In Myanmar, Thailand oder Indonesien bauen Generäle ihre Macht immer weiter aus. Aurel Croissant erklärt, wie es zur Militarisierung der Politik kommen konnte und was dagegen zu tun ist.
Herr Croissant, in Indonesien regiert seit diesem Jahr ein ehemaliger General. In Thailand wurde eine Partei, die die Wahlen gewonnen hatte, verboten, auch auf Bestreben der Generäle. Überhaupt scheinen in Südostasien die Militärs im vergangenen Jahr mehr Einfluss gewonnen zu haben. Täuscht dieser Eindruck?
Nein, das ist richtig. Und gilt insbesondere für Länder, die bereits in der Vergangenheit immer wieder durch politische Einflussnahme des Militärs aufgefallen sind. Also Myanmar, Indonesien, Thailand, in Teilen sicherlich auch die Philippinen und Kambodscha. In diesen Ländern hat die Rolle des Militärs in den letzten Jahren zugenommen. Nicht erst in den letzten zwölf Monaten, sondern bereits in den letzten fünf bis zehn Jahren.
Wie zeigt sich das?
Es gibt verschiedene Dimensionen der Militarisierung. Es gibt die Militarisierung der Politik, sie zeigt sich beispielsweise bei der Beeinflussung der Regierungsbildung, oder die Machtübernahme im Staat durch einen Putsch wie in Myanmar 2021 oder in Thailand 2014 – oder durch eine verstärkte Einflussnahme auf die Regierungspolitik, zum Beispiel während der Covid-Pandemie. Weitere Dimensionen sind die dominanteren Rollen des Militärs in der Gesellschaft und der Wirtschaft. Es ist eigentlich eine alte Rolle, die aber jetzt wieder an Gewicht gewonnen hat.
Das Erstarken der Militärs ist kein neues Phänomen?
Nein. Aber das Militär hatte in einer Phase zwischen Mitte der neunziger Jahre und Mitte der nuller Jahre an Einfluss verloren. Das war ein weltweiter Trend. Es hat mit dem Ende des Kalten Krieges zu tun und der weltweiten Demokratisierungswelle, die auch Südostasien betroffen hat. Das Ende des Kalten Krieges ermöglichte ein Ende des Indochina-Konflikts in Kambodscha, eine Ausweitung des Asean-Wirtschaftsraums und eine Phase der politischen Liberalisierung. Dass der Einfluss des Militärs nachliess, hatte einerseits mit der Demokratisierung zu tun, andererseits mit den wirtschaftlichen Reformen. Diese führten zu Strukturwandel, zu einer Transformation der Wirtschaftssysteme, die es für die Militärs schwieriger machte, zu steuern oder zu koordinieren. Dieser Trend scheint sich allerdings jetzt umzukehren.
Forschung zu Remilitarisierung
Aurel Croissant
Croissant ist Professor für Politikwissenschaften an der Universität Heidelberg und forscht zu Ost- und Südostasien. Er ist zudem Forschungsprofessor an der Ewha Womans University in Seoul sowie Visiting Professor am Hu Fu Center for East Asia Democracy Studies der National Taiwan University. Er beschäftigt sich mit Demokratieforschung, zivil-militärischen Beziehungen, Terrorismus und politischer Gewalt.
Sie haben Daten zur Remilitarisierung Südostasiens ausgewertet. Diese zeigen, dass der Einfluss des Militärs ungefähr seit 2010 zunimmt. Was ist passiert?
Es gibt nicht ein einzelnes Ereignis, das den Trend umkehren würde. Was wir aber feststellen, ist, dass die Dynamik der demokratisch-rechtsstaatlichen Reformen in Südostasien erlahmt. Die autoritären Tendenzen nehmen wieder zu. Mit dem erlahmten Reformeifer sinkt der Druck auf das Militär, sich zurückzuziehen aus bestimmten Bereichen von Staat, Gesellschaft, Wirtschaft. Das zweite Phänomen ist, dass Konflikte in den Gesellschaften wieder mehr werden. Das sind zum Teil soziale Konflikte, teilweise mit einem ethno-nationalistischen Hintergrund, aber auch klassische Konflikte, die mit der Ungleichheit in der Gesellschaft zusammenhängen. Um sie beizulegen, greifen Regierungen stärker wieder auf das Gewalt- und Ordnungspotenzial des Militärs zurück. Das Militär nimmt immer mehr klassische Polizeiaufgaben wahr, das ist ein globales Phänomen.
Seit der Pandemie hat sich der Trend laut Ihren Daten noch verstärkt.
Auch hier in Deutschland sass in den Impfzentren die Bundeswehr. Die infrastrukturellen Kapazitäten, die das Militär hat, haben in relativ schwachen Staaten, wie wir sie oft in Südostasien haben, natürlich noch eine viel grössere Bedeutung. Zudem hat der Einfluss, Reformen anzustossen, den westliche Demokratien in Südostasien hatten, seit den nuller Jahren doch stark nachgelassen. Ein letzter, aber ganz wichtiger Grund für die zunehmende Militarisierung ist, dass sich die Konfliktlage im Indopazifik in den letzten Jahren verändert hat. Aufgrund der chinesischen Ansprüche rüsten die südostasiatischen Länder auf.
Was für eine Rolle spielt der Konflikt im Südchinesischen Meer genau bei der zunehmenden Militarisierung?
Er fördert eine Militarisierung im Sinne der Ausweitung des Militärbudgets und der Aufrüstung. Wir sehen das in drei Ländern besonders. In Vietnam mit seiner Grenze gemeinsam mit China und der langen Küstenlinie. Dann in Indonesien und natürlich auf den Philippinen, also den Archipelstaaten, die durch die chinesischen Ansprüche im Südchinesischen Meer besonders bedroht sind. Wir sehen in allen drei Staaten, dass die zunehmenden Spannungen im Indopazifik sowie zwischen den USA und China Auswirkungen haben. Diese Länder fühlen sich gezwungen, ihre Streitkräfte und ihre Sicherheitspolitik neu aufzustellen. Was auf den Philippinen und in Indonesien das Militär charakterisierte, war eine Ausrichtung auf innere Bedrohungen. Das ändert sich nun, weil die externe Bedrohung erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg an Bedeutung zunimmt.
Indonesien, das bevölkerungsreichste Land Südostasien, hat vor wenigen Monaten den ehemaligen General Prabowo Subianto zum Präsidenten gewählt.
Es ist schon das zweite Mal in der jüngeren demokratischen Geschichte Indonesiens, dass ein ehemaliger Berufsoffizier zum Präsidenten gewählt wird: Susilo Bambang Yudhoyono war in den nuller Jahren ein Reformer und hat die Demokratie gestärkt. Dass jemand General war, ist an sich noch kein Zeichen für das Wiedererstarken des Militärs. Aber Prabowo ist nicht nur ein ehemaliger General, sondern auch der Schwiegersohn des ehemaligen Diktators. Er ist eng mit dem einstigen autoritären Regime und dessen Menschenrechtsverletzungen verstrickt. Prabowo steht für einen Trend in der indonesischen Politik: die Rekrutierung ehemaliger Mitglieder der Streitkräfte und des Sicherheitsapparats durch politische Parteien. Das ist ein Mechanismus, über den eine Militarisierung der Politik stattfindet. Die Sicherheitseliten sind die neuen politischen Eliten. Prabowo steht an der Spitze, ist aber nur Resultat dieses grösseren Trends in Indonesien.
Was geschieht in Thailand? Dort scheinen die Generäle immer dann einzugreifen, wenn ihnen ein Wahlergebnis nicht passt.
Bei Thailand lagen die meisten Beobachter daneben, mich eingeschlossen: Dem Land wurde eigentlich prognostiziert, es habe gute Voraussetzungen für eine relative stabile und freiheitliche Demokratie und für eine Reform des Militärs. Das ist nicht eingetroffen, wie die Putsche von 2006 und 2014 zeigen. Das Militär zog sich in den neunziger Jahren zwar aus der Politik zurück, nicht aber aus der Wirtschaft. Das Militär ist in Thailand ein wirtschaftlicher Faktor, es kontrolliert viele staatliche Unternehmen und besitzt auch eigene, typischerweise im Telekommunikationssektor. Ausserdem ist das thailändische Militär bemerkenswert gross, es hat mehr Generäle als die USA. Wenn man über die Rolle des Militärs in der thailändischen Politik spricht, muss man eigentlich immer ein Dreiecksverhältnis betrachten: zivile Politik, Militär und Monarchie. Jede Reform des Militärs betrifft zwangsläufig auch die Monarchie. Und die Monarchie in Thailand hat den Anspruch, eine wichtige politische Entscheidungsinstanz zu sein im Land.
In Myanmar waren die Militärs ebenfalls stark mit der Wirtschaft verknüpft. Kam der Putsch auch, weil ihre Interessen durch Reformen bedroht waren?
Myanmar ist ja das Land mit der weltweit längsten ununterbrochenen Periode von Militärherrschaft. Das beginnt 1962 und geht bis mindestens 2015. Dann gab es eine kurze Phase unter einer demokratischen Regierung mit Aung San Suu Kyi als Staatsrätin, und dann kam der neuerliche Putsch. In den 50 Jahren der ununterbrochenen Herrschaft hat sich das Militär von einer Organisation innerhalb des Staates zum Staat selber gewandelt. In den neunziger Jahren hat das Militär die Wirtschaft übernommen. Staatsunternehmen wurden zu Militärunternehmen, Privatunternehmen gab es kaum, im Grunde gehörten Staat und Wirtschaft dem Militär – das macht eine Reform natürlich schwierig. Für alle Reformen im Staat, der Gesellschaft, der Wirtschaft, der Politik musste die damalige demokratische Regierung den Widerstand der Militärs überwinden, und auch daran ist sie gescheitert.
Mit der steigenden Militarisierung in Südostasien – steigt da auch die Gefahr für Militärputsche?
Der Trend zu einer stärkeren Militarisierung der Gesellschaft und der Wirtschaft, den wir in den letzten Jahren beobachten, der vollzieht sich mehrheitlich ohne Putsch. Offenbar haben zivile Regierungen einen Anreiz, mehr fürs Militär auszugeben und dem Militär mehr Aufgaben zu übergeben. Bei der Militarisierung der Politik sehen wir, dass die Militärs zivile Regierungen nicht stürzen, sondern ihre Kompetenzen beschneiden. Wenn die Strategie funktioniert, dann macht sie Putsche unnötig. Für die Militärs ist das ideal: ruling without governing. Das geht aber unter Umständen nur eine Weile gut, wie man in Thailand sieht, wo die Wähler stur die Oppositionspartei wählen, die man dann vom Verfassungsgericht verbieten lässt. Ich glaube, es bleibt ein fragiles und für Störungen anfälliges System. Ich würde Ihre Frage mit Ja beantworten – das Risiko für Militärputsche ist erhöht.
Was bedeutet die Remilitarisierung Südostasiens für die Menschen, die dort leben?
Für die Demokratien der Region, für die Möglichkeiten der Bürger, politisch teilzuhaben – dieses Bedürfnis gibt es ja –, und für die Rechtsstaatlichkeit ist es keine gute Nachricht. Wir sehen in unserer Forschung, dass die Straflosigkeit des Militärs zunimmt. Je mehr sich Regierungen auf das Militär verlassen, desto weniger haben sie einen Anreiz, die Militärs zur Rechenschaft zu ziehen. Wenn gleichzeitig die Rolle des Militärs in der Gesellschaft zunimmt, zum Beispiel mit Polizeiaufgaben, nimmt auch die Wahrscheinlichkeit für Verstösse gegen rechtsstaatliche Prinzipien zu. Mit Blick auf Menschenrechte ist das eine schlechte Entwicklung. Und mit Blick auf die Wirtschaft wahrscheinlich auch. Thailand, Vietnam und Indonesien sind relativ komplexe und international vernetzte Wirtschaften, die alle auf dem Modell der exportorientierten Industrialisierung basieren. Diese Wirtschaftssysteme sind eigentlich zu komplex, um von irgendwelchen Militäreliten gesteuert zu werden. Und sie benötigen dringend Reformen, Korruption muss bekämpft, Innovation gefördert werden, und die unternehmerische Governance wäre dringend zu verbessern. Diese scheitern aber oft auch am Widerstand der Militärs.
Sehen Sie in der Region einen Willen, sich gegen die zunehmende Militarisierung zu wehren?
Den gibt es natürlich, die Gesellschaften nehmen das nicht alle passiv hin. Myanmar ist das beste Beispiel dafür. So schrecklich und tragisch dieser Bürgerkrieg ist – wir sehen eine qualitative Veränderung, aus dem friedlichen Widerstand ist ein gewaltvoller geworden, das Regime ist bedroht. Das Militär hat in einem Ausmass die Kontrolle über das Land verloren, wie es seit Anfang der fünfziger Jahre nicht mehr der Fall war. Der Bürgerkrieg ist im myanmarischen Herzland angekommen. Das ist ein Ausdruck des Widerstands der Mehrheitsbevölkerung gegen die Macht des Militärs. Auch die thailändische Gesellschaft ist immer weniger bereit, diese Form der Bevormundung durch die Militärs hinzunehmen. Auf den Philippinen gibt es unter progressiv gesinnten Gruppen Kritik daran, dass der Staatsapparat mit Offizieren durchsetzt ist.