Sonntag, September 29

Das Zeugnis für die österreichische Regierungskoalition wird bei der Wahl am Sonntag katastrophal ausfallen. Nun droht dem Land ein politischer Neustart ohne zukunftsträchtige Optionen.

Es sollte ein Modell mit Strahlkraft über die Grenzen hinaus werden. Sebastian Kurz sah sich wieder einmal als internationaler Taktgeber, als er nach seinem fulminanten Wahlsieg vor fünf Jahren die erste konservativ-grüne Regierung Österreichs bildete. Das könne eine Vorbildfunktion auch für Deutschland haben, meinte er Anfang 2020 am Weltwirtschaftsforum Davos selbstbewusst und wagte sogar die Wette, dass nach der nächsten Bundestagswahl auch das Nachbarland schwarz-grün geführt werde.

Es kam bekanntlich anders. In Deutschland regiert eine Ampelkoalition, und auch in Österreich könnte nach der Wahl vom Sonntag ein Dreierbündnis nötig werden, um die rechtspopulistische FPÖ von der Macht fernzuhalten. Die schwarz-grünen Jahre werden dagegen als vorerst gescheitertes Experiment in die Geschichte eingehen.

Beide Regierungsparteien dürften laut Umfragen massiv an Wähleranteilen verlieren, eine Mehrheit ist rechnerisch nicht mehr vorstellbar. Das Vertrauen in die Regierung stürzte auf den tiefsten je gemessenen Wert ab. Die Wirtschaft steckt in der längsten rezessiven Phase der Nachkriegszeit, Ökonomen sprechen von fünf verlorenen Jahren.

«Koste es, was es wolle» war das Motto – über die Krise hinaus

Das Zeugnis fällt damit katastrophal aus. Die eigentliche Bilanz dieser Regierung ist allerdings gar nicht so schlecht. Denn so turbulent die Amtszeit auch war mit zwei Kanzlerwechseln und den grössten externen Krisen der Zweiten Republik, so ist doch zu berücksichtigen: Die beiden Koalitionspartner regierten trotz ihrer Gegensätzlichkeit eine ganze Legislaturperiode durch, was in Österreich eher die Ausnahme ist. Zudem gelangen wichtige Reformen, die zuvor jahrzehntelang versprochen und nie umgesetzt worden waren – die Abschaffung der kalten Progression etwa oder die Einführung des Öffentlichkeitsprinzips in der Verwaltung.

Eine Harmonie, wie Kurz sie einst mit dem damaligen FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache zelebriert hatte, war nie zu erwarten. Dafür liegen die beiden Parteien inhaltlich zu weit auseinander. Es kam sogar zu schweren Zerwürfnissen: Die Grünen erzwangen vor drei Jahren wegen Korruptionsvorwürfen den Rücktritt von Kurz, und die ÖVP zeigte im Juni die grüne Umweltministerin nach ihrer eigenmächtigen Zustimmung zum EU-Renaturierungsgesetz wegen Amtsmissbrauchs an. Aber das schwarz-grüne Bündnis funktionierte bis auf die letzten Monate überraschend reibungsarm, nachdem zuvor die schwarz-blaue Koalition nach nur anderthalb Jahren zerbrochen war.

Das folgte auch aus purer Not: Bald machten die schlechten Umfragewerte vorgezogene Neuwahlen für beide Parteien nicht erstrebenswert. Aber es bewährte sich das Prinzip, das Kurz bei der Präsentation des Regierungsprogramms mit dem «Besten aus beiden Welten» beschrieben hatte. Die Regierungspartner liessen bei den jeweiligen Kernthemen gegenseitig Erfolge zu, nachdem es früher in den grossen Koalitionen zwischen Konservativen und Sozialdemokraten oft genug darum gegangen war, Prestigeprojekte der anderen Partei zu verhindern.

Vor allem die Grünen nutzten diesen Spielraum und setzten das populäre Klimaticket für den öffentlichen Verkehr sowie milliardenschwere Investitionen in den Klimaschutz durch. Ein echter Meilenstein ist auch die ökologische Steuerreform, mit der ein CO2-Preis eingeführt wurde, auch wenn er noch zu tief angesetzt ist. Die ÖVP konnte dafür ohne viel koalitionsinternen Widerstand ihre harte Linie in der Migrationspolitik propagieren, erhielt eine Senkung der Körperschaftssteuer, die dringend nötige Aufrüstung des Bundesheers und den Beitritt zum europäischen Luftverteidigungssystem Sky Shield – für Österreich ist das durchaus eine kleine Zeitenwende.

Die Liste zeigt allerdings, dass es vor allem enorme Geldsummen waren, die den Kitt dieser Koalition bildeten. «Koste es, was es wolle» war das Motto, das Kurz während der Corona-Pandemie ausgerufen hatte, und es sollte auch darüber hinaus gelten. Für jedes Problem eilte der Staat herbei, der Zuschüsse und Boni mit der Giesskanne verteilte. Das Subventionsvolumen explodierte, selbst bereinigt um die Massnahmen gegen Pandemie und Teuerung. Ob die Gelder zielgerichtet eingesetzt wurden, spielte keine Rolle, das ins Koalitionsabkommen geschriebene Ziel eines ausgeglichenen Haushalts auch nicht. Österreich verfehlt die EU-Fiskalregeln deutlich, Brüssel verlangt für das nächste Jahr erhebliche Einsparungen.

Überhaupt ist die Wirtschaftslage düster. Das Land verliert an Wettbewerbsfähigkeit, Produktivität und Wohlstand. Seit zwei Jahren stagniert oder schrumpft die Wirtschaft. Obwohl die Bevölkerung wächst, sinkt das Arbeitsvolumen. Die Folge ist unter anderem eine hartnäckig hohe Inflation, die durch die expansive Ausgabenpolitik des Staates angeheizt wird. Reformen, die hier ansetzen, konnte die Koalition nicht durchsetzen. Für die Wirtschaftspartei ÖVP, die in dieser Legislaturperiode mit einer so grossen Mehrheit regierte, wie sie es wohl lange nicht mehr tun wird, ist das blamabel.

Die Krisen und ihre Folgen liessen das Vertrauen erodieren

Die zweite Schwäche dieser Regierung war ein teilweise erratischer Umgang mit den beiden Krisen dieser Legislaturperiode, der Pandemie und dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. In ihrem Kampf gegen das Coronavirus schwankte die Regierung zwischen Alarmismus und Selbstlob, zwischen bis ins Detail geregelten Lockdowns und gefeierten Öffnungen. Das Hin und Her gipfelte darin, dass Österreich als einzige europäische Demokratie eine Impfpflicht beschloss. Sie wurde zwar nie umgesetzt, spaltete die Bevölkerung aber tief.

Ähnlich unentschlossen wirkt Österreich gegenüber Russland. Zwar verurteilt die Regierung die verbrecherische Aggression und trägt auch die Sanktionen mit. Gleichzeitig finanziert das Land die russische Kriegsmaschinerie mit, indem es nach wie vor fast seine gesamten Erdgasimporte aus Russland bezieht – obwohl es inzwischen die Möglichkeit zum Ausstieg hätte. Bundeskanzler Karl Nehammer war neben Ungarns Regierungschef Viktor Orban der einzige westliche Spitzenpolitiker, der den Kremlherrn Wladimir Putin seit der Grossinvasion in Moskau besucht hat. Erst im August konnte sich die Regierung dazu durchringen, die Strategie der nationalen Sicherheit zu ändern, in der Russland noch als «strategischer Partner» bezeichnet worden war.

Die Krisen und vor allem ihre Folgen mit hohen Energiepreisen und Teuerung liessen das Vertrauen in die Regierung erodieren, wie es in anderen Ländern auch geschah. Hier endet aber mehr als nur eine besonders herausfordernde Legislaturperiode. Die Wahl ist auch ein Schlussstrich unter die Ära von Sebastian Kurz, der den Konservativen einen Höhenflug beschert hatte und den stetigen Niedergang der beiden staatstragenden Parteien ÖVP und SPÖ kurzzeitig stoppen konnte.

Bestätigen sich die Umfragen, wird die ÖVP unter Nehammer so schwere Verluste hinnehmen müssen, dass auch ein Bündnis mit der SPÖ keine Mehrheit mehr hätte. Dagegen dürfte die FPÖ die grosse Wahlsiegerin sein. Das wäre gleich eine doppelte Zäsur für das Land: Die Rechtspopulisten könnten erstmals zur stärksten Kraft werden. Und die grosse Koalition, diese quasi natürliche Regierungsform der Zweiten Republik, die diese aufgebaut hat und nach wie vor bis in den hintersten Winkel prägt, wäre keine Option mehr. Der Journalist Georg Renner bezeichnet das in einem kürzlich erschienenen Buch zu Recht als politische Kontinentalverschiebung, die einem Ende dieser Zweiten Republik gleichkommt.

Was auf sie folgt, ist völlig offen. Das schwarz-grüne Experiment war schon vor fünf Jahren nicht das Vorzeigemodell, als das Kurz es bewarb, sondern ein Zweckbündnis aus Mangel an Alternativen. Die inhaltlich viel naheliegendere Koalition mit der FPÖ war an der Ibiza-Affäre gescheitert – ein Ende nach kurzer Zeit und im Chaos, wie bisher bei jeder Regierungsbeteiligung der Freiheitlichen. Die klassische grosse Koalition mit der SPÖ war für Kurz undenkbar, stand sie in ihrer letzten Phase doch für Stillstand, während er «Zeit für Neues» ankündigte.

Fünf Jahre später steht eine extremere FPÖ als damals vor dem Wahlsieg. Deren Chef Herbert Kickl strebt offen eine Orbanisierung Österreichs an, und man möchte sich die radikalen Impfskeptiker und Kreml-Freunde um ihn nicht erneut an den Schalthebeln der Macht vorstellen. Die Partei hat ihre Regierungsunfähigkeit schon mehrmals bewiesen. Gleichzeitig wird vermutlich nur noch ein heterogenes Dreierbündnis einen weiteren Versuch verhindern können, und der Blick nach Deutschland stimmt dafür nicht zuversichtlich. Das Scheitern von Schwarz-Grün bedeutet deshalb vorerst eine Dritte Republik ohne zukunftsträchtige Optionen.

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