Es ist kein Zufall, wenn Chaplin im Film nicht nur um die berühmt gewordenen Riesenzahnräder kreist, sondern auch sonst beginnt, den Gesetzen der Maschine zu gehorchen. Mit am Fliessband erlernten Schraubbewegungen macht er sich, als wäre es eine neue Körpersprache, an die Brüste von Frauen heran. Das Verhältnis zwischen den Maschinen wird zum Verhältnis zwischen Mann und Frau. Eine Vorschau in Schwarz-Weiss auf die heutigen Smartphones und Partnerbörsen à la Tinder.

Ein weiterer Hinweis auf die Dominanz des rechnenden Denkens ist der Erfolg des Utilitarismus in Politik und Gesellschaft. Entsprechend dem verbreiteten moralischen Relativismus geht es in der Praxis von Regierungen, Ethikräten oder Expertengruppen bei der Bewertung neuer Technologien, Gesellschaftstrends oder Krisen meist nur noch darum, Handlungsweisen vorzuschlagen, die den grösstmöglichen Gesamtnutzen versprechen. Auch sogenannte Wertedebatten oder ethische Leitlinien folgen im Kern dem Gedankenschema einer moralischen Kosten-Nutzen-Rechnung. Nahezu abwesend sind Fragen, die Distanz zum behandelten Problem schaffen und die geeignet wären, Gedankenräume für tiefer reichende Betrachtungsweisen zu öffnen.

Kultur der effizienten Gedankenlosigkeit

Dazu passt der Bedeutungsverlust der Geisteswissenschaften zugunsten der exakten, angewandten Wissenschaften in der universitären Welt. Das zeigt, wie fortgeschritten der Glaube an ein Leben ist, das sich durch empirisch abgesicherte Berechnungen meistern lässt, ohne die Besinnung auf Denkweisen, die von einer unberechenbaren Tiefe der Existenz ausgehen. Je mehr jedoch das rechnende Denken dominiert, desto weniger wird man von solchen Tiefen überhaupt noch hören wollen oder in der Lage sein, zu verstehen, was damit gemeint ist. Dies bereitet den Boden für eine Kultur der effizienten Gedankenlosigkeit. Eine Kultur von Leistungsträgern und Daseinskonsumenten mit smarten Watches und Algorithmen, die ihnen dabei helfen, von einer Chance zur nächsten zu eilen, von der Optimierung der einen Lebensphase zur nächsten, ohne Stillstand und ohne die nötige Stille, um zur Besinnung zu kommen.

Nur eine Gesellschaft, die sich dieser Gefahr bewusst ist, wird menschenfreundlich bleiben. Auch wenn die Lösung nicht darin bestehen kann, gegen die technische Welt anzurennen, denn ihre Errungenschaften sind ein Segen, das steht ausser Frage. Je grösser die Errungenschaften werden, desto grösser allerdings wird die Herausforderung, diese in der rechten, humanen Weise einzusetzen. Nur schon das Smartphone und die Bannkraft der sozialen Netzwerke zeigen, wie schwer es ist, sie als Hilfsmittel im Alltag zu gebrauchen, ohne sich davon absorbieren oder leiten zu lassen. Es braucht eine ausgeprägte Fähigkeit zur kritischen Distanz und zur inneren Stärke, um das digitale Zeitalter zu bejahen und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass nicht das ganze Leben davon beansprucht und gefesselt wird.

So darf das rechnende Denken in einer Gesellschaft nie als das einzig sinnvolle Denken gelten. Sonst wird man der künstlichen Intelligenz, die das rechnende Denken besser beherrscht als der Mensch, bald den Vorrang geben, ja im Sinn des Posthumanismus sogar eine optimierte, bessere Menschheit anstreben, eine Synthese aus Mensch und Maschine. Stattdessen sollte die Technik auf ihren Platz als reine Hilfskraft des Menschen verwiesen werden. Dann bleibt sie ein Gewinn für Kultur und Menschheit und wird nicht zur Bedrohung. Oder mit den Gedanken der amerikanischen Schriftstellerin Joanna Maciejewska: «Ich will, dass die künstliche Intelligenz meine Wäsche wäscht und den Abwasch macht, damit ich Kunst schaffen und schreiben kann, aber nicht, dass die künstliche Intelligenz meine Kunst und mein Schreiben übernimmt, damit ich die Wäsche und den Abwasch machen kann.»

Giuseppe Gracia ist Schriftsteller und Kommunikationsberater.

Exit mobile version