Mittwoch, Oktober 30

Nie hätte ich gedacht, dass ich mein Übergewicht so schnell loswerden kann. Ein Selbstläufer war es aber nicht, eher ein intensiver Lernprozess. Was also habe ich gelernt? Und was sind meine wichtigsten Tipps fürs Abnehmen und Halten des Gewichts? Eine persönliche Schlussbetrachtung.

Dieser Beitrag ist Teil der NZZ-Serie «Ich nehme ab», die von Januar bis Mitte April 2023 erschienen ist. In den Texten beschreibt der Wissenschaftsredaktor und Mediziner Alan Niederer einen Selbstversuch und vermittelt wichtige Informationen zu den Themen Übergewicht und Abnehmen.

Abnehmen sei ein schwieriger Lernprozess, sagt der Basler Arzt Bernhard Rinderknecht, der selber 50 Kilogramm abgenommen hat und sein Gewicht seit zwanzig Jahren hält (vgl. Beitrag «Den Jo-Jo-Effekt vermeiden»). Mit seiner Einschätzung hat er zweifellos recht. Auch ich musste viel lernen: nicht nur über pflanzliche Proteine, Krafttraining oder den faszinierenden Hungerstoffwechsel. Sondern auch über mich selbst.

Meinen wandelbaren Körper und Stoffwechsel habe ich in den vergangenen Wochen auf eine ganz neue Art schätzen gelernt. Zudem habe ich viele interessante Leute kennengelernt und persönliche Widerstände überwunden. Zum Beispiel meine ursprüngliche Abneigung gegen ein regelmässiges Training im Fitnesscenter.

Für all diese Erfahrungen bin ich dankbar. Was aber bringe ich «von meiner Reise zu einem gesünderen Leben» mit nach Hause? Nachfolgend versuche ich, meine wichtigsten Erkenntnisse zu formulieren:

Meine 8 Tipps für das Abnehmen und das Gewichthalten

  1. Abnehmen ist eine Entscheidung fürs Leben. Das heisst, die meisten der eingeübten Änderungen im Lebensstil müssen über die Zeit, in der man bewusst Gewicht verlieren will, hinaus beibehalten werden. Sonst droht der gefürchtete Jo-Jo-Effekt. Oder anders formuliert: Wäre das Abnehmen ein Laufsport, dann wäre es ein Sprint; das Gewichthalten dagegen wäre der Marathon.
  2. Körperliche Bewegung ist der Schlüssel für die langfristige Gewichtskontrolle. Eine Stunde Aktivität pro Tag bei leichter Anstrengung kann als Richtschnur dienen. Am einfachsten ist es, wenn das Gros der Bewegung in den Alltag integriert wird.
  3. Neben Ausdauer sollte auch Kraft trainiert werden. Das gilt insbesondere für ältere Menschen, denn ab 50 Jahren nimmt der altersbedingte Muskelabbau deutlich zu. In meiner Wahrnehmung wird der Wert von Krafttraining, das auch die Körperhaltung positiv beeinflusst, von vielen unterschätzt.
  4. Beim Essen sollte man auf ausreichend (tierische und pflanzliche) Proteine achten. Denn sie machen uns satt. Für den Rest – Kohlenhydrate und Fette – orientiere man sich an der sogenannten Ernährungspyramide für eine ausgewogene Ernährung: Was unten in der Pyramide steht, ist die Basis der Ernährung; zuoberst stehen die Genussmittel, die wir nur in kleinen Mengen geniessen sollten. Das gilt auch für den Alkohol.
  5. Gesund leben ist eine Frage der Balance. Damit der Balanceakt gelingt, braucht es weder Verzicht noch extreme Diäten und Sportprogramme. Die Devise lautet: Alles ist erlaubt, aber alles im Mass.
  6. Freude und Interesse ist der bessere Begleiter als Zwang und Disziplin. Wer sein Gewichtsproblem nachhaltig lösen will, sollte seinen Lebensstil so anpassen, dass er zur eigenen Persönlichkeit und Lebensrealität passt. Unrealistische Ziele führen nur zu Frust.
  7. Abnehmen und Gewicht halten ist auch eine mentale Übung. Um erfolgreich zu sein, muss man dem Thema die nötige Beachtung oder Achtsamkeit schenken. Es gibt Hunderte von Fragen, die sich stellen: Wähle ich beim Einkaufen vor allem natürliche Lebensmittel oder mehrheitlich (problematische) hochverarbeitete Produkte? Nehme ich mir ausreichend Zeit fürs Essen, oder schlinge ich die Nahrung herunter? Esse ich, weil ich hungrig bin oder weil ich Lust auf etwas habe? Was fühle ich, wenn ich mich bewege? Glücksgefühle, eine euphorisierende Energie?
  8. Etwas Druck kann hilfreich sein. Informieren Sie deshalb Ihre Familie und Freunde, wenn Sie ein Abnehmprogramm starten. Damit setzen sie sich einem gewissen Erfolgsdruck aus, der Sie zusätzlich motivieren kann. Gute Freunde und Bekannte werden Sie bei Ihrem Vorhaben unterstützen. Zudem haben Sie ein gutes Gesprächsthema, das viele aus eigener Erfahrung kennen. Das verbindet und schafft Nähe.

Meine Erfahrungen im Selbstexperiment: 15 Wochen Diät und Fitness

Wie erwähnt, ist Abnehmen ein Lernprozess. Das braucht Zeit, die Kilos purzeln nicht über Nacht. Ich habe deshalb mein Gewicht im Wochentakt überprüft. In der letzten Woche ist nochmals ein gutes halbes Kilogramm weg. Ich bin jetzt genau zwölf Kilogramm leichter als am 1. Januar, als ich meinen Selbstversuch startete. Damit habe ich 14,5 Prozent meines ursprünglichen Gewichts abgelegt. Nach dem medizinischen Fazit von letzter Woche will ich jetzt auch noch ein persönliches Résumé ziehen.

Was mich in den vergangenen Wochen besonders beeindruckt hat und was ich in diesem Ausmass nicht erwartet hätte, ist die grosse Anpassungsfähigkeit des Körpers. Von einzelnen Organen kennen wir das. Beim Gehirn etwa ermöglicht diese Eigenschaft das lebenslange Lernen. Auch das Herz kann sich an veränderte Anforderungen, etwa nach einem Herzinfarkt, anpassen. Zumindest in gewissen Grenzen.

Der Körper als Ganzes entwickelt sich ständig weiter. Er ist ein lernender Organismus, wie man in Anlehnung an den Begriff der lernenden Organisation aus der Arbeitswelt sagen könnte. Dabei ist er stets bestrebt, seine Prozesse zu optimieren. Und das auf allen Ebenen: von den Molekülen und Zellen über die Organe bis zum Gesamtorganismus mit seinen vielfältigen Funktionen.

In dieser Hinsicht ist unser Körper extremer als jeder Manager, der in einer Firma ein Effizienzsteigerungsprogramm durchführt. Bekommt er zum Beispiel mit der Nahrung weniger Energie zugeführt, als er braucht, baut er sehr rasch und rigoros die eigene Substanz ab. Bei mir waren es, wie gesagt, 12 Kilogramm. Und das in gut drei Monaten. Dieser Wandel bleibt auch dem betrachtenden Auge nicht verborgen:

Sichtbare Veränderungen – ein Bildvergleich

Unser Körper hat aber auch seinen eigenen «Kopf». So baut er beim Abnehmen, anders als wir es wünschen würden, nicht nur Fettgewebe ab. Der Stoffwechsel ist so ausgerichtet, dass er auch die Muskeln opfert – vor allem, wenn wir sie nicht regelmässig benützen. Mit dieser Massnahme kann der Organismus besonders effizient den Energieverbrauch (Grundumsatz) senken. Was in Hungerzeiten überlebensnotwendig ist, erhöht beim freiwilligen Abnehmen das Risiko für den gefürchteten Jo-Jo-Effekt. Dieser Zusammenhang ist für mich etwas vom Wichtigsten, was ich bei meinem Selbstexperiment gelernt habe.

Die grosse Wandlungsfähigkeit des Körpers erlaubt uns aber auch, relativ rasch und bis ins hohe Alter hinein Muskeln aufzubauen. Das erfährt zum Beispiel ein Büromensch, der einen Sommer lang auf der Alp aushilft. Der Organismus passt sich an die neue Belastung an und lässt die Muskeln genau an den richtigen Stellen wachsen. Nach dieser Idee funktioniert auch das klassische Krafttraining, das wir im Fitnesscenter oder zu Hause durchführen können.

In den letzten Wochen habe ich am eigenen Leib erfahren, wie positiv sich die Anpassungsvorgänge beim Abnehmen und Fitter-Werden auf das Wohlbefinden und die Stimmung auswirken. Dass die Veränderungen auch einen handfesten medizinischen Nutzen haben, freut mich als ausgebildeten Arzt besonders.

Schliesslich habe ich meinen Selbstversuch nicht gestartet, um im Sommer am Strand eine bessere Figur zu machen (vielleicht auch ein bisschen deswegen, aber das war sicher nicht die Hauptmotivation), sondern aus gesundheitlichen Gründen. Auch hier hat mich die Geschwindigkeit überrascht, mit der sich viele Laborwerte und Funktionstests verbessert haben (vgl. Beitrag «Mein erfolgreicher Weg zum Jungbrunnen»).

Das bringt mich zur Erkenntnis, dass ausreichende körperliche Aktivität und Gewichtsreduktion die zwei wichtigsten Vorsorgemassnahmen sind, die Ärzte ihren übergewichtigen Patienten ans Herz legen können. Denn so wie Bewegungsmangel und Übergewicht das Risiko für viele Zivilisationskrankheiten erhöhen, lösen sich viele Risikofaktoren in Luft auf, wenn sich übergewichtige Patienten genügend bewegen und abnehmen. Das zeigt nicht nur mein Selbstversuch, sondern die gesamte medizinische Literatur zum Thema Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention.

Was ich in Gesprächen mit Betroffenen und Fachleuten weiter gelernt habe: «One size fits all» (Eine Grösse passt allen) funktioniert beim Abnehmen und Fitter-Werden nicht. Es gibt weder die Wunderdiät noch das magische Bewegungsprogramm für alle. Auch eine allfällige medikamentöse Behandlung oder eine Adipositas-Operation muss auf die Bedürfnisse und Lebensumstände des Einzelnen abgestimmt sein.

Weil Übergewicht so viele individuelle Ursachen und Gründe hat, ist das Engagement der betroffenen Person entscheidend. Nur wenn sie die Motivation und die Energie aufbringt, sich ehrlich und konstruktiv mit dem eigenen Übergewicht auseinanderzusetzen, kann ein Abnehmprogramm erfolgreich sein. Wobei erfolgreich nicht zwingend einen normalen BMI bedeuten muss. So ist oft schon viel gewonnen, wenn eine weitere Gewichtszunahme verhindert werden kann. Oder jemand strebt ein individuelles Wohlfühlgewicht an.

Anmerkung zu meinen persönlichen Einschätzungen und Tipps

Wie der ganze Blog erheben auch meine persönlichen Einschätzungen und Tipps keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Exklusivität. Es sind lediglich ein paar Empfehlungen, die mir beim Abnehmen und Fitter-Werden geholfen haben.

Selbstverständlich ist das ganze Thema noch viel grösser. Das Ziel aller Gesundheitsförderung ist ja, ein langes Leben bei guter Gesundheit zu ermöglichen. Dafür braucht es – neben körperlicher Aktivität und einer ausgewogenen Ernährung – auch soziale Kontakte, geistige Herausforderungen, eine intakte Umwelt, politische Stabilität und vieles mehr. Für den Einzelnen bedeutet das: nicht stillstehen, sondern lebenslang in Bewegung bleiben – und das in allen Dimensionen.

Damit komme ich zum Ende. Zuvor möchte ich mich aber noch bei Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, für das Interesse an meinem Selbstversuch bedanken. Wenn meine Beiträge Sie inspiriert haben, sich mit Ihrer eigenen Gesundheit und Ihrem Ess- und Bewegungsverhalten zu beschäftigen, dann freut mich das aufrichtig. Im Minimum hoffe ich, dass Sie sich gut unterhalten fühlten und ich Ihnen die eine oder andere nützliche Information vermitteln konnte.

Zu guter Letzt möchte ich Ihnen noch zurufen: Machen Sie es gut – und bleiben Sie gesund!

PS: Einige Leserinnen und Leser haben geschrieben, sie würden es begrüssen, wenn ich sie weiterhin über meinen Gewichtsverlauf auf dem Laufenden halten könnte. Schliesslich komme jetzt die schwierige Phase des Gewichthaltens. Ich will mich diesem Wunsch nicht verweigern und plane, nach sechs Monaten und dann noch einmal nach zwölf Monaten kurz über mein Befinden zu berichten. Ich werde das im Rahmen der wöchentlichen NZZ-Kolumne «Hauptsache, gesund» tun.

Meine Resultate im Experiment (Woche 15)

Wöchentlich aktualisierte Zahlen zu meinem Gewicht und meinem Lebensgefühl

Mitarbeit an diesem Projekt – Medizinische Unterstützung: Prof. Dr. Marc Donath, Universitätsspital Basel (Stoffwechselspezialist), Prof. Dr. Arno Schmidt-Trucksäss, Universität Basel (Sportmediziner), Dr. Matthias Hepprich, Kantonsspital Olten (Stoffwechselspezialist), Jolanda Arnold BSc, Kantonsspital Olten (Ernährungsberaterin), journalistisch-technische Unterstützung: Frank Brunner, Nicolas Fröhner, Franco Gervasi, Reto Gratwohl, Jonas Holenstein, Alex Kräuchi, Marit Langschwager, Severin Pomsel, Annick Ramp, Roman Sigrist, Sven Titz.


«Ich nehme ab» – ein Selbstexperiment in der NZZ

Die halbe Schweiz hat Übergewicht. Die meisten Menschen sind nicht adipös, aber doch eindeutig zu schwer. Dieses «gewöhnliche» Übergewicht wird punkto Gesundheitsrisiken unterschätzt. Wenn überhaupt, wird es bisher vor allem mit Lifestyle-Veränderungen angegangen. Die Kurzformel lautet: weniger essen, mehr bewegen. Welchen Beitrag aber können neuere Medikamente zum Abnehmen leisten? Diesen und weiteren Fragen rund um das Thema Übergewicht und Abnehmen geht der Wissenschaftsredaktor und Mediziner Alan Niederer in einem Selbstexperiment nach.

Exit mobile version