Die Jubiläumsausstellung zum 125-jährigen Bestehen zeigt eine klug ausgerichtete Sammlung mit internationalen Positionen und vielen lokalen Bezügen.
Einst tingelte die Kunst wie ein bunter Wanderzirkus durch die Schweiz. Der Schweizerische Kunstverein, aus privater Initiative entstanden, engagierte sich für die aktuellen Kunstströmungen schon vor über hundert Jahren mit Wanderausstellungen. Allerdings machte man nur dort halt, wo es auch einen lokalen Kunstverein gab, der die entsprechenden Räumlichkeiten unterhielt: Zürich, Winterthur, Aarau, Luzern. Diese Städte hatten Kunstvereine und kamen dadurch in den Genuss der Turnusausstellungen.
Chur war nicht dabei. In Chur aber wollte man mit von der Partie sein. So gründeten Private 1900 einen Kunstverein, um die Ausstellungen auch zu sich zu holen. Man kaufte dann auch fleissig Werke aus diesen Verkaufsschauen an. Das war der Anfang der Sammlung des heutigen Bündner Kunstmuseums Chur. Das 125-Jahr-Jubiläum gibt Anlass, die Sammlung in ihrem ganzen Spektrum zu zeigen.
Was aber wurde damals erworben? «Acht von zehn Namen kennt man heute nicht mehr», sagt der Museumsdirektor Stephan Kunz. Dass man aber damals schon 1902 Giovanni Giacometti erstand, war natürlich ein Glücksfall aus heutiger Sicht. Man bestritt die Finanzierung aus eigenen Mitteln, aber auch der Bund vergab finanzielle Zuwendungen an die Kunstvereine für Ankäufe. Staatliche Kunstförderung gab es eben schon damals.
Das erste Werk von Giovanni Giacometti kam durch einen glücklichen Zufall in die Sammlung: Sein Preis wurde aus dem Restkredit der Bundessubvention beglichen – sozusagen, weil da noch etwas Geld übrig war. Es waren 300 Franken. Damals im Jahr 1902 konnte niemand ahnen, dass die Kunst der Familie Giacometti einmal so berühmt werden und einen Schwerpunkt der Sammlung des Bündner Kunstmuseums bilden würde.
Ausgangspunkt Angelika Kauffmann
Systematisch zu sammeln begann man erst nach einigen Jahren. Man kaufte wiederholt Arbeiten von Giovanni Giacometti, dann auch von dessen Cousin Augusto Giacometti an. Noch später kamen bedeutende Arbeiten von Alberto Giacometti hinzu. Und vor einigen Jahren entschied man sich, das Kunsthandwerk von dessen Bruder Diego – bronzene Möbel mit Tierfiguren – als vollwertige Kunst anzuerkennen und in die Sammlung aufzunehmen.
Wo aber sollte diese etwas willkürlich begonnene, heute nicht weniger als 8000 Arbeiten aus allen Bereichen der bildenden Kunst umfassende Sammlung eigentlich ihren Anfang haben? Schon früh besann man sich auf einen ebenso konkreten wie aufsehenerregenden Ausgangspunkt: Angelika Kauffmann. Sie war im 18. Jahrhundert die berühmteste Schweizer Künstlerin und war schliesslich in Chur geboren. Und erst noch eine Frau, worauf man vor allem heute besonderen Wert legt. Ihre Gemälde bespielen zwei Räume im alten Museumsteil, nämlich in der Villa Planta.
Diese stattliche Villa neoklassizistischen Stils konnte bereits fast zwei Jahrzehnte nach Gründung des Kunstvereins, nämlich 1919, als Museumsgebäude bezogen werden. 1898, kurz vor seinem Tod, hatte Jacques Ambrosius von Planta das 1874/75 erbaute Haus an die Rhätische Bahn verkauft, von der es der Kunstverein mieten konnte.
Dass von Planta sein Glück als Kaufmann im ägyptischen Alexandrien gemacht hatte, sieht man dem Gebäude heute noch an: Zwei Sphingen zieren die Treppenwangen, pompejanische Malereien schmücken den ehemaligen Salon, wo heute das Museumscafé untergebracht ist, und die goldene Kuppel in byzantinischer Manier ist in der Churer Innenstadt schon von weitem zu sehen. 1957 wurde die Liegenschaft vom Kanton Graubünden erworben.
Um der wachsenden Sammlung und insbesondere den zeitgenössischen Positionen – meistens grosse Gemälde, auch sperrige Skulpturen und raumgreifende Installationen – die passenden Räume bieten zu können, kam 2016 direkt neben der Museumsvilla ein imposanter, kubusförmiger, aber dennoch leicht wirkender Erweiterungsbau hinzu. Das Gebäude des Architekturbüros Estudio Barozzi/Veiga aus Barcelona verdoppelte die Ausstellungsfläche des Bündner Kunstmuseums.
Im alten Museumsbau hätte eine jener grossen Installationen etwa von Thomas Hirschhorn gar nicht Platz gefunden. Im Kunstmuseum Aarau wird zurzeit gerade seine Rauminstallation «Wirtschaftslandschaft Davos» von 2001 gezeigt. Eine solche Arbeit des in Davos aufgewachsenen Künstlers in die Sammlung in Chur zu integrieren, war aber schon länger ein Wunsch des Museums. So konnte schliesslich der «Ruheraum mit Tränen» von 1996, eine riesige Arbeit über Viren, erworben werden. Mit Corona erhielt diese Installation erneut Aktualität, sie weist aber auch einen thematischen Bezug zum Kurort Davos auf.
Chinesische Berge
Gesammelt wird «von hier aus» – so der Titel der Jubiläumsschau: nämlich aktuelle Gegenwartskunst für die Zukunft und vor allem auch Kunst, die einen lokalen Bezug hat, aber «von hier aus» auch in die Welt hinausweist.
Ein treffendes Beispiel dafür ist Not Vital, der Bündner Künstler, der überall in der Welt aktiv ist. Von ihm zeigt die Ausstellung ein für seine Arbeit charakteristisches Werk: eine Wandskulptur, die aus dem Gipsabguss einer Engadiner Fensternische besteht und mit chinesischem Marmor versehen ist. Dessen Maserung erinnert an eine Berglandschaft. Man schaut also gleichsam aus einem Engadiner Fenster in eine chinesische Landschaft.
Auch der deutsche Künstler Wolfgang Laib fand Eingang in die Sammlung. Dies, weil es auch da interessante Bezüge zum Kanton Graubünden und zur Sammlung gibt. Angekauft wurden seine drei kleinen, leuchtend gelben Blütenstaubkegel – gleichsam unbesteigbare Berge. Sie werden jetzt im Dialog mit den leuchtenden Farben und den Berglandschaften in den Gemälden von Augusto und Giovanni Giacometti gezeigt. Laib, der sich in seinem Schaffen mit Naturmaterialien auseinandersetzt, hatte vor Jahren auch schon einmal im Bündner Kunstmuseum eine grosse Einzelschau.
Dass der britische Land-Art-Künstler Richard Long in die Sammlung gehört, ist eigentlich klar. Long arbeitet mit Steinbrocken aus dem Engadin, wo er oft wandernd unterwegs ist. Sein Steinweg «Alpine Line» liegt jetzt am Boden vor einem dazu passenden, grau-braun-abstrakten Bilderfries des Bündner Lokalmatadors Matias Spescha.
Ganz neu in der Sammlung ist Christoph Rütimann. Seine wandfüllende, mehrteilige Fotoinstallation versteht er als Malerei. Denn Rütimann taucht die Kamera gleichsam in den Farbtopf der Natur, wenn er vor der Landschaft das Gerät mit Selbstauslöser in die Luft wirft. Die bewegten Bilder fangen das Blau des Himmels, das Grün des Waldes und das Gelb des Rapsfelds ein – eine auch streng konzeptuelle Arbeit, in der die Elemente einer simplen Landschaft in ihre farblichen Bestandteile zerlegt werden.
Rütimann fuhr auch schon mit der Rhätischen Bahn bei strahlendem Wetter das gesamte Weltkulturerbe der rund 122 Kilometer langen und mehr als hundert Jahre alten Strecke zwischen Landquart und Tirano ab und wieder zurück: dies nicht allein zu seiner eigenen Freude, sondern auch zum visuellen Vergnügen der Betrachter seines Videos «Endlose Kameraschienenfahrt».
Dafür wurde eine Vorrichtung in Form einer Endlosschlaufe auf einen Güterwagen der RhB montiert, auf der sich eine Filmkamera bewegte und die ganze Fahrt aufnahm. Auch dieses schwindelerregende Video gehört selbstverständlich in die Sammlung des Bündner Kunstmuseums.
«Von hier aus. Jubiläumsausstellung», Bündner Kunstmuseum Chur, bis 6. Juli.