Mittwoch, März 19

Im Bestreben, den Erfolg zu kaufen, haben der Verband und seine Klubs die Nachwuchsarbeit vernachlässigt. Die Rechnung wird ihnen in den kommenden Jahren präsentiert.

Am vergangenen Donnerstag, vier Tage nach der Finalniederlage der Schweizer Eishockey-Nationalmannschaft an der Weltmeisterschaft in Prag gegen Tschechien, sass Nino Niederreiter in der Talk-Sendung des Schweizer Fernsehens «Gredig direkt» und sprach über Gold, Silber, die Enttäuschung eines weiteren verlorenen Finals und das Leben als Eishockey-Profi allgemein.

Gegen Ende des Gesprächs sagte der 31-jährige Bündner: «Wir lassen uns blenden vom Erfolg der Nationalmannschaft in den vergangenen Jahren. Was nachkommt, das ist nicht gut. Unser jüngster Spieler in Prag war 24. Offensichtlich ist in den vergangenen Jahren nicht optimal gearbeitet worden.»

Niederreiter kritisiert die mangelhafte Nachwuchsarbeit

Es waren ungewohnte und auch mutige Worte. Niederreiter kritisierte, offensichtlich sei in den vergangenen Jahren nicht gut genug gearbeitet worden. Swiss Ice Hockey, der Verband, auf den diese Kritik unter anderem zielte, reagiert empfindlich auf Kritik. Gerade in diesen Tagen des Jubels und der Euphorie. Man wollte sich den Rausch der hervorragenden Auftritte von Patrick Fischers Team in Prag nicht vermiesen lassen.

Doch wann, wenn nicht jetzt, soll man warnen und kritisieren? Getragen von einer herausragenden Spielergeneration um Nino Niederreiter, Roman Josi oder auch Andres Ambühl haben die Schweizer in den vergangenen elf Jahren seit 2013 an WM-Turnieren dreimal Silber gewonnen.

Doch die Zeit dieser aussergewöhnlichen Generation neigt sich dem Ende zu. Niederreiter wird im September 32, Josi ist 34, Ambühl bereits 40. Ob sie noch einmal in dieser Zusammensetzung gemeinsam an einem grossen Turnier teilnehmen werden, weiss niemand. Allzu viele Chancen werden die Schweizer aber bestimmt nicht mehr erhalten, um nachzuholen, was sie in Prag so knapp verpasst haben.

Hinter diesen Spielern klafft ein grosses Loch. Thomas Roost, NHL-Scout in Europa und der Berater verschiedener Nationalliga-Teams, wenn es um die Beurteilung junger Talente geht, hat die Situation des Schweizer Nachwuchses einer genaueren Prüfung unterzogen. Er kommt zu einem wenig schmeichelhaften Fazit. In der Zusammenfassung seines Berichts, in den die NZZ Einsicht hatte, schreibt er: «Im Vergleich zur Weltklasse klafft ein grosser Unterschied. Die Top 5 (Kanada, die USA, Finnland, Schweden und Russland, die Red.) sind uns enteilt, und auch die Tschechen sind spürbar besser.» Den Jahrgang 2006 bezeichnet er als Silberstreifen am Horizont des einigermassen düsteren Himmels.

In den vergangenen fünf Jahren, also seit der Walliser Nico Hischier von den New Jersey Devils als Nummer 1 gezogen worden ist, hat das Schweizer Eishockey noch neun Spieler in den NHL-Draft gebracht. Dazu kamen 43 Tschechen, 85 Finnen und 138 Schweden. Rechnet man die Zahl der Gedrafteten auf jeweils 1000 Lizenzierte herunter, dann arbeiten auch die Slowakei, Deutschland oder Österreich im Nachwuchs besser als die Schweiz.

Stefan Schärer hat selber eine Analyse in Auftrag gegeben, der NZZ präsentiert er Zahlen daraus in einem Video-Call. Der 59-jährige Aargauer präsidiert den Verband Swiss Ice Hockey seit dem vergangenen Herbst. Sein erster Auftrag war es, zu schlichten und Ruhe in das Schweizer Eishockey zu bringen. Seit sich die National League vor knapp vier Jahren formell vom Verband Swiss Ice Hockey losgesagt hat, tobt zwischen den beiden Körperschaften ein nutzloser Machtkampf auf Kosten der ganzen Sportart. Immerhin konnte Schärer Anfang Jahr den Kooperationsvertrag zwischen Verband und Liga um drei Jahre verlängern.

Schärer war als Präsident der Kandidat der Klubs. Er war ein Sportler, sammelte aber als CEO und Unternehmer auch Erfahrungen in der Wirtschaft. Ihm eilte der Ruf voraus, anzupacken und auch von unpopulären Massnahmen nicht zurückzuschrecken. Viele der Klubvertreter hatten gehofft, dass er mit dem eisernen Besen in der Verbandszentrale in der Nähe des Zürcher Flughafens einfahren und aufräumen werde. Weil er das nicht getan hat, gilt er bei gewissen Exponenten bereits als «leise Enttäuschung».

Die Analyse des NHL-Scouts Thomas Roost legt den Finger auf den wichtigsten Punkt: Das Schweizer Eishockey hat ein weit grösseres Problem als jenes, wer das Sagen hat. Dies zeigen auch die Zahlen aus der Analyse des Verbands. Die Zahlen der Lizenzierten bleiben mehr oder weniger stabil. Doch im Alter zwischen 11 und 22 Jahren hören rund zwei Drittel der jungen Spieler auf, Eishockey zu spielen. Sie fehlen später nicht nur als potenzielle Nationalspieler, sondern auch als Trainer oder Funktionäre, die für das Schweizer Eishockey arbeiten.

Schärer ist mittlerweile seit rund neun Monaten an der Spitze von Swiss Ice Hockey. Doch eines hat der ehemalige Spitzenhandballer schnell realisiert. Im Schweizer Eishockey neigt man dazu, sich zu verzetteln. Schärer sagt: «Swiss Ice Hockey hat in seiner bisherigen Strategie 69 Kernpunkte formuliert. Das sind viel zu viele. Wenn wir eine Organisation von der Grösse von Swiss Ice Hockey kosteneffizient führen wollen, müssen wir mehr fokussieren.»

Der Problempunkt Nummer 1 ist das Geld. Swiss Olympic führt periodisch eine Umfrage bei seinen Mitgliedern durch und fragt sie, welches ihre grössten Probleme seien. 59 Prozent jener 137 Hockey-Vereine, die dem Sport-Dachverband geantwortet haben, nennen existenzielle Herausforderungen in den Bereichen Finanzen und Infrastruktur als ihre grösste Sorge. Dieser Prozentsatz liegt um 30 Prozent höher als in anderen Sportarten.

Im Prinzip mangelt es im Schweizer Eishockey nicht grundsätzlich an Geld. Doch der grösste Teil davon fliesst in die Spitze und dort direkt in die Löhne der Spieler. Für sie ist die Schweiz ein wahres Schlaraffenland. Hohe Löhne, kurze Weg und eine spektakuläre Liga mit grossem Publikumsinteresse. Was will man als Eishockeyspieler mehr?

Der ehemalige SCB-Ausländer und -Sportchef Andrew Ebbett sagte der Plattform «The Athletic», er habe in den fünf Jahren, die er in Bern gespielt habe, mehr gespart als in den neun zuvor in der NHL und AHL zusammen. Der Durchschnittslohn in der National League dürfte mittlerweile klar über 300 000 Franken liegen, Topspieler werden mit Geld überschüttet und kratzen mittlerweile an der Millionengrenze. Jenes Geld fehlt in der Förderung des Nachwuchses und der Breite.

Der Swiss League mangelte es an allem, sogar an Klubs

Die Swiss League, die zweithöchste Spielklasse, steht im Moment vor existenziellen Problemen. Ihr mangelt es an vielem, mittlerweile sogar an Klubs, die Teil von ihr sein wollen. Den jungen Spielern, die den Nachwuchsteams entwachsen, aber noch nicht bereit für die National League sind, droht so eine Liga verlorenzugehen, in der sie sich entwickeln können. Sven Leuenberger, der Sportchef vom Schweizer Meister ZSC Lions, sagte vor kurzem in einem Gespräch mit der NZZ, das Schweizer Eishockey gleiche nicht mehr einer Pyramide, sondern einer Art Kreisel. Mit einer schmalen Basis, aber einer breiten Spitze.

Die Ligareform mit der Erhöhung der Anzahl Teams bezeichnet Leuenberger als «Riesechalberei». Mittlerweile spielen 14 Teams in der National League mit. Längst ist common sense, dass je zwölf A- und B-Teams dem Markt und dem Spielerpotenzial angemessen wären. Doch niemand ist bereit, die Erhöhung rückgängig zu machen. Der Abstieg könnte einen selber treffen.

Statt von oben nach unten fliesst im Moment Geld von unten nach oben. Wegen des Ausbildungsreglements, das die Arbeit im Nachwuchs honoriert, muss ein Erstliga- oder MySport-League-Verein wie beispielsweise der EHC Wetzikon, der einen Spieler zurücknimmt, der im Alter von 13 bis 15 Jahren in eine National-League-Organisation gewechselt, es dort aber nicht geschafft hat, eine sogenannte Ausbildungsentschädigung an den National-League-Klub zahlen. Auf diese Weise fliessen im Moment rund eine Million Franken pro Saison aus dem Amateur- in den Profisport. Die Kosten in der National League steigen derweil weiter. Mittlerweile setzen die 14 Top-Klubs gegen 350 Millionen Franken um, rund 150 Millionen davon gehen an die Spieler.

Was aber hat das mit der Nationalmannschaft und WM-Silber zu tun? Sehr viel. Je dünner die Basis wird, desto kleiner wird die Chance, dass sich bald der nächste Nino Niederreiter, der nächste Roman Josi entwickelt. Vielleicht hilft WM-Silber ja, die begangenen Fehler zu korrigieren.

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