Europa als ewiger Streitfall: Bisher geheime Dokumente zeigen, wie der Bundesrat vor dreissig Jahren in eine historische Vertrauenskrise schlitterte – die das Land bis heute prägt.
Ärgerlicher hätte das Jahr für den Bundesrat nicht beginnen können. Da hat man nach dem EWR-Nein des Volkes im Dezember 1992 eine Charmeoffensive in Europa gestartet, damit die EU mit der Schweiz in bilaterale Verhandlungen eintritt – was zuvor als aussichtslos galt. Und dann stimmt die eigene Bevölkerung am 20. Februar 1994 ganz knapp für eine von einigen Berglern und Umweltbewegten lancierte Initiative «zum Schutze des Alpengebietes vor dem Transitverkehr», was die europapolitischen Fortschritte gleich wieder zunichtemacht. Besonders zerknirscht ist Verkehrsminister Adolf Ogi, sonst der Strahlemann und Sportsmann der Regierung – der in diesem Drama aber eine nicht ganz unwesentliche Rolle gespielt hat.
In der «Arena» des Schweizer Fernsehens ist er gewohnt gewandt aufgetreten, bis ihm vor laufenden Kameras der Kragen platzte und er die Initianten abkanzelte. Das kam nicht gut an. Nie zuvor und wohl auch nie mehr danach ist hierzulande eine Volksabstimmung am Bildschirm entschieden worden.
Die Niederlage ist der Auftakt in ein politisches Schreckensjahr für die Landesregierung. Und dies in unsicheren, krisenhaften Zeiten, mit knappen Bundesfinanzen, hoher Arbeitslosigkeit sowie einem Krieg in Jugoslawien und einem Völkermord in Rwanda. Wie dramatisch es damals für den Bundesrat war, zeigen nun amtliche Dokumente, die – nach Ablauf der Sperrfrist von dreissig Jahren – von der Forschungsstelle Dodis (Diplomatische Dokumente der Schweiz) ausgewertet und zugänglich gemacht worden sind. Sie belegen auch, wie manche Debatten bis heute nachhallen, gerade bezüglich Europa.
Strategie ohne Inhalt
Wie weiter nach dem Debakel um die Alpeninitiative? Die Medien verkünden bereits eine «frostige Sitzung» des Bundesrats. Tatsächlich verlangt der enttäuschte Ogi eine Aussprache. Er habe sich «bei der Bekämpfung der Alpeninitiative ziemlich einsam gefühlt». Und: «Vom Kollegialsukkurs im Abstimmungskampf kann keine Rede sein.» Bundesrätin Ruth Dreifuss sei nicht zu einem gemeinsamen Auftritt bereit gewesen. Und die Bundesverwaltung habe zur Unzeit unvorteilhafte Berichte veröffentlicht, etwa ein Horrorszenario für die Alpen wegen der Erderwärmung.
Das Gremium sieht die Notwendigkeit, die bundesrätliche Strategie bei Abstimmungen zu überprüfen. Auch wenn Bundespräsident Otto Stich findet: «In der Politik sollte man nichts persönlich nehmen.» Der knorrige Solothurner Sozialdemokrat empfiehlt zudem, gelassen auf die Irritationen aus Brüssel zu reagieren: «Diese Kritiken zeugen von wenig Respekt für demokratische Entscheide.»
Die Europafrage ist das drängendste wie diffizilste Geschäft des Bundesrats. Und er ist sich inhaltlich überhaupt nicht einig. Schon in ihrer ersten Sitzung im Januar 1994 hat die Landesregierung über eine «Gesamtstrategie» für den anstehenden bilateralen Verhandlungsmarathon diskutiert. Doch das Papier aus dem Aussen- und dem Volkswirtschaftsdepartement kommt nicht gut an. Innenministerin Ruth Dreifuss spricht von einer «generellen Enttäuschung», die wichtigen Probleme seien ungelöst. Sie fragt: «Welchen Sinn hat es, diese Strategie zu diskutieren, ohne den Inhalt des Verhandlungsmandats zu kennen?»
Die politischen Knackpunkte sind klar – und bis heute die gleichen. Für Justizminister Arnold Koller ist die «institutionelle Frage» das grösste Problem. «Hier dürfen die Verhandler keinesfalls ohne die vorherige und ausdrückliche Zustimmung des Bundesrats auf Lösungen eintreten» (wie er in einer späteren Sitzung betonen wird). Und Aussenminister Flavio Cotti sagt: «Wir wollen keine vollständige Personenfreizügigkeit, da die Schweiz bereits einer grossen Zahl von Ausländern Arbeit gibt.» Doch wo soll eine «bottom line» definiert werden? Einig ist man sich beim Personal. Ogi findet: «Man kann nicht die gleichen Gesichter, die beim EWR verloren haben, wieder nach Brüssel entsenden. Die Mannschaft muss geändert werden.» Dort soll es künftig Staatssekretär Jakob Kellenberger für die Schweiz richten.
Die Annahme der Alpeninitiative hat seine Aufgabe jedoch nicht einfacher gemacht. Der EU-Erweiterungskommissar Hans van den Broek erklärt bei einem Besuch in Bern im April 1994 pikiert: «Der bilaterale Prozess ist dadurch nicht blockiert, aber muss neu überdacht werden.»
Nein, nein, nein!
Derweil versucht Aussenminister Flavio Cotti, innenpolitisch zu punkten. Im Parlament verteidigt er den Bericht des Bundesrats über die Aussenpolitik, der mehr Öffnung statt Isolation fordert. Es sei ein klarer und ehrlicher Bericht, kein «Wischiwaschi in einem unsicheren Umfeld». Und bezüglich EWR-Nein erklärt er forsch, «dass die Volksentscheide die Geschichte dieses Landes nie gestoppt haben». Die gedankliche Darstellung langfristiger Entwicklungen sei eine Verpflichtung, «sie darf nicht gestoppt werden». Der Bundesrat halte deshalb am strategischen Ziel eines EU-Beitritts weiter fest.
Die Landesregierung hat zwar erkannt, dass Aussenpolitik in der direkten Demokratie nur gelingen kann, wenn sie innenpolitisch abgesichert ist. Aber sie unterschätzt die tiefen Gräben zwischen Bevölkerung und Politik seit dem EWR-Nein – zwischen dem angeblich einfachen Volk und der «Classe politique» in Bern, wie die SVP um Christoph Blocher bei jeder Gelegenheit betont.
Am 12. Juni 1994 fahren Bundesrat und Parlament dann gleich eine dreifache Niederlage an der Urne ein: Der Kulturförderungsartikel, die erleichterte Einbürgerung für junge Ausländer sowie das Bundesgesetz über schweizerische Truppen für friedenserhaltende Operationen werden abgelehnt. Nein, nein und nochmals nein!
Vor allem die Frage, ob die Schweiz Uno-Blauhelme in Konfliktgebiete schicken soll, ist im Vorfeld emotional debattiert worden. Die Gegner behaupteten, bei einer Annahme werde die Schweiz bald Teil der Uno und ihre Neutralität werde ausgehöhlt. In einem Streitgespräch kritisierte Aussenminister Cotti seinen Kontrahenten Blocher, er tue so, als sei er «der Gralshüter der Neutralität». Aber: «Ich stehe wie Sie zur Neutralität. Im Unterschied zu Ihnen glaube ich aber nicht, dass sie irgendwann vom Himmel gefallen ist und sich mit der Geschichte nicht auch weiterentwickeln darf.» Es nützte nichts.
Aus New York berichtet der ständige Beobachter der Schweiz bei der Uno von «einigen recht bitteren bis zynischen Bemerkungen» zum Abstimmungsausgang. Dass die Uno nicht unbedingt auf ein «paar Hunderte Blauhelme» aus der Schweiz angewiesen sei, sei indes nur ein halber Trost. «Denn wir hätten damit einen entscheidenden qualitativen Sprung in unserer Mitwirkung bei friedenserhaltenden Aktionen getan (und damit gleichzeitig den Tatbeweis für die Entwicklungsfähigkeit unserer Neutralität geliefert).»
Der Bundesrat trifft sich nach diesem «schwarzen Tag» (Bundespräsident Stich) gleich zweimal zu Krisensitzungen. «Wir haben bei drei Vorlagen verloren, die völlig unbestritten hätten sein sollen», so bedauert Stich. «Die Resultate zeigen, dass Bundesrat und Parlament beim Volk kein Vertrauen mehr geniessen.» Justizminister Koller spricht von einer «Trotzreaktion»: Viele, die zum EWR Nein gesagt hätten, «stellen nun fest, dass der Bundesrat seinen integrationspolitischen Kurs weiterverfolgen will».
Verteidigungsminister Villiger sagt: «Es ist bitter für eine Regierung, feststellen zu müssen, dass eine Volksmehrheit Lügnern mehr Vertrauen schenkt.» Aussenminister Cotti ergänzt: «Herr Blocher und seine Instrumente üben eine sehr starke, erosive Kraft aus. Das Schlimmste wäre, aufzugeben, Blocher recht zu geben und in unseren aussenpolitischen Bemühungen zu kapitulieren.» Und Ogi, der SVP-Vertreter in der Regierung, kritisiert die «systematische Demontage der Tätigkeit des Bundesrats durch die eigenen Parteien». Bezüglich der Aussenpolitik müsse «sichtbar gemacht werden, dass wir durch die Internationalisierung unsere Autonomie bereits weitgehend verloren haben». Fazit: Man will einen Neustart wagen – mit mehr Kollegialität und mehr Dialog mit der Bevölkerung.
Doch statt der neuen Geschlossenheit kommt es wenig später zu einem «Sommertheater», weil sich Bundespräsident und Kassenwart Stich mitten in den Ferien in einem Radiointerview gegen die vom Gesamtbundesrat genehmigte Finanzierung der Neat stellt – und damit vor allem gegen Verkehrsminister Ogi, den er ohnehin gerne als «Skilehrer» diffamiert. Die Posse beschädigt die Glaubwürdigkeit der Landesregierung weiter.
Absoluter Tiefpunkt
Der Vertrauensverlust ist nun Dauerthema im Bundesrat. Eine von den Behörden bei einem Forschungsinstitut in Auftrag gegebene Studie kommt zum ernüchternden Befund: «Seit 1989 verloren zirka 20 Prozent der Stimm- und Wahlberechtigten oder fast eine Million Bürgerinnen und Bürger das Vertrauen in den Bundesrat. Das Regierungsvertrauen stagniert seit 1992 auf dem absoluten Tiefpunkt.»
Die Bundeskanzlei erarbeitet zudem ein Diskussionspapier zur «Wiederherstellung des Vertrauens in die Behörden». Zur Sprache kommt insbesondere die Frage, wie stark sich Mitglieder des Bundesrats in der «heissen» Phase einer Abstimmung engagieren sollten. Früher war äusserste Zurückhaltung angesagt, was nun aber nicht mehr zeitgemäss erscheint. Doch man begebe sich auf heikles Terrain: Die politischen Gegner könnten «viel stärker mit Emotionen, Halb- und Unwahrheiten» argumentieren als der Bundesrat, der dem Gesamtinteresse des Landes verpflichtet sei.
Auch der Einsatz eines Coachs wird diskutiert. Und die Bedeutung von bundesrätlichen Auftritten in der wichtigsten Polit-Sendung des Landes, der «Arena» – nicht nur wegen Ogis Patzer bei der Alpeninitiative. Im Abstimmungskampf um die Blauhelme verzichtete Kaspar Villiger darauf, sich im Fernsehen mit Christoph Blocher zu duellieren. Man wolle «keinen Showdown in Form eines Gladiatorenkampfes», erklärte Villigers Sprecher. Die «Sonntagszeitung» titelte daraufhin «Angsthase», die Gegner schlachteten es genüsslich aus. Im Papier der Bundeskanzlei heisst es: «Die Trennlinie zwischen sachlicher, fairer Auseinandersetzung und demagogisch-populistischer Schaumschlägerei ist äusserst dünn.»
Trotzdem steigt Bundespräsident Otto Stich höchstpersönlich in die «Arena», nur wenige Tage vor der Abstimmung Ende September über die Anti-Rassismus-Strafnorm. Es ist nötig, denn es droht eine weitere Blamage, obwohl die ganze offizielle Schweiz die Vorlage unterstützt. Nur rechtskonservative und rechtsextreme Kreise agitieren dagegen, aber mit Erfolg. Mit Falschaussagen wie der Behauptung, es sei ein «von der Uno diktiertes» Gesetz und man dürfe danach am Stammtisch nichts mehr sagen, ohne gleich eine Bestrafung zu riskieren, werden Ängste geschürt. Am Schluss stimmen rund 54 Prozent für das Gesetz, das eigentlich eine Selbstverständlichkeit ist. Der Bundesrat schrammt knapp am erneuten Misstrauensvotum vorbei.
Im Herbst gibt es immerhin «good news» aus Brüssel: Die EU beendet ihre «Denkpause», die bilateralen Verhandlungen können langsam Fahrt aufnehmen. Im November heisst es in einem vertraulichen Dokument der Schweizer Behörden: «Es besteht kein Anlass, in Panik zu verfallen.»
Doch die Vertrauenskrise des Bundesrats ist damit nicht beendet. Er trifft sich deshalb im Dezember 1994 in Cully am Genfersee zu einem zweitägigen «Konklave». Justizminister Koller rechnet vor, dass in dieser Legislaturperiode 84,4 Prozent der Vorlagen des Bundesrats in einer Volksabstimmung angenommen wurden. «Warum ist die Stimmung im Land trotz dieser hohen Annahmequote so schlecht? Ein Grund dafür ist die Blockierung in der Aussenpolitik. Hinter der in den wichtigsten aussenpolitischen Fragen geteilten Schweiz steht aber auch ein geteilter Bundesrat.»
Adolf Ogi ortet einen generellen gesellschaftlichen Missstand: «Unsere Mentalität ist krank geworden, wir sind Weltmeister im Kritisieren und in der Selbstzerfleischung geworden.» Im Bundesrat müsse man wieder Zeit finden, «öppis z’Bode z’rede». Und: «Wenn wir uns wirklich mögen, dann helfen wir gegenseitig, wenn jemand von uns in Schwierigkeiten gerät. Das machen wir aber heute nicht mehr.» Auch Kaspar Villiger unterstreicht die Bedeutung persönlicher Kontakte zwischen den Mitgliedern des Rates: «Wenn die Meinungen aufeinanderprallen, müssen wir dafür sorgen, dass es keine Verlierer gibt.» Es bleibt ein frommer Wunsch – bis heute.
Sacha Zala (Forschungsleiter), Thomas Bürgisser (Redaktionsleiter) und Mitarbeitende: Diplomatische Dokumente der Schweiz, Band 1994. Bern 2025. 434 S., Bestellungen und Gratis-Download: www.dodis.ch