Samstag, Oktober 5

Ein Jahr nach dem Massaker in Israel hält die Hamas noch immer 97 Verschleppte fest. Wie übersteht man Hunger, Missbrauch und Todesangst?

Israel hat in seiner Geschichte schon viele Geiselnahmen erlebt, der Überfall vom 7. Oktober 2023 war aber unvergleichlich. Vor einem Jahr töteten Hamas-Terroristen im Süden Israels über 1200 Menschen und verschleppten über 250 Geiseln nach Gaza.

Noch nie wurden so viele Menschen gleichzeitig entführt, nie befanden sich so viele Frauen und Kinder unter den Geiseln, nie war das Vorgehen der Kidnapper so grausam.

97 Geiseln befinden sich noch immer in Gaza. 117 Geiseln sind bis heute lebend zurückgekehrt. Wie überlebt man eine traumatische Geiselhaft? Ist man danach noch der gleiche Mensch? Und beginnt das eigentliche Überleben erst nach der Befreiung?

Um zu verstehen, was die Geiseln erlebt haben, sprachen wir mit Entführten, Verwandten, Ärzten und Psychologen und sahen uns Stellungnahmen an, die die Betroffenen gegenüber der israelischen Regierung und Medien abgegeben haben.

Entstanden sind vier Geschichten.

Von Aviva, die ihren Körper nicht mehr spürt.

Von Andrei, der sich nicht mehr an das Gesicht seiner Mutter erinnert.

Von Emily, die nur noch flüstert.

Von Amit, die von ihrem Wächter missbraucht wird.

Aviva Siegel: «Ich hatte das Gefühl, dass wir den Tod berühren.»

«Ich fragte mich ständig, wie wir sterben werden. Werden wir langsam verhungern? Oder werden uns die Kidnapper zu Tode quälen?» So beginnt die Geschichte, die uns Aviva Siegel in einem langen Videogespräch erzählt. Sie handelt davon, wie die Geiselhaft einen Menschen verändert, wenn man ihm alles nimmt, was er einmal war.

Aviva Siegel ist 63 Jahre alt, ihr Mann Keith 65. Die beiden sind seit über vierzig Jahren zusammen, Eltern von vier Kindern, Grosseltern von fünf Enkelkindern. Sie leben im Kibbuz Kfar Azza, Aviva arbeitet als Kindergärtnerin, Keith als Pharmavertreter. Als die Terroristen die beiden am Morgen des 7. Oktobers 2023 aus ihrem Schutzraum zerren und nach Gaza verschleppen, schiessen sie Keith in die Hand und brechen ihm mehrere Rippen.

Die Wunde ist auch Wochen später nicht trocken, die Rippen stechen Keith beim Atmen. Die Geiselnehmer zwingen ihn, aufrecht zu sitzen, bis er vor Schmerzen weint. Sie schlagen ihn und zielen dabei auf die verletzten Körperstellen.

Wenn die Männer Keith quälen, liegt Aviva reglos auf ihrer Matratze, als sei sie nicht da. Sie erzählt, früher sei sie eine gewesen, die anderen geholfen habe. In Gaza muss sie zuschauen, wie andere leiden. «Ich durfte nicht umarmen, nicht trösten, nicht fühlen. Ich konnte nur überleben, indem ich mich von allem löste.» Auch Gedanken an ihre Familie verdrängt sie. Wenn sie an die Kinder und die Enkel denkt, kommen ihr die Tränen. Und sie darf auf keinen Fall weinen, darauf reagieren die Geiselnehmer wütend, schreien sie an.

Was Aviva Siegel beschreibt, kennt man in der Psychologie als Erstarrung. Wenn der Körper in Stresssituationen nicht in einen Kampf- oder Fluchtmodus schalten kann, wird er taub.

Aviva hält den Blick gesenkt, um die Entführer nicht zu provozieren. «Ich fürchtete mich sogar, mich zu bewegen. Einer der Männer war immer im Raum, seine Augen waren überall.» Aviva ist ständig angespannt und schläft kaum, obwohl sie übermüdet ist.

Viele Geiseln leiden unter Hypervigilanz, das heisst: Sie fühlen sich ununterbrochen bedroht. Sie fürchten sich vor den Terroristen, gleichzeitig schlagen um sie herum israelische Bomben und Raketen ein.

Aviva zuckt bei jedem Einschlag zusammen. Die Explosionen sind so laut, dass sie auch nach ihrer Rückkehr auf einem Ohr kaum mehr hören wird. Schlägt ein Geschoss in der Nähe ein, spricht sie sich leise Mut zu: «Die Explosion ist weit weg, ich bin nicht das Ziel.» Es war Keiths Idee, und es funktioniert. Sie sagt, sie habe diesen Satz während ihrer Gefangenschaft eine Million Mal wiederholt.

Aviva und Keith Siegel werden an dreizehn verschiedenen Orten festgehalten, meistens in privaten Wohnungen. Einmal lassen die Terroristen sie allein in einem Tunnel, Dutzende von Metern unter der Erde. Da hätten sie und ihr Mann zum ersten Mal frei miteinander reden können, aber sie hätten nicht einmal mehr die Kraft gehabt, zu flüstern, erinnert sich Aviva. Es ist eng und dunkel. Aus Mangel an Sauerstoff wird ihr schwindlig. Die Palästinenser haben ihnen nichts zu essen und zu trinken dagelassen. Nach ein paar Tagen sind sie dehydriert und kraftlos. «Ich hatte das Gefühl, dass wir den Tod berühren.»

Andere Geiseln berichten, dass sie sogar monatelang in dem unterirdischen Tunnelsystem der Hamas ausharren mussten. Sie verloren erst die Orientierung, dann das Zeitgefühl. Als sie wieder ans Tageslicht kamen, konnten sie fast nichts mehr sehen.

Nach ein paar Tagen in der Dunkelheit bringen die Kidnapper Aviva und Keith Siegel wieder in eine Wohnung. Wochenlang liegen sie auf engstem Raum, auf dreckigen, stinkenden Matratzen. Aviva ekelt sich. Auch vor sich selbst. Sie darf sich nie waschen. Ihr lockiges graues Haar ist verknotet. Sie verbringt Stunden damit, Strähnen zu entwirren. Das habe sie entspannt, erzählt sie.

Vom Herumliegen und Sitzen schmerzt Avivas Rücken. Ihre Beine fühlen sich mit jedem Tag kraftloser an. Was ihr aber am meisten zu schaffen macht, ist der Durchfall. Seit sie in Gaza ist, hat sie eine Mageninfektion. Ständig plagen sie Bauchkrämpfe und die Furcht, dass die Wächter sie nicht rechtzeitig zur Toilette gehen lassen. Sie will auf keinen Fall ihre Kleider beschmutzen. Was sie auf sich trägt, ist alles, was sie noch hat.

Das Schlimmste wäre für sie gewesen, von Keith getrennt zu werden, sagt sie. Solange sie zusammen sind, ist alles gut. Auch wenn sie nicht reden oder sich umarmen dürfen. Sie können sich wenigstens in die Augen schauen, so zeigen sie sich ihre Liebe und machen sich Mut. Manchmal gelingt es Aviva sogar, kurz Keiths Hand zu halten.

Dann werden sie doch auseinandergerissen. Am 25. November, nach 51 Tagen Geiselhaft, wird Aviva freigelassen. Ohne ihren Mann will sie nicht gehen, aber sie hat keine Wahl. Sie ist eine von 105 Geiseln, die von der Hamas in einem mehrtägigen Waffenstillstand freigelassen werden, die meisten von ihnen sind Frauen und Kinder. Im Gegenzug lässt Israel Hunderte von inhaftierten Palästinensern frei. Es ist der bisher grösste Gefangenenaustausch.

Aviva ist zum Zeitpunkt der Freilassung so schwach, dass sie nicht mehr gehen kann. Ein Jahr nach der Verschleppung geht es ihr körperlich besser, aber ihr bisheriges Leben gibt es nicht mehr. Ihr Kibbuz ist zertrümmert, ihr Haus abgebrannt, ihre politischen Überzeugungen zerstört. Früher unterstützten Aviva und Keith wie viele Bewohner der Kibbuzim im Grenzgebiet die Friedensbewegung. Sie hatten palästinensische Freunde, Keith lernte sogar Arabisch, um sich mit ihnen in ihrer Muttersprache zu unterhalten.

«In Gaza verspürte ich nur noch Hass gegenüber den Palästinensern», sagt Aviva.

Aviva freut sich über nichts mehr. Selbst ihre alten Freunde erträgt sie nicht mehr. Nur ihre Kinder und Enkelkinder lässt sie noch an sich heran. Aber auch die spüren, dass sie nicht mehr die Mutter und Grossmutter von früher ist. Im Kopf ist Aviva noch immer in Gaza, bei Keith. Was sie auch tut, sie denkt an ihn. «Wenn ich dusche, wenn ich Wasser trinke, wenn ich eine Banane esse. Dann denke ich, dass Keith nichts zu essen hat, dass er seit einem Jahr nichts so Köstliches mehr gegessen hat. Dabei ist es nur eine Banane.»

Im April veröffentlichte die Hamas ein Video, auf dem Keith zu sehen ist. Er sagt darin, dass es ihm gutgehe und er seine Familie liebe, dann bricht er unter Tränen zusammen. Er sieht auf dem Video abgemagert aus, sein Gesicht ist fahl und knochig.

Keith Siegel ist seit einem Jahr in Geiselhaft. Er ist einer von 97 Verschleppten, die noch immer in Gaza sind. Vielleicht befindet er sich noch immer in der Wohnung, in der sie ihn zurückgelassen hat. Vielleicht haben ihn die Terroristen wieder in einen Tunnel gebracht. Aviva fürchtet, dass er nicht mehr lange durchhält. Wenn er überhaupt noch am Leben ist. Die israelische Armee schätzt, dass 33 der noch festgehaltenen Geiseln tot sind.

Andrei Koslow: «Sie drohten mich zu töten und dabei zu filmen»

Als wir Andrei Koslow anfragen, ob er mit uns über die Zeit als Geisel sprechen möchte, sagt er zuerst zu. Dann teilt er uns mit, dass es ihm im Moment zu schlecht gehe und er Abstand gewinnen wolle. Weil Andrei eine der Geiseln ist, die am längsten in Gefangenschaft waren, entscheiden wir uns, seine Erfahrung trotzdem nachzuerzählen. Wir stützen uns dabei auf Interviews mit israelischen Medien, Videos sowie einen Zeugenbericht, den Andrei wie andere Geiseln in diesem Sommer der israelischen Regierung abgegeben hat. Dieses Testimonial zeichnet nach, wie er die acht Monate in Gaza überlebte.

Die erniedrigendsten Momente seiner Gefangenschaft beschreibt Andrei so: Er muss mit gefesselten Händen in eine Plastikflasche urinieren, alles geht daneben. Spricht er zu laut, stecken ihm seine Wächter einen Kugelschreiber in den Mund. An heissen Tagen legen sie fünf, sechs Decken über ihn und lassen ihn stundenlang darunter ausharren, so dass er fast erstickt. Einmal befehlen ihm die Entführer: «Zeichne deine Mutter.» Andrei setzt den Stift an und schafft es nicht. Er erinnert sich nicht mehr, wie sie aussieht.

Andrei Koslow ist 27-jährig und stammt aus St. Petersburg. Er ist Surfer und DJ und lebt erst seit eineinhalb Jahren in Israel. Er schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch. Am Tag des Überfalls arbeitet er als Sicherheitsmann am Musikfestival Supernova, wo die Terroristen 356 Menschen ermorden und 40 Geiseln verschleppen. Andrei ist einer von 138 Ausländern und israelischen Doppelbürgern, die entführt werden.

In einem Interview erzählt er, wie ihn die Kidnapper in eine Wohnung in Nuseirat bringen, einem Flüchtlingslager mitten in Gaza. Dort legen sie ihm Eisenketten an Hände und Füsse, zwingen ihn, den Koran zu lesen, und legen ihm wie einem Hund ein Seil um den Hals. Die Terroristen erzählen ihm, seine Mutter habe ihn vergessen und seine Freundin liebe einen anderen. «Sie drohten, mich zu töten und dabei zu filmen.» Wenn sie seine Todesangst sehen, lachen sie.

Warum machen die Männer das? Warum sind sie so grausam? Sieht so der Hass zwischen Todfeinden aus? Seit Generationen reisst der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern neue Traumata auf.

Nach seiner Befreiung erzählt Andrei ausführlich von seinem Leben in Gaza. In der Wohnung im Flüchtlingslager Nuseirat liegen drei Matratzen in einem dunklen Raum. Andrei schläft dort nicht allein, zwei israelische Männer sind mit ihm eingesperrt, 22 und 40 Jahre alt. Wenn die Entführer gut gelaunt sind, erlauben sie ihnen, Radio zu hören und Karten zu spielen. Ein Moment der Erholung.

Am Anfang weint Andrei jeden Tag, er ist wütend, flucht und wünscht sich, die Entführer zu verprügeln. Am meisten hilft ihm sein Tagebuch. Jeden Abend schreibt er drei Worte auf: «Wieder ein Tag». Dann sagt er zu sich: 1. Du lebst immer noch. 2. Jeder Tag ist ein Geschenk. 3. Ich werde gesund zurückkehren. Sich das täglich zu sagen, beruhigt ihn.

Rituale bieten dem Gehirn einen sicheren Hafen, das weiss man aus der Psychologie. Kurz entsteht ein Gefühl der Sicherheit. Um vor Angst nicht verrückt zu werden, hilft Andrei noch etwas anderes: Er träumt sich in seine Kindheit zurück. Wenn er hungert, erinnert er sich am liebsten an die Hühnersuppe seiner Mutter. Oder er denkt daran, wie er als DJ Platten auflegt und als Surfer Wellen reitet. So seien die Monate irgendwie vorbeigegangen, sagt Andrei. Dann kommt der 8. Juni. Es ist der Tag seiner Befreiung.

Am Morgen tritt ein israelischer Soldat die Türe ein und ruft: «Andrei, du kommst mit mir!» Es ist der Beginn der Militäroperation Seeds of Summer. Am Ende des Tages sind vier Geiseln frei und viele Palästinenser tot. Das Gesundheitsministerium von Gaza, das von der Hamas geführt wird, spricht von 274 Todesopfern, Israel von 100.

Nach Andreis Befreiung sagt ein Armeesprecher: «Wir werden keine Geisel aufgeben. Aber wir werden nicht in der Lage sein, sie alle bei Rettungsaktionen zurückzuholen.» Erst acht Menschen konnte Israel bisher befreien. Die Chancen auf weitere Rettungen schwinden. Die Hamas hat begonnen, Geiseln zu erschiessen, wenn israelische Soldaten in ihre Nähe kommen, um dem Feind weitere Erfolge zu verunmöglichen.

Angehörige von Geiseln drängen deshalb auf weitere Verhandlungen mit der Hamas. Der Krieg in Gaza hat bereits 40 000 Todesopfer gefordert, auch Geiseln kommen durch die israelischen Angriffe ums Leben.

Andrei ist seit fünf Monaten frei. Nach und nach werde er wieder er selber, sagt er. Aber über gewisse Dinge werde er nie reden können.

Emily Hand: «Ich weinte heimlich unter der Decke»

Emily Hand ist 8 Jahre alt, als sie aus ihrem Kibbuz Beeri verschleppt wird. Ihr Vater, Thomas Hand, hat mit uns über die Erfahrungen seiner Tochter in Geiselhaft gesprochen und erzählt, wie sie diese verändert hat.

In Gaza habe Emily wochenlang nicht geredet, erzählt Thomas Hand. Einer der Geiselnehmer hat ihr mit einem Handzeichen klargemacht, dass er ihr mit seinem Messer die Kehle durchschneiden wird, wenn sie einen Laut von sich gibt. Selbst wenn die Terroristen nicht im Zimmer sind, flüstert Emily nur noch ganz leise. Weil sie keinen Laut von sich geben darf, weint sie heimlich, unter der Decke.

Das Kind wird von sieben Männern bewacht, sie wechseln sich ab. Wenn Emily auf die Toilette muss, steht einer mit dem Maschinengewehr im Arm da und starrt sie durch die offene Tür an.

Emily fürchtet sich vor den Kidnappern. Als sie zusammen mit einer Freundin und deren Mutter aus dem Kibbuz Beeri entführt wurde, sah sie, wozu die Terroristen fähig sind. «Sie war noch klein, aber sie hat genau verstanden, was um sie herum passiert ist», sagt der Vater. «Sie hat gesehen, wie der Kibbuz in Flammen stand, wie Hamas-Leute Nachbarn ermordeten und dabei lachten und johlten.»

Emilys Mutter starb, als sie zwei Jahre alt war. Sie hat zwei Halbgeschwister, die schon älter sind. Aufgewachsen ist sie allein bei ihrem Vater. Er ist der wichtigste Mensch in ihrem Leben. Die Terroristen erzählen dem Mädchen, dass alle aus ihrem Kibbuz tot seien, auch der Vater. Eine schlimmere Nachricht kann sich Emily nicht vorstellen.

Viele der Geiseln erzählen vom Psychoterror der Entführer. Die Hamas-Leute sagen den Verschleppten, Israel existiere nicht mehr, niemand werde nach ihnen suchen. Manchmal behaupten die Kidnapper sogar, die israelische Armee wolle alle Geiseln töten. Besonders Kinder haben Mühe, zu unterscheiden, was Wahrheit und was Lüge ist.

Emily ist eines von 35 Kindern, die nach Gaza verschleppt wurden. Das jüngste ist ein zehn Monate altes Baby. Bis heute weiss man nicht, ob der Junge noch lebt.

Die entführten Buben und Mädchen machen das Geiseldrama von Gaza so ungewöhnlich. Kinder werden in Kriegen kaum je als Geiseln genommen. Das hat einen perfiden Grund: Kinder überleben die Strapazen schlecht. Danielle Gilbert, Professorin für Politikwissenschaften an der Northwestern University in Illinois, USA, hat weltweit Interviews mit Entführern geführt. Ihr Fazit: Kidnapper legen gewöhnlich Wert auf lebende Geiseln. Die besten Überlebenschancen haben Männer im Alter zwischen 18 und 65 Jahren.

Warum hat die Hamas trotzdem Kinder verschleppt? Experten sagen, die Terroristen wollten grösstmöglichen psychologischen Druck auf die israelische Gesellschaft und die Regierung ausüben. Ein brutaleres Druckmittel als Kindergeiseln gibt es nicht.

In den ersten Tagen nach der Entführung bringen die Terroristen Emily von einer Unterkunft zur nächsten. «Meine Tochter musste um ihr Leben rennen, vor und hinter ihr schwer bewaffnete Terroristen, während sie aus der Luft bombardiert wurden. Bei jeder Explosion glaubte Emily, sie werde sterben.»

Die meiste Zeit werden Emily, ihre Freundin und deren Mutter in einem kleinen Zimmer festgehalten. Es hilft ihr sehr, zwei vertraute Menschen um sich zu haben. Andere Kinder waren allein gefangen.

Emily bekommt sehr wenig zu essen, meistens nur morgens ein Viertel eines Pitabrots mit etwas Olivenöl. Mittags und abends gibt es nichts mehr. Sie hat ständig Hunger. Und sie hat Durst. Das Wasser, das sie bekommen, ist schmutzig und riecht schlecht. Emily versucht, so wenig wie möglich davon zu trinken, aber manchmal ist der Durst stärker als der Ekel.

Mehrmals im Gespräch unterbricht Thomas Hand seine Schilderungen. Er hat Tränen in den Augen. Er sagt: «Das Schlimmste für einen Vater ist, wenn das eigene Kind leidet und man nichts tun kann.»

Emily war immer ein sehr lebendiges Kind. Sie war gern draussen, sie sang und tanzte, am liebsten zu dem Song «Halo» von Beyoncé. Seit sie gefangen ist, sieht sie kein Tageslicht mehr, weil die Vorhänge in der Wohnung immer zugezogen sind. Und sie muss den ganzen Tag still sitzen. Das Einzige, was sie tun darf, ist zeichnen. Am liebsten malt sie ihren Vater, ihren Hund und ihre Halbgeschwister. «Zeichnen hat sie beruhigt. Sie hat sich dabei vorgestellt, dass wir alle zusammen in Beeri sind», erzählt der Vater.

Auch wenn sie nachts im Dunkeln liegt, versucht Emily, an schöne Dinge zu denken. Sie stellt sich vor, dass sie den Vater umarmt oder mit ihren Freundinnen spielt. In ihren Träumen gelingt es ihr manchmal, vor der Hamas zu fliehen und zurück nach Israel zu rennen.

Ende November lässt die Hamas Emily Hand während des Austauschs von Gefangenen frei. Sie trägt bei ihrer Freilassung noch denselben Disney-Pyjama, den sie am Morgen des 7. Oktobers trug. Ihre Haare sind voller Läuse, ihr Gesicht eingefallen und fahl. Emily spricht so leise, dass der Vater sein Ohr an ihre Lippen halten muss, um sie zu verstehen.

Es wird Monate dauern, bis ihre Stimme wieder eine normale Lautstärke erreicht. Emily ist damit nicht allein. Viele Kinder, die gefangen gehalten wurden, flüstern nach ihrer Rückkehr nur noch.

Noa Ziv, Kinderärztin am Schneider Medical Center in Tel Aviv, hat 19 Kinder im Alter zwischen 2 und 18 nach ihrer Freilassung untersucht. Die Ergebnisse hielt sie in einer aussergewöhnlichen Studie fest. Es ist die erste weltweit über Kindergeiseln.

Als wir mit Noa Ziv in einem Video-Call darüber reden, wie sie sich auf die Begegnung mit den Kindern vorbereitet hat, sagt sie: «Wir hatten keine Ahnung, was uns erwarten würde, wir befanden uns im Blindflug.»

Ziv und ihre Kollegen sind spezialisiert auf Kinder mit psychischen Störungen. Aber Traumata wie bei den Geiseln von Gaza hatten sie noch nie gesehen. Die Freigelassenen hatten Albträume, konnten nicht schlafen, waren verwirrt oder wussten nicht, wo sie sich befanden. Ziv sagt: «Die Kinder zeigten ein unterwürfiges Verhalten und befolgten alles, was wir verlangten. Das war sehr beunruhigend.» Ausserdem verloren die Patienten während der Haft bis zu 20 Prozent ihres Gewichtes, die meisten litten an Infektionskrankheiten.

Noch können die Ärzte nur mutmassen, unter welchen Langzeitfolgen die Kinder leiden werden. Die israelische Psychologin Daphna Dollberg sagte gegenüber Medien, sie erwarte schwere Entwicklungsstörungen. «Es ist möglich, dass betroffene Kinder langsamer wachsen als Gleichaltrige. Ihre motorischen, sprachlichen und kognitiven Fähigkeiten können sich verzögern.»

Besonders um die Kleinsten macht sich die Psychologin Sorgen. Auch Kleinkinder könnten sich an traumatische Erlebnisse erinnern. Weil ihnen die Sprache fehle, reagierten sie körperlich oft stärker. Sie essen nicht mehr oder können nicht mehr schlafen. Am schwerwiegendsten jedoch sei der Vertrauensverlust: Weil die Eltern die Kinder nicht schützen konnten, haben diese ihr Urvertrauen in sie verloren.

Emily ist in Geiselhaft neun Jahre alt geworden, sie wusste aber nicht, wann ihr Geburtstag war. Sie hat wie viele Geiseln das Gefühl für die Zeit verloren und glaubt, dass sie ein Jahr in Gaza gefangen gewesen sei. Emily war «nur» etwas mehr als fünfzig Tage in Geiselhaft. Andere sind bis heute gefangen, unter ihnen zwei Kinder. Die Kinderärztin Noa Ziv sagt: «Ich kann mir gar nicht vorstellen, in welchem Zustand die Geiseln nach einem Jahr sind.»

Bei Emily führte die Verlustangst dazu, dass sie ihrem Vater monatelang nicht von der Seite wich. Ein Jahr nach dem Hamas-Überfall geht es ihr besser. Mehrere Therapien haben dem Mädchen geholfen, am meisten das Reiten. Auf einem Pferd hat sie gelernt, wieder die Kontrolle zu übernehmen, das stärkte ihr Selbstvertrauen.

Für den Vater bleibt die Situation schwierig. Er arbeitet nicht mehr, um Emily bei der Genesung zu unterstützen. Sich selbst bezeichnet er als «gebrochen».

Thomas Hand und seine Tochter konnten nicht nach Beeri zurückkehren. Ein Jahr verbrachten sie in einem Hotel. Vor kurzem sind sie in ein neues Haus in einem anderen Kibbuz gezogen. Emily muss den Vater nun nicht mehr rund um die Uhr bei sich haben. Sie schläft wieder allein in ihrem Zimmer, sie besucht die Schule und trifft Freundinnen. «Manchmal ist sie wieder das fröhliche Mädchen von früher.»

Unter Panikattacken leidet Emily noch immer, aber sie werden seltener. Zuletzt hatte sie eine, als palästinensische Arbeiter vor dem neuen Haus eine Pergola aufbauten. Wenn sie jemanden in der Sprache der Entführer reden hört, fühlt sie sich nach Gaza zurückversetzt. Über ihre Geiselhaft redet sie nur mit Codewörtern. Sie spricht das Wort Gaza nicht aus, auch die Hamas nennt sie nie beim Namen. Wenn sie über Gaza redet, spricht sie über die Zeit in der «Box», die Terroristen nennt sie «Oliven».

Emily hasst Oliven.

Amit Soussana: «Ich fühlte mich nackt, wenn er da war»

Viele freigelassene Geiseln haben sexuelle Gewalt selber erlebt oder beobachtet. Die meisten Opfer reden aber nicht öffentlich darüber – aus Scham oder weil das Ereignis noch zu frisch ist.

Amit Soussana hat sich schon während der Geiselhaft vorgenommen, über ihre Vergewaltigung zu sprechen. «Die Welt muss wissen, was in Gaza passiert ist und immer noch passiert», sagt sie. Wir haben Amits Leidenszeit in Gaza anhand von öffentlichen Auftritten, Aussagen ihrer Psychiaterin und Interviews mit israelischen Medien rekonstruiert.

Amit Soussana ist 40 Jahre alt, als sie verschleppt wird. Sie arbeitet als Anwältin für geistiges Eigentum und lebt alleine in einem Reihenhaus im Kibbuz Kfar Azza. Als zehn bewaffnete Hamas-Kämpfer in ihr Haus eindringen, sie aus dem Kleiderschrank zerren und über die Felder in den Gazastreifen schleppen, wehrt sie sich heftig. Aufnahmen von Sicherheitskameras zeigen, wie die Terroristen mit Fäusten und Gewehrkolben auf sie einschlagen, bis sie sich nicht mehr regt. Schwer verletzt kommt sie in Gaza an.

Amit sitzt in einem halbdunklen Kinderzimmer am Boden und kann sich kaum bewegen. So erzählt sie es der israelischen Onlinezeitung Ynet. Ihr Fussgelenk ist mit einer Eisenkette an den Gitterstäben am Fenster festgemacht. Die Familie, die in der Wohnung lebte, ist weg. Nur Mohammed ist noch da. Ein rundlicher Mann mittleren Alters, mit beginnender Glatze und einer breiten Nase. Manchmal setzt sich Mohammed neben sie aufs Bett und streichelt sie. Sie trägt ein weisses Tanktop, er lässt sie kein T-Shirt darüberziehen. «Ich fühlte mich nackt, wenn er da war», sagt Amit in dem Interview.

Amit versucht, sich mit Mohammed zu unterhalten, um sich in seinen Augen menschlicher zu machen. Er spricht ein paar Brocken Englisch, sie versteht etwas Arabisch.

Mohammed schläft nebenan im Wohnzimmer, aber er kommt immer öfter in der Unterhose zu ihr ins Kinderzimmer und will über Sex reden. Wann ihre Periode anfange und wie lange sie noch daure, will er wissen. Danach müsse sich Amit waschen, sagt er. Sie weiss, dass Frauen im Islam wie im Judentum als unrein gelten, wenn sie ihre Blutungen haben.

«Weil mein Körper so gestresst war, dauerte meine Periode nur einen Tag», erzählt sie in einem Dokumentarfilm. «Aber ich spielte ihm eine Woche lang etwas vor. Bis ich nicht mehr lügen konnte.»

Am nächsten Morgen wird Amit von Mohammed aufgefordert, sich zu waschen. Das Wasser ist ihr zu kalt. Er kocht es. Nun steht sie im Badezimmer und schöpft sich das warme Wasser aus dem Eimer über Gesicht und Haar. Sie wäscht sich zum ersten Mal seit zweieinhalb Wochen. Für einen Moment vergisst sie alles um sich herum.

Dann hört sie seine Stimme und sieht ihn im Türrahmen stehen, mit der Waffe in der Hand. Er lächelt nicht wie sonst, er starrt sie an. Amit greift nach dem Handtuch, Mohammed kommt auf sie zu und reisst es ihr weg. Er versucht, sie anzufassen, sie stösst ihn weg. Da fängt er an, auf sie einzuschlagen und zerrt sie ins Kinderzimmer. Die Pistole auf ihre Schläfe gerichtet, missbraucht er sie.

«Während es passierte, dachte ich: So ist das also. Warum weine ich nicht? Und wie absurd ist es, in einem Kinderzimmer vergewaltigt zu werden, während mich der gelbe Kopf von Spongebob angrinst?»

Nach dem Übergriff plagt Mohammed das schlechte Gewissen, er bittet Amit, mit niemandem über den Vorfall zu reden. Sie verachtet ihn, aber sie weiss um ihre Abhängigkeit von ihm. Sie darf ihn nicht gegen sich aufbringen.

Amit hat nun ständig Angst, dass Mohammed sie wieder vergewaltigt. Um nicht verrückt zu werden, stellt sie sich vor, wie sie aus dem Haus flieht, zur Grenze rennt und dort israelische Soldaten sieht. Sie verbringt Stunden damit, sich auszumalen, wie sie Mohammed die Pistole entreissen, über den Balkon auf die Strasse springen und entkommen könnte. Diese Phantasien hätten ihr geholfen, stark zu bleiben, erzählt sie.

Amit redet in diesen Tagen auch viel mit Gott. Sie verspricht ihm, ein besserer Mensch zu werden, wenn sie freikommt.

Drei Tage nach dem Missbrauch entscheidet die Hamas, Amit Soussana an einen anderen Ort zu bringen. In einer Wohnung in einem Wohnblock wird sie von ihren neuen Wächtern in ein Zimmer gestossen, in dem ein älteres Ehepaar auf einer Matratze sitzt und zwei jüngere Frauen am Boden Karten spielen. Sie beobachtet die vier einen Moment lang, dann fragt sie ungläubig: «Seid ihr Israeli?» Die fünf Geiseln fallen sich in die Arme.

Die neuen Wächter, drei jüngere Männer, belästigen Amit nicht sexuell, aber sie foltern sie. Sie binden sie an einer Stange fest und schlagen mit Stöcken auf sie ein. Sie tun so, als wollten sie ihr die Augen mit einem Spiess ausstechen, und ziehen diesen erst im letzten Moment zurück. Manchmal demütigen sie Amit auch nur. Sie lassen sie auf allen vieren den Fussboden fegen und grölen: «Was bist du für eine tolle Anwältin, Amit?»

Amit sagt, sie habe die Todesangst und die Schmerzen kaum ausgehalten. Aber geweint habe sie nicht. «Ich wollte keine Schwäche zeigen. Diese Befriedigung wollte ich ihnen nicht geben.»

Am 30. November wird Amit Soussana nach 55 Tagen in einem Gefangenenaustausch freigelassen. Auch sie kann nicht in ihr altes Leben zurück. Ihr Kibbuz ist zerstört, ihr Haus ausgebrannt, und sie muss erfahren, dass am 7. Oktober Angehörige, Freunde und Nachbarn getötet wurden.

In der Traumapsychologie geht man davon aus, dass rund ein Drittel aller Opfer von Geiselnahmen und Terrorangriffen posttraumatische Belastungsstörungen entwickeln. Fachleute erwarten jedoch, dass es bei den Geiseln von Gaza deutlich mehr sein werden. Sie müssen nicht nur die Gefangenschaft verarbeiten, sie haben ihr Zuhause und ihre Liebsten verloren. Sie kehren zurück in ein tief verunsichertes Land, das sich im Krieg befindet.

Ein Jahr nach ihrer Entführung sagt Amit, sie sei noch nicht bereit, ein neues Leben zu beginnen. Weil sie frei ist und andere noch immer in Gefangenschaft sind, plagen sie Schuldgefühle. Erst wenn alle Geiseln zurückgekehrt seien, so hofft sie, könne sie anfangen zu gesunden.

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