Zehntausende Menschen sind im berüchtigten Saidnaya-Gefängnis in Damaskus für immer verschwunden. Khaled Mahmud al-Dris ist rausgekommen.
Khaled Mahmud al-Dris erinnert sich genau an den Ort des Schreckens. «Dort hinten war meine Zelle», sagt er und läuft den Gang entlang. Dann bleibt er vor einem leeren Raum stehen. Die Wände sind gelblich verputzt, der Boden ist nackt und kalt. «Im Winter war es eisig kalt hier, im Sommer glühend heiss.»
Der Barbier aus Damaskus sieht alt und gebrochen aus. Dabei ist er gerade einmal 33 Jahre alt. Aber drei Jahre seines Lebens hat Dris in der Hölle verbracht: Von 2016 bis 2019 sass er im Gefängnis von Saidnaya, dem wohl berüchtigtsten Folterkeller des Asad-Regimes. Viele Syrer nennen den Komplex, der wie ein finsteres Raumschiff auf einem Berg ausserhalb der Hauptstadt thront, bloss das «Schlachthaus für Menschen».
Tausende wurden hier eingekerkert, gefoltert und ermordet. Umgeben von Stacheldraht, Checkpoints und Mauern, war Saidnaya normalerweise das Ziel einer Reise ohne Wiederkehr. Wer hier landete, hatte kaum Aussichten, je wieder lebend herauszukommen. Doch jetzt, nachdem islamistische Kämpfer den langjährigen Machthaber Bashar al-Asad und seine Schergen in einem Blitzfeldzug aus Syrien gejagt haben, stehen die Tore dieses finsteren Ortes mit einem Mal weit offen.
Überall laufen Verzweifelte herum
Nun fährt gefühlt das ganze Land nach Saidnaya, um herauszufinden, was hinter diesen Mauern geschah – und ob irgendwer von den Abertausenden Verhafteten, die meist spurlos verschwanden, noch am Leben ist. Oder aber sie kommen, um jenen Ort, der sie einst gebrochen hat, noch einmal zu besuchen – wie Dris, der Barbier.
Er wolle seine Geschichte unbedingt für die Nachwelt erzählen, sagt er und kniet sich mit dem Kopf in Richtung der Zellenwand auf den Boden. Dann legt er die Hände an die Stirn. «Vierundzwanzig Stunden lang musste ich so sitzen. Gemeinsam mit siebzig anderen Gefangenen. Wir durften uns nicht bewegen.» Immer wieder seien einzelne Häftlinge herausgepickt, geschlagen und mit Stiefeln getreten worden. «Jeden Tag, immer wieder.»
Wie viele Menschen in dem 1986 fertiggestellten Saidnaya-Komplex verschwanden, weiss bis heute niemand. Doch angesichts der Angehörigen und Freunde der Verschwundenen, die jetzt das offene Gefängnis stürmen, muss es sich um Zehntausende gehandelt haben. Denn überall in dem sternförmigen Bau, von dessen zentralem Rondell drei identische Zellenblöcke in verschiedene Richtungen abgehen, laufen Verzweifelte herum.
Manche Häftlinge haben ihren Namen vergessen
Da sind die beiden Schwestern, die auf der Suche nach ihrem Bruder sind, der 2015 offenbar nur deshalb verschwand, weil sein Name identisch mit dem eines gesuchten Dissidenten war. Oder Mahsan Abushams, eine alte Frau aus Ghuta mit Kopftuch und faltigem Gesicht, die mit ihrem Enkel gekommen ist, um nach ihren vier Söhnen zu suchen. Die Leute rufen jedem, der aussieht, als kenne er sich aus oder könne helfen, lauter Namen entgegen. Viele wissen nicht einmal, ob ihre verschwundenen Verwandten überhaupt in Saidnaya waren. Trotzdem kamen sie her.
Dazwischen versuchen die islamistischen Milizionäre, die in ihrer Hochburg Idlib auch nicht gerade zimperlich im Umgang mit Andersdenkenden waren, für Ordnung zu sorgen. Nachdem sie am Sonntag das Gefängnis erreicht hatten, war es dort zu dramatischen Szenen gekommen. Manche Häftlinge waren so lange eingekerkert gewesen, dass sie offenbar ihre Namen vergessen hatten. Andere wiederum glaubten, dass Hafiz al-Asad noch am Leben sei – Bashars Vater, der im Jahr 2000 starb.
Zu vielen Gefangenen konnten die Befreier aber nur mit Mühe vordringen. Sie siechten in stockfinsteren Kellerlöchern vor sich hin – tief unter der Erde versteckt oder hinter mit Geheimcodes versperrten Türen. Rettungstrupps mussten Wände und Fussböden durchschlagen, um zu ihnen zu gelangen. Offiziell wurde inzwischen vermeldet, dass alle noch lebenden Gefangenen gefunden worden seien. Doch viele der Angehörigen, die fieberhaft nach ihren Liebsten suchen, wollen das nicht glauben.
«Ich kam nur frei, weil meine Familie den Richter bestach»
Überall in den finsteren, nach Verwesung und Moder riechenden Untergeschossen trifft man deshalb auf Männer, die Wände nach Hohlräumen abklopfen oder mit Spitzhacken Löcher in den Betonboden hauen, in der Hoffnung, zu einem noch nicht entdeckten Raum zu gelangen. Auf dem Hof des Gefängnisses lässt eine Frau sogar einen Metalldraht pendeln. Es ist angeblich eine Wünschelrute, die helfen soll, weitere Vermisste zu lokalisieren.
Listen der Gefangenen gibt es offenbar nicht. Trotzdem schleppen die Angereisten alle möglichen Dokumente mit nach draussen und inspizieren sie, um irgendwo Hinweise oder Namen zu finden. Der syrische Polizeistaat zeichnete sich nicht nur durch seine unfassbare Brutalität aus, sondern auch durch seine Geheimhaltung und Undurchschaubarkeit.
So landeten viele Leute in einem der Hunderte von Gefängnissen, ohne überhaupt zu wissen, wofür. Man habe ihn einfach irgendwann in einer als oppositionsfreundlich geltenden Gegend auf der Strasse aufgegriffen, sagt Dris. Ein Grund dafür sei ihm nie genannt worden. «Drei Jahre später kam ich nur frei, weil meine Familie einen Richter bestechen konnte, mit 15 000 Dollar.»
Das orwellsche System hat Syrien tief geprägt
Andere hatten weniger Glück und verschwanden für immer. Zum syrischen Gulag gehörten nicht nur grosse Anlagen wie Saidnaya, sondern auch Polizeigefängnisse, Militärhaftanstalten und unzählige weitere, geheime Orte, an denen Leute festgehalten, gefoltert und ermordet wurden. In dem paranoiden, von konkurrierenden Geheimdiensten durchzogenen Überwachungsstaat wussten oftmals sogar die Angestellten der Sicherheitsdienste nicht, welche Gefangenen ihre Organisation festgesetzt hatte und welche nicht.
Wie sehr dieses orwellsche System die Gesellschaft geprägt hat, ist bis heute zu spüren. So sind die Händler im Suk von Damaskus auch nach dem Sturz des Regimes trotz aller Freundlichkeit Fremden gegenüber misstrauisch. Dem Regime wird alles zugetraut. Es kursieren sogar Berichte, in Saidnaya habe es Fleischpressen für Menschen gegeben. Eine Presse ist im Untergeschoss tatsächlich zu sehen – doch ob sie diesem Zweck galt, ist nicht gesichert.
Die Zustände in Saidnaya waren dennoch unerträglich. Immer wieder seien Mitgefangene gestorben, sagt Dris – sei es an den Folgen der Folter, an Krankheiten, wegen fehlender medizinischer Versorgung oder weil sie vermutlich exekutiert wurden. Trotz dieser furchtbaren Erfahrung ist der einstige Häftling an den Ort seines Leidens zurückgekehrt. «Jetzt, da die Türe meiner ehemaligen Zelle offensteht, fühle ich, dass Syrien frei ist», sagt er.

