US-Präsident Joe Biden gibt seine Kandidatur für eine zweite Amtszeit auf. Der Fokus richtet sich damit auf Vizepräsidentin Kamala Harris als Kronfavoritin der Demokraten. Was bedeutet die neue Ausgangslage in der amerikanischen Politik für die Finanzmärkte?
Die Ereignisse im US-Wahlkampf überschlagen sich: Nachdem Donald Trump vor kaum einer Woche nur knapp einem Attentat entkam, hat Joe Biden gestern Sonntag erklärt, dass er nicht mehr für eine Wiederwahl kandidieren wird. Die Frage, wie die Wahlen am 5. November ausgehen, gewinnt damit auch für die Finanzmärkte neu an Brisanz.
Was den Ausschlag für Bidens Entscheid gegeben hat, bleibt Spekulation. Gut möglich, dass ihn letztlich seine Covid-Erkrankung und gesundheitliche Überlegungen während der Isolation an seinem Wohnsitz in Delaware dazu bewogen haben. Politisch war er bereits seit der desaströsen Performance während der TV-Debatte vom 27. Juni schwer angezählt. Seither hatte er in der eigenen Partei stetig an Support verloren. Wichtige Geldgeber boykottierten seine Kandidatur.
Biden ist der erste US-Präsident seit 1968, der sich nicht für eine zweite Amtszeit nominieren lässt. Damals gab Lyndon B. Johnson Ende März seine Kandidatur überraschend auf, worauf Richard Nixon im folgenden Herbst die Wahlen für die Republikaner gewann. Im Vergleich dazu ist der Wahlkampf gegenwärtig bedeutend weiter fortgeschritten. Die Wahlen sind bereits in 106 Tagen. Bis spätestens zum Parteikonvent vom 19. bis 22. August in Chicago müssen die Demokraten bestimmen, wen sie nun ins Rennen schicken.
Kronfavoritin für die Nominierung ist Vizepräsidentin Kamala Harris, die Ihre Kandidatur für die Präsidentschaft am Sonntag erklärt hat. Biden hat ihr in seiner Rücktrittserklärung den vollen Support ausgesprochen. Ebenso wird sie von den Clintons, Nancy Pelosi und anderen einflussreichen Stimmen im Lager der Demokraten unterstützt.
Unklar ist, ob sich auch der progressive Flügel der Partei geschlossen hinter Harris stellen wird. Gerüchteweise soll zudem Joe Manchin möglicherweise eine Gegenkandidatur erwägen. Der US-Senator aus West Virginia hatte im Herbst 2023 angekündigt, dass er nicht zur Wiederwahl antreten werde, und war dieses Jahr aus dem demokratischen Lager ausgetreten. Jetzt soll er eine erneute Registrierung bei den Demokraten in Betracht ziehen.
Neue Dynamik im Wahlkampf
Kamala Harris hat den Vorteil, dass sie landesweit bekannt ist. Ebenso kann die frühere Chef-Staatsanwältin Kaliforniens und vormalige Vertreterin des bevölkerungsreichsten Bundesstaats im US-Senat die Wahlkampfmaschine Bidens relativ einfach übernehmen. Für andere Kandidaten wäre dies gesetzesbedingt erheblich komplizierter, was speziell mit Blick auf die Spendengelder relevant ist, die Bidens Kampagne bisher erhalten hat.
Der finanzielle Aspekt ist umso wichtiger, weil sich das Rennen diesbezüglich in den vergangenen Wochen zugunsten der Republikaner verlagert hat. Trump konnte für seine Kampagne zwischen April und Juni mehr als 430 Mio. $ an Spenden aufnehmen; fast 100 Mio. $ mehr als Biden. Insgesamt hat Trump im bisherigen Wahlkampf 757 Mio. $ von Supportern erhalten, Biden 746 Mio. $.
In Wahlumfragen schneidet Harris ungefähr gleich ab wie Biden. Beide sind im Rückstand zu Trump, der seinen Vorsprung nach dem fehlgeschlagenen Attentat leicht ausbauen konnte. Als Frau und Vertreterin der afroamerikanischen Bevölkerung bringt Harris aus demografischer Sicht Vorteile mit. Das gilt besonders mit Bezug auf soziale Fragen wie dem Recht auf Schwangerschaftsabbruch und auf die Repräsentation ethnischer Minderheiten.
Falls Harris die Nominierung der Demokraten tatsächlich erhalten sollte, wird ebenso ihre Wahl für den Vize-Posten eine entscheidende Rolle spielen. Mit Josh Shapiro, dem Gouverneur Pennsylvanias, oder Roy Cooper, dem Gouverneur North Carolinas, könnten die Demokraten beispielsweise ihre Chancen in zwei der wichtigsten Swing States und im industriellen Kernland generell erhöhen, wo Trump sich 2016 den Sieg gesichert hatte.
Im Alter von 59 ist Harris zudem wesentlich jünger als Biden. Mit 78 Jahren ist Donald Trump nun der älteste Präsidentschaftskandidat in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Erstmals seit dreissig Jahren stellt die Nachkriegsgeneration 2024 nicht mehr den grössten Wählerblock. Die Republikaner befinden sich in der Diskussion um die körperliche und mentale Verfassung der Kandidaten plötzlich im Nachteil, während sich die Demokraten mehr Dynamik und Energie für ihren Wahlkampf versprechen.
Andererseits ist der Leistungsausweis von Harris bescheiden. Ihre Chancen auf die Präsidentschaftskandidatur bei den Primärwahlen der Demokraten im Frühjahr 2020 implodierten abrupt. Für kurze Zeit die Hauptherausforderin von Biden, erweckte sie damals auf nationaler Ebene den Eindruck einer oberflächlichen Politikerin ohne klares Profil.
Als Vizepräsidentin erbt sie ausserdem nicht nur Bidens Spendengelder, sondern auch sein politisches Vermächtnis. In negativer Hinsicht zählen dazu vor allem der Inflationsschub von 2021/22 und die Probleme an der südlichen Grenze der USA – zwei Angriffspunkte, auf die Trump in seinem Wahlkampf besonders aggressiv abzielt. Ebenso hielt er sich vor vier Jahren nicht mit persönlichen Angriffen gegen Harris nicht zurück.
Kursschwankungen nehmen zu
Aus Sicht der Finanzmärkte bedeutet der Rücktritt von Joe Biden vor allem eines: Die Ungewissheit um den Ausgang der US-Wahlen nimmt erneut zu. Die erste Reaktion ist zwar gelassen. Futures auf den S&P 500 stehen am Montagmorgen leicht höher, nachdem der US-Leitindex letzte Woche wegen des Abverkaufs grosser Tech-Aktien den grössten Verlust seit April verzeichnet hat.
Angesichts von Bidens schwacher Performance bei der TV-Debatte, dem Attentatsversuch auf Trump vor einer Woche und der zusätzlichen öffentlichen Aufmerksamkeit für seine Kampagne im Rahmen des republikanischen Parteikonvents in Milwaukee hatte sich an den Börsen mehr und mehr die Ansicht durchgesetzt, dass er die Wahlen mit grosser Wahrscheinlichkeit gewinnen würde; ebenso, dass die Republikaner in den nächsten zwei Jahren das Repräsentantenhaus und den Senat kontrollieren dürften.
Wie es um die Chancen der Demokraten steht, mit einer neuen Kandidatur das Weisse Haus zu verteidigen, wird sich voraussichtlich in ein bis zwei Wochen besser herauskristallisieren, wenn mehr Umfragewerte vorhanden sind. Vorab wird sich die Aufmerksamkeit der Medien hauptsächlich auf Bidens Nachfolge richten, was der republikanischen Kampagne tendenziell Sauerstoff entziehen dürfte.
Der Ausgang der Wahlen ist für die Märkte in verschiedener Hinsicht relevant. Zu den wichtigsten Aspekten zählen Steuern und Regulierung: Trump steht für weitere Steuersenkungen für Unternehmen und weniger Auflagen in Bereichen wie Umweltschutz, Gesundheit und Firmenübernahmen. Bei der Handelspolitik nimmt er eine stark protektionistische Haltung ein, wobei einflussreiche Exponenten in seinem Umfeld für einen schwächeren Dollar plädieren. Gleichzeitig wird damit gerechnet, dass seine Wirtschafts- und Budgetpolitik inflationär wirken dürfte.
Falls Kamala Harris die Nominierung bei den Demokraten gewinnt, dürfte sie sich aller Wahrscheinlichkeit dafür stark machen, den bisherigen Kurs der US-Administration fortzusetzen. Konkret würde das eine weitere Förderung grüner Technologien bedeuten. Ein Teil der Steuersenkungen, die Trump 2017 erlassen hat und nächstes Jahr auslaufen, dürfte verlängert werden, nicht aber für Privatpersonen mit hohem Einkommen. Interventionistische Massnahmen in der Handelspolitik dürften sich wie bis anhin primär gegen China richten.
Allgemein verhalten sich die Börsen in Wahljahren meist volatiler als sonst, wobei Kursschwankungen ab dem Sommer zunehmen. 2024 blieb das Geschehen bisher über weite Strecken überraschend ruhig. In den vergangenen Wochen ist es allerdings zu grösseren Bewegungen gekommen, die vermutlich auch mit anderen Ursachen wie dem Konjunkturverlauf und den Aussichten auf Zinssenkungen zu tun haben. Die Ungewissheit um die Wahlen könnte vor diesem Hintergrund einen zusätzlichen Risikofaktor mit sich bringen.