Montag, Oktober 7

Millay Hyatt ist eine leidenschaftliche Bahnreisende. Sie fährt vorzugsweise im Nachtzug, doch nicht, um irgendwo anzukommen.

Es gehört fast schon zum guten Ton, die Eisenbahn und namentlich die deutsche schlechtzumachen. Verspätungen, mürrisches Personal, kryptische Ansagen am Bahnsteig: Wer Bahn fährt, hat mit Widrigkeiten zu rechnen und lässt über die Unzuverlässigkeit modernster Technik altmodisch Dampf ab.

Da mag es durchaus verwunderlich sein, dass ein Buch über das Reisen mit der Bahn auf über 200 Seiten fast gänzlich ohne das übliche Bashing auskommt. Millay Hyatts «Nachtzugtage» ist eine einzige Hommage an das Eisenbahnfahren, bei der es nicht um Unzulänglichkeiten im Betriebsablauf, vielmehr um die Lust und Laune an endlosen Fahrten durch halb Europa und darüber hinaus geht.

Hyatt ist Philosophin und in Berlin lebende Amerikanerin. Letzteres mag sie empfänglich machen für ein geradezu filigranes Schienennetz, das seit der Erfindung der Eisenbahn in der Mitte des 19. Jahrhunderts über unseren Kontinent gelegt wurde. Während es in den USA eher diese langweiligen und geraden Langstrecken gibt, kriecht die Bahn in Europa noch in den letzten Winkel der Länder, untertunnelt Berge, überbrückt Tiefen, führt zu Stationen, die am Rand der Welt zu liegen scheinen. Ländergrenzen stellen kein Hindernis dar.

Nachts sieht man mit anderen Augen

Was immer der Autorin auf ihren Wegen begegnet, «die Tönungen und Schattierungen, die Höhenunterschiede und Kontraste des Terrains, der gebauten Welt, der gesellschaftlichen Realitäten, der kulturellen Erzählungen», interessiert Millay Hyatt. Sie will sie grob und nach und nach in der Psychogeografie ihrer inneren Landkarte «nachzeichnen».

Angesichts der für ein solches Unterfangen erwünschten Wachheit der Sinne erstaunt es, dass Millay Hyatt am liebsten mit Nachtzügen und also zur Schlafenszeit reist. Am liebsten steht sie um Mitternacht an Bahnsteigen und wartet auf die Züge, die vornehmlich mit Liegen und Betten ausgestattet sind.

Sie drängt sich in Abteile, die schon von fünf anderen Passagieren besetzt sind, und quält sich über bereits Schlafende in die oberste Koje. Oder sie hat Glück und bekommt ein eigenes enges Refugium, abschliessbar, mit weichem Kopfkissen und eigenem Bad. Dort breitet sie sich aus wie in einem Hotelzimmer, während vor ihrem Fenster die nachtdunklen Landschaften vorbeihuschen und sie selbst bei Tageslicht an einem ganz anderen Ort ankommt.

Murray Hyatt reist meist von Berlin aus in alle Richtungen. Die Kurzstrecke interessiert sie nicht, ihre Destinationen sind Rom oder Tunis, Belgrad oder Athen, Tbilissi oder Ankara. Sie kenne, schreibt sie, «keinen besseren Grund zu reisen als die Verunsicherung der vermeintlichen Selbstverständlichkeiten, mit denen wir durch unsere Tage und Nächte surfen und stolpern.»

Also nimmt sie das Unbequeme auf sich, das Unvorhersehbare. Sie sucht das Fremde, setzt sich ihm aus und macht sich zur Voyeurin, die nicht nur schaulustig ist, sondern sich tatsächlich auch von ihren Begegnungen und Beobachtungen «verändern» lässt. Hyatt schwört darauf, dass dies besonders nachts möglich ist, wenn die Welt für ein paar Stunden ausgeschaltet ist, während sie selbst sie wach durcheilt. Im Nachtzug fühlt sie sich wie im Theater; mit dunklen Kulissen und Akteuren an der Schwelle zwischen Tag und Traum.

«Nachtzugtage» steht wunderbar in der Tradition vorangegangener Bücher über das Eisenbahnfahren, wie etwa Michel Butors «Paris–Rom oder Die Modifikation», Sten Nadolnys «Netzkarte» oder der Aufzeichnungen Ryszard Kapuscinskis oder Yoko Tawadas, die mit einem Satz das Motto zu Hyatts nächtlichen Erlebnissen liefern könnte: «Der Zug gleitet an der Oberfläche eines leichten Schlafes dahin.»

Selbst Marcel Proust, der die meiste Zeit in seinem Zimmer in Paris selber wie in einer Art Schlafwagen hinter heruntergelassenen Jalousien lebte, behauptete, dass Bahnfahren nicht nur die Distanz überspringt, sondern «verschiedene Individualitäten der Erde vereint». Während er das Zusammentreffen in Wirklichkeit freilich eher scheute, sucht und findet Hyatt gerade unverhoffte Begegnungen.

Die Armseligkeit des eigenen Bettes

Nie verfällt sie in ihrem Buch in den Ton der Reiseführerin, die ferne Ziele abhakt, die Sehenswürdigkeiten sammelt und stolz Kilometer addiert. Selbst wenn sie in Städten strandet und oft lange oder vergeblich auf Anschlusszüge wartet, saugt sie lieber die Atmosphäre verdreckter Bahnhöfe ein, als dass sie sich in den Komfort von Herbergen flüchtet.

An Buffets und in Wartesälen, in denen Einsame ihrerseits vergeblich auf den Anschluss ans Leben warten, erfährt sie viel mehr über die Länder, in die es sie verschlagen hat. Das Drama des Balkans, die kriegerischen Auseinandersetzungen in der einstigen Sowjetunion, die Ereignisse an den ausgefransten Rändern Europas verschläft sie nicht im Nachtzug: All das erlebt sie ganz unmittelbar, weil sie sich mitten unter den Betroffenen, den Fliehenden, den Trotzigen befindet. Es gibt, weiss sie mit Thomas Mann, «Aufenthalte und Umständlichkeiten».

Am Ende kommt die Ernüchterung. Millay Hyatt ist wieder in einem Bett gelandet, das nicht über Schwellen gleitet. Ganz ungewohnt ist das für die Nachtzugreisende, sie taumelt ins Bad, ihr Körper ist desorientiert, weil sich die Wände nicht bewegen: «Er kompensiert ein Schwanken, das es hier auf festem Boden nicht gibt.»

Millay Hyatt: Nachtzugtage. Friedenauer-Presse, Berlin 2024. 240 S., Fr. 37.90.

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