Samstag, September 28

In Bern drehen sich die Debatten im Kreis, und die grossen Fragen zur Zukunft des Landes bleiben unbeantwortet. Jetzt wäre die Landesregierung gefragt, aber die gründet lieber Arbeitskreise.

Am 23. August 2000 war der Bundesrat auf dem Schilthorn. Innenminister Pascal Couchepin stürmte voraus, Adolf Ogi zog, so behauptet er es jedenfalls, Gesundheitsvorsteherin Ruth Dreifuss hinter sich her. Der berggängige Berner Oberländer war damals Bundespräsident, und die Landesregierung hatte sich über den Voranschlag 2001 gestritten. Irgendwann platzte Ogi der Kragen, und er sagte: «So, wir gehen rauf auf den Berg, wir nehmen genug zu essen und zu trinken mit und kommen erst wieder herunter, wenn das Problem gelöst ist.»

Nach wenigen Stunden auf dem Gipfel war das Budget beraten, und der Bundesrat konnte einen ausgeglichenen Voranschlag vorlegen. Im folgenden Jahr sollte Finanzminister Kaspar Villiger das Instrument der Schuldenbremse durch die Volksabstimmung bringen. Auch aus gruppendynamischer Sicht war der Ausflug nachhaltig. Jedes Mal, wenn sich die sieben Magistraten später streiten sollten, rief Ruth Dreifuss: «Schilthorn, Schilthorn!»

Lieber delegieren als regieren

Dem heutigen Bundesrat muss niemand mit dem Schilthorn kommen. Dem Gremium sind gruppendynamische Prozesse offenbar ebenso suspekt wie Regieren über das Tagesgeschäft hinaus. Ob Armee, Bundesfinanzen, Stromversorgung, Neutralität oder das Verhältnis zur EU: Die Verantwortung für die grossen, komplizierten, mühseligen und manchmal bedrohlichen Themen wollen die sieben Bundesratsmitglieder immer seltener gemeinsam wahrnehmen. Stattdessen beauftragen sie Expertengruppen, gründen Sounding Boards und berufen runde Tische ein. Das ist sehr egalitär, sehr eidgenössisch und hat den Vorteil, dass nie jemand schuld ist, wenn etwas schiefgeht.

Wie die helvetische Regierungsdiffusion funktioniert, lässt sich gut am Beispiel der Neutralitätsdebatte beschreiben. Als Russland die Ukraine überfiel, vergingen mehrere Tage, bis sich der Bundesrat entscheiden konnte, ob er nun die Sanktionen der EU mittragen will oder nicht. Aussenminister Ignazio Cassis hatte eine klare Haltung dazu. Am Rande des Weltwirtschaftsforums brachte er die Idee einer kooperativen Neutralität auf. Seine Regierungskollegen liessen ihn erst einen Neutralitätsbericht erstellen – und dann auflaufen.

Doch die grossen Fragen blieben: Soll die Schweiz das Verbot für die Wiederausfuhr von Kriegsmaterial gegenüber bestimmten westlichen Staaten wieder lockern? Soll sie die Neutralität stärker an der Uno-Charta ausrichten? Und soll die Armee enger mit der Nato kooperieren?

Auch die Verteidigungsministerin Viola Amherd hat eine klare Meinung, und im März 2023 tat sie diese öffentlich kund. In einer Rede vor der Schweizerischen Offiziersgesellschaft sagte sie: «Keiner meiner ausländischen Amtskollegen hat Verständnis dafür, dass wir andere Länder daran hindern, die Ukraine mit dringend benötigten Waffen und Munition zu versorgen.»

Dummerweise erschien am folgenden Tag ein Interview mit dem damaligen Bundespräsidenten, Alain Berset. Darin versicherte er, dass unter keinen Umständen Schweizer Waffen im ukrainischen Kriegsgebiet eingesetzt würden. Leider spüre er in gewissen Kreisen «einen Kriegsrausch».

Man muss halt die Papiere lesen

Der öffentliche Schaden war angerichtet. Im In- und Ausland hagelte es Kritik. Was nun? Die Verteidigungsministerin tat das, was einem Mitglied des Bundesrats übrigbleibt, wenn sich das Gremium nicht einig ist. Sie setzte eine externe Studienkommission ein, die «Impulse für die Sicherheitspolitik der kommenden Jahre geben soll». Vor kurzem stellte die Kommission einen 68-seitigen Bericht vor, der Amherds Kurs im Wesentlichen stützte.

Doch welche Strategie hat eigentlich der Gesamtbundesrat für die Neutralitäts- und Sicherheitspolitik des Landes? Hat er überhaupt eine? In einem Interview mit der NZZ beantwortete Markus Mäder, der Chef von Amherds neuem Staatssekretariat für Sicherheitspolitik (Sepos), die Frage so: «Wir haben mehrere nach wie vor gültige Grundlagen wie den ‹Sicherheitspolitischen Bericht 2021›, den ‹Zusatzbericht 2022› oder diverse Antworten auf Vorstösse aus dem Parlament. Wenn man bereit ist, die diversen Papiere vernetzt zu lesen, ist ein klarer Plan da.» Sicherheitspolitik könne vom Bundesrat nicht einfach top down in einem einzigen Regierungsdokument verordnet werden. Vielmehr würden alle relevanten Akteure einbezogen. Das sei ein gängiger helvetischer Prozess.

Die Botschaft des Sepos-Chefs: Ich weiss selbst, dass der Bundesrat keinen Plan hat, aber ich gebe mein Bestes, um das zu verwedeln. Doch Mäder hat recht. In der Schweiz ist man skeptisch, wenn die Regierung den Kurs zu demonstrativ vorgibt. Die Verteidigungsministerin ist deshalb längst nicht die Einzige, die ihre Politik mithilfe von Experten und Beratern an runden Tischen und in Arbeitskreisen formt. Als sich zeigte, dass auf das Land mehr Ausgaben zukommen, als die Schuldenbremse zulässt, brachte auch Finanzministerin Karin Keller-Sutter den Bundesrat dazu, eine verwaltungsexterne Expertengruppe einzuberufen.

Doch kaum hatten die Experten ihre Überlegungen vorgestellt, brach die allgemeine Entrüstung aus, und Keller-Sutter berief einen runden Tisch ein. Erst trafen sich die Sozialpartner mit ausgesuchten Bundesräten, dann die Parteipräsidenten und schliesslich die Vertreter der Kantone. Nach zwei Tagen war die Aussprache beendet, und die erste Kritik wurde laut.

Mitte-Präsident Gerhard Pfister wetterte: «Der Ball liegt beim Bundesrat, er soll seine Führungsverantwortung wahrnehmen.» Wenig später doppelte SP-Co-Präsident Cédric Wermuth nach: «Der Bundesrat macht alles, um keine politische Verantwortung übernehmen zu müssen. Er tut so, als würde er alle einbeziehen, damit er am Ende nicht schuld ist, wenn es schiefgeht.»

Die erste Aufgabe der Landesregierung? Regieren

Die Analyse der beiden Parteipräsidenten ist nicht falsch. Der Bundesrat scheut sich immer häufiger vor klaren Richtungsentscheiden. Zu den Verhandlungsfortschritten mit der EU hat er sich bisher erst im Rahmen einer «Standortbestimmung» geäussert, und seine Haltung zur Neutralität und zur Rolle der Armee muss man sich aus Experten-Äusserungen und dem Zusatzbericht zum Sicherheitsbericht zusammenklauben.

Hat das Gremium überhaupt schon über die Eckpfeiler der Neutralitätspolitik oder die Zukunft des geplanten Vertragswerks mit der EU beschlossen? Man weiss es nicht. Wermuth und Pfister haben recht: Die wichtigste Aufgabe des Bundesrats ist gemäss Verfassung das Regieren, doch die Landesregierung delegiert lieber. Die beiden Parteipräsidenten machen es sich allerdings zu einfach, wenn sie dem Bundesrat die alleinige Schuld dafür geben. Die Parteien sind wesentlich mitverantwortlich für die konfusen Zustände, die derzeit in der Schweizer Politik herrschen.

Auch Kaspar Villiger hat runde Tische einberufen. Dort wurde dann in langen Nächten auch ein Konsens für die Sparpolitik des Bundesrats erreicht. Allerdings hatten die meisten Parteien damals noch ein thematisch breites Parteiprogramm. Die FDP und die Mitte wirkten oft als Mediatoren. Waren sie sich einig, resultierte in der Regel ein tragfähiger politischer Kompromiss.

Heute haben sich alle vier Bundesratsparteien polarisiert. Das Ergebnis ist ein Parlament, in dem mehr Partei- als Sachpolitik gemacht wird. Eine Mehrheit will der Armee mehr Geld zukommen lassen, doch eine Lösung zeichnet sich seit Monaten nicht ab. Eine Mehrheit will sparen, gibt aber mehr Geld aus.

Konkordanzregierung wird zu Mehrparteienregierung

Der Bundesrat hätte die Macht und das nötige Vertrauen, um in grossen Fragen die Richtung vorzugeben. Doch weil die Parteien immer unverhohlener Erwartungen an die Adresse ihrer Magistraten formulieren, gründen diese lieber Arbeitskreise. Aus einer Konkordanzregierung ist eine Mehrparteienregierung mit mässig ausgeprägtem Willen zu Regierungspolitik geworden.

Doch es gibt Grund zur Hoffnung. Kaum war der runde Tisch zur Bereinigung des Bundeshaushalts vorbei, präsentierte Karin Keller-Sutter an einer Medienkonferenz auch schon die Sparpläne der Regierung. Neben ihr sassen Verkehrsminister Albert Rösti und Gesundheitsvorsteherin Elisabeth Baume-Schneider. Auch Viola Amherd hätte sich dazugesetzt, wäre sie nicht auf dem Weg ins Ausland gewesen, hiess es.

Das letzte Wort hat das Parlament. Bevor der Streit wieder losgeht, hat der Bundesrat ein selten gewordenes Zeichen der Einheit gesetzt. Für das erhabene Berner Schilthorn reicht das noch nicht, aber vielleicht fürs Zürcher Hörnli.

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