Seit zwei Monaten sind keine Hilfsgüter mehr in das Küstengebiet gelangt. Inzwischen sind die Vorräte fast aufgebraucht, immer mehr Menschen leiden Hunger. Nun will Israel offenbar ein neues System zur Verteilung von Lebensmitteln einführen.

«Was wir haben, reicht noch für ein paar Tage», sagt Tahrer Ahel, eine Mutter von fünf Kindern aus dem nördlichen Gazastreifen. Es ist der 1. Mai 2025, ihre beiden Zwillinge Mohammed und Ghazi sind an diesem Tag ein Jahr alt geworden. Neugierig ziehen sich die beiden Jungen an einer schäbigen Kartonschachtel hoch und schauen hinein. In der Box befinden sich alle Lebensmittel, die die siebenköpfige Familie noch hat. Viel ist nicht mehr da.

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«Die Situation ist katastrophal», sagt Ahel gegenüber lokalen Mitarbeitern der NZZ im Gazastreifen. Hilfspakete würden keine mehr verteilt. Die Händler auf dem Markt würden das Mehl inzwischen mit Sand strecken, und das Mehl selbst sei schimmlig und verdorben. «Um Brot für meine Kinder zu machen, koche ich Teigwaren, bis sie weich sind, knete sie dann zu einem Teig und mache daraus Fladenbrot.» Da sie weder Gas noch Feuerholz habe, sammle sie Plastikabfälle ein, um über einer stinkenden Flamme zu kochen.

Währenddessen lege ihr Mann Mahmud jeden Tag grosse Distanzen zurück, um bei den Strassenküchen immerhin einen Topf Linsensuppe zu ergattern. «Wenn auch noch die Strassenküchen schliessen, müssen wir verhungern. Wie erklärt man einem Kind, dass es kein Essen mehr gibt?»

Die Vorräte im Gazastreifen gehen zur Neige

Zwei Monate ist er her, seit Israel die Grenzübergänge geschlossen hat und keine Hilfsgüter mehr in den Gazastreifen lässt – es ist die längste Blockade seit Kriegsbeginn. Israel verfolgt damit das Ziel, die Hamas zur Freilassung der 59 Geiseln zu zwingen, von denen wohl nur noch 24 am Leben sind. Doch die islamistische Organisation macht keine Anstalten, auf die israelischen Bedingungen einzugehen, die Verhandlungen sind offenbar festgefahren. Internationale Organisationen werfen dem jüdischen Staat vor, den Hunger der Menschen als Waffe einzusetzen und damit ein Kriegsverbrechen zu begehen.

Israel hingegen hat in den vergangenen Wochen stets behauptet, die Vorräte im Gazastreifen seien ausreichend, es drohe keine Hungersnot. Während einer zweimonatigen Waffenruhe zwischen Januar und März hatten Tausende Lastwagen mit Hilfsgütern die Küstenenklave erreicht. Doch laut Hilfsorganisationen gehen die damals angehäuften Bestände nun zur Neige. Schon vor einem Monat hatten sämtliche Bäckereien ihren Betrieb eingestellt. Am 25. April hatte das Welternährungsprogramm der Uno mitgeteilt, seine Vorräte seien aufgebraucht. Am Freitag meinte nun das Internationale Komitee vom Roten Kreuz warnend, die humanitäre Hilfe im Gazastreifen stehe kurz vor dem «totalen Kollaps».

Die Preise auf den Märkten sind inzwischen astronomisch hoch, ein Sack Mehl kostet laut Hilfsorganisationen bis zu 250 Franken. Kaum jemand kann sich das noch leisten. Hunderttausende Palästinenser sind deshalb auf die Strassenküchen angewiesen, die Gratismahlzeiten verteilen. Doch auch ihre Vorräte sind fast aufgebraucht. Mehrere Strassenküchen mussten laut Medienberichten bereits schliessen, andere geben an, noch einige Tage weitermachen zu können, vielleicht zwei Wochen.

«Wir haben längst damit begonnen, die Portionen zu verkleinern, damit mehr Familien eine Mahlzeit erhalten können», sagt Maher Tanbura, der Chefkoch in einer Strassenküche in Beit Lahiya im nördlichen Gazastreifen. Jeden Tag würden hier 7000 Mahlzeiten verteilt. Seine Organisation ist von Spenden abhängig – wenn Geld da ist, kauft Tanbura die benötigten Zutaten auf dem Markt. Doch während die Nachfrage immer grösser werde, schwinde die Verfügbarkeit von Lebensmitteln. «Wir können eigentlich nur noch Pasta und Linsensuppe anbieten», sagt er.

Kinder leiden an Mangelernährung

Besonders für Kinder ist die mangelhafte Versorgung mit Lebensmitteln ein gesundheitliches Risiko. «Unsere Tests zeigen, dass 20 von 100 Kindern an Mangelernährung leiden, Tendenz steigend», sagt Hakim Afaneh, ein Krankenpfleger der Hilfsorganisation Judhur Foundation. Er und seine Kollegen würden jeden Tag rund 70 Kinder untersuchen. «Der Mangel an Proteinen, Vitaminen und Kalorien führt zu Gewichtsabnahme, einer Schwächung der Knochen sowie dem Abbau von Muskeln. Auch die mentale Entwicklung der Kinder wird beeinträchtigt», sagt Afaneh.

Die einzige Nahrungshilfe, die er seinen Patienten anbieten könne, sei mit Vitaminen und Mineralien angereicherte Erdnussbutter, sagt der 32-Jährige. «Doch auch diese Vorräte werden bald zur Neige gehen.»

Auch Tahrer Ahel sorgt sich um die Gesundheit ihrer beiden Zwillinge. «Sie sind jetzt ein Jahr alt, aber sie können weder stehen noch einen einzigen Schritt machen, und für ihr Alter sind sie sehr klein.» Sie fürchtet, dass die beiden eine allfällige Infektion nicht überleben würden. «Deshalb lasse ich sie auch nicht auf dem Boden kriechen, weil sie sich überall anstecken könnten.» Mit ihrer Familie hat sie in einem Schulgebäude Unterschlupf gefunden, wo sie im Gang auf dem Boden leben.

Israel könnte bald wieder Hilfslieferungen zulassen

Inzwischen scheint sich auch in Israel die Erkenntnis durchgesetzt zu haben, dass es so nicht mehr lange weitergehen kann. Laut Medienberichten hatten Vertreter der israelischen Armee schon Anfang April gegenüber der Regierung betont, dass man bald keine andere Wahl mehr haben werde, als Hilfsgüter in den Gazastreifen zu liefern. Nur so könnten Verstösse gegen das Völkerrecht vermieden werden.

Am Freitag hat nun die Zeitung «Times of Israel» unter Berufung auf anonyme Beamte berichtet, dass Israel die Verteilung der humanitären Hilfsgüter in den kommenden Wochen «radikal verändern» wolle. Demnach sollen künftig private Sicherheitsfirmen dafür zuständig sein, Lebensmittelpakete an Palästinenser zu verteilen. Jede Familie werde dabei einen Repräsentanten definieren, der diese Pakete in der israelisch kontrollierten «Sicherheitszone» im Süden des Gazastreifens abholen könne. Dies werde es für die Hamas schwieriger machen, Hilfsgüter für sich abzuzweigen. Laut dem Bericht ist der neue Plan allerdings noch nicht offiziell bewilligt.

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