Die wirtschaftliche Attraktivität eines Landes bemesse sich nicht an seiner blossen Wettbewerbsfähigkeit oder seiner demokratischen Gesinnung, sondern an seiner Stabilität, postuliert ein neues Ranking. Es setzt die Schweiz und Deutschland auf die vordersten beiden Plätze. Wie kann das sein?
Wo lohnt es sich zu investieren, und lebt es sich damit am besten? Es gibt verschiedene Indizes, die diese Fragen beantworten wollen. Die berühmtesten versuchen die Wettbewerbsfähigkeit und die Innovationskraft von Staaten zu messen. Andere bilden den vorhandenen Reichtum oder die Reputation eines Staates ab. Denn nicht von ungefähr gilt die Wirtschaftskraft, gemessen am Bruttoinlandprodukt, als einer der aussagekräftigsten Indikatoren zur wirtschaftlichen Bedeutung von Staaten.
«Alles gut und recht», erwidert dazu der Politikwissenschafter, Buchautor und Geschäftsführer der auf das Geomapping von Umweltdaten spezialisierten Firma Alphageo, Parag Khanna. «Aber das greift zu kurz.» Khanna ist überzeugt, dass es Stabilität ist, die einen Staat attraktiv macht und damit dessen Entwicklung erleichtert. Doch was heisst schon Stabilität? Khannas Firma hat dazu ein System entwickelt, das sie das Periodensystem der Staaten (PTOS) nennt. Es misst Stabilität als Konzept, das zwei Dimensionen umfasst: einerseits die Stärke eines Staates und andererseits das, was Khanna Staatlichkeit nennt.
Geopolitische Einordnung im Überblick
Kurzgefasst: Sechzehn Indikatoren messen die Stärke, zehn die sogenannte Staatlichkeit eines Staates. Der daraus ermittelte Stabilitäts-Score soll die Attraktivität eines Landes objektiv wiedergeben. Die Schweiz landet dabei auf dem ersten, Deutschland auf dem zweiten Platz. Das erlaubt interessante Einsichten, hat aber auch seine Schwächen.
Geopolitische Einschätzung: Die Grösse und die momentane Stärke von Staaten sind im internationalen Wettbewerb wichtig, aber nicht allein bestimmend für die Attraktivität eines Landes. Kleinere Länder sind oft stabiler und damit wirtschaftlich attraktiver als grosse. Die USA rangieren im Stabilitätsranking erst auf Platz 7, China auf dem 13., Brasilien auf dem 42. und Indien auf dem 43. Platz.
Blick voraus: Stabilität zu messen, ist trotz dem Fokus auf die staatliche Verfassung eines Landes eine statische Angelegenheit. Mangelnde Anpassungsfähigkeit, grosse Repression oder Polarisierung können Stabilität zu einem trügerischen Konzept machen. Investoren tun gut daran, nebst der momentanen Stabilität die geopolitische Lage und die Verletzlichkeit eines Landes in ihre Entscheidungen einzubeziehen.
Stärke ist für den Politologen ein Resultat der Grösse, aber eben auch der wirtschaftlichen und militärischen Kraft eines Landes. Zu ihr zählen die industrielle Basis und die Innovationsfähigkeit eines Landes. Die Bedeutung des Kapitalmarkts und die Stärke der Währung tragen ebenso bei wie die Fähigkeit, internationales Kapital anzuziehen. Auch eine niedrige Staatsverschuldung und grosse sogenannte Soft Power zählt Khanna dazu. All das misst das PTOS anhand bekannter Variablen und Indizes und weist dann den Staaten der Welt ihre Perzentilposition in der Verteilung des jeweiligen Indikators zu. Aus sechzehn Variablen mit je einer Verteilung zwischen 0 und 1 entsteht so ein Stärke-Score zwischen 0 und 16.
Staatlichkeit soll die innere Verfassung und Resilienz eines Staates abbilden. Dazu zählt das PTOS Governance, Infrastruktur, Nahrungsmittelsicherheit, Eigenständigkeit der Energieversorgung, Nachhaltigkeit, Klimaresilienz, soziale Fortschrittlichkeit und Prosperität eines Staates. Aus der Verteilung von zehn Variablen ergibt sich ein Staatlichkeits-Score zwischen 0 und 10.
Wie bei praktisch allen Meta-Indizes lässt sich darüber streiten, was die einzelnen Variablen wirklich messen. Auch die Gewichtung der verschiedenen wirtschaftlichen und der Resilienzfaktoren im Gesamtindex ist keine exakte Wissenschaft. Doch insgesamt zeigt sich schliesslich ein interessantes Bild.
Die stabilsten Länder der Welt, in denen es am attraktivsten ist, zu investieren, sind laut dem PTOS-Score zwar einerseits reiche grosse Länder wie die USA, Kanada, Australien und China. Aber eben nicht nur. Wegen ihrer höheren Staatlichkeit und Resilienz schneiden kleinere und kleine Länder ebenfalls spitze ab.
Grösse ist nicht entscheidend
Zum stabilsten Staat der Welt kürt die Messung der in Singapur und in den USA beheimateten Firma die relativ kleine Schweiz. Auf Platz zwei folgt erstaunlicherweise gleich Deutschland, vor Japan, Südkorea und Schweden. Die USA schaffen es erst auf den 7. Platz, China kommt auf den 13. Rang. Grossbritannien rangiert auf dem 10., Singapur auf dem 14. und Österreich bloss auf dem 19. Platz. Dafür taucht Saudiarabien schon auf dem 25. und die Vereinigten Arabischen Emirate auf dem 27. Rang auf.
Deutschland verhelfen nebst seinem wirtschaftlichen Wohlstand seine industrielle Basis und seine weltwirtschaftliche Offenheit zu seinem Spitzenplatz. Allerdings werden die Fähigkeit zur Innovation, die empfangenen Direktinvestitionen und die Stärke der Währung in Deutschland leicht schwächer gewertet als in der Schweiz. Die USA sind weniger integriert in die Weltwirtschaft und höher verschuldet.
Die Schweiz schneidet bei der Staatlichkeit fast überall etwas besser ab als Deutschland, bemerkenswerterweise jedoch nicht beim sozialen Ausgleich. Die USA verlieren bei der Nachhaltigkeit und dem sozialen Ausgleich an Boden und sind weniger klimaresilient. Allerdings unterscheiden sich die zehn attraktivsten Länder trotz den 26 Indizes zwischen 0 und 1 um weniger als 2 Punkte.
Eindeutig zeigt das Ranking, dass viele grosse, bevölkerungsreiche Länder zwar relativ stark sind, aber nicht zu den stabilsten gehören. Es mangelt ihnen an resilienter Staatlichkeit und an Governance. Das gilt nicht nur für das im Stabilitätsranking noch vergleichsweise gut abschneidende China, sondern auch für die Türkei (Rang 31), Brasilien (42), Indien (43) und Pakistan (99).
Demokratie hilft, ist aber nicht zwingend
Vergleicht man die Resultate des Stabilitätsrankings des PTOS mit dem Demokratie-Index der Weltbank, so zeigt sich ein positiver Zusammenhang, der allerdings nicht sehr ausgeprägt ausfällt. Der Korrelationskoeffizient beträgt 0,74.
Dahinter stecken auch kulturelle Unterschiede zwischen den eindeutig westlich orientierten und anderen Staaten. Am demokratischsten und gleichzeitig am stabilsten sind die Schweiz und die eher kleinen skandinavischen Staaten. Aber auch die grossen «Europäer» und die USA zählen dazu. Sie erscheinen in der Tendenz im Demokratieranking stärker als im Stabilitätsranking. Recht demokratisch, aber weniger stabil sind hingegen Schwellenländer wie Indien oder auch Argentinien. Daneben gibt es Entwicklungsländer wie Jamaica, Surinam oder Namibia, die zwar als relativ demokratisch gelten, ihren Bevölkerungen aber wenig Stabilität und Prosperität bieten.
Umgekehrt sind vergleichsweise sehr stabile grosse und kleine Länder wie China, Singapur, Saudiarabien und die Vereinigten Arabischen Emirate wenig demokratisch. Ihre Führungen wollen zwar unbedingt, dass ihre Länder wirtschaftlich attraktiv und stabil sind, halten aber nichts von einem lebendigen demokratischen Parteienwettbewerb westlicher Prägung. Für Khanna zeigt dies, dass Investoren der demokratischen Verfassung eines Landes nicht einseitig zu viel Gewicht beimessen sollten.
Stabilität kann trügerisch sein
So interessant der Ansatz ist, die Attraktivität eines Staates anhand seiner Stabilität zu messen, er hat jenseits von methodologischen auch strukturelle Schwächen.
- Anpassungsfähigkeit: Stabilität sagt per se wenig aus über Anpassungsfähigkeit. Wie die gegenwärtigen geopolitischen Veränderungen gerade drastisch vor Augen führen, kann Stabilität zu Stagnation und Schwäche führen, wenn ein Staatssystem nicht rechtzeitig auf sich verändernde Rahmenbedingungen reagiert. Mit Blick auf die vernachlässigte militärische Abschreckung und die Verteidigungsfähigkeit wirken Deutschland und die Schweiz gerade keineswegs so spitze, wie sie im Stabilitätsranking aufscheinen. Und die zu lange verfolgte Strategie, auf gute Beziehungen zu Russland und günstiges Erdgas zu setzen, hat Deutschland zwar lange zu Stabilität verholfen, rächt sich nun aber.
- Repression: Das Regime von Wladimir Putin in Russland mag zwar gegenwärtig relativ stabil sein. Im PTOS rangiert es gleich nach Ungarn auf dem 39. von insgesamt 196 Plätzen. Doch hinter Russlands Stabilität steht eine drastisch gewordene politische Repression und Propaganda. Ähnlich wie es in vermindertem Ausmass auch in China der Fall ist, werden damit strukturelle wirtschaftliche Probleme und Spannungen unter dem Deckel gehalten. Das erhöht die Gefahr plötzlicher starker wirtschaftlicher und politischer Umbrüche, wie sie wirtschaftlich gerade in China mit der Immobilienkrise zu beobachten sind. In Russland wurden im Rahmen von politisch bedingten Finanzkrisen oder jetzt des Kriegs gegen die Ukraine ausländische und private Investoren wiederholt faktisch enteignet. Sich in undemokratischen Systemen auf Stabilität zu verlassen, hat sich für Investoren immer wieder als trügerisch erwiesen.
- Polarisierung: Das Geschehen in den USA verdeutlicht gerade, wie sehr in demokratischen Systemen Polarisierung zu einem Faktor werden kann, der die Stabilität untergräbt. Besonders in faktischen Zweiparteiensystemen steigt die Gefahr radikaler, disruptiver Umbrüche, wenn eine neue Regierung sich primär darauf konzentriert, die Arbeit der Vorgängerregierung ins Gegenteil zu verkehren. Eine starke Polarisierung von Gesellschaft und Politik reduziert nicht nur die Verlässlichkeit, sondern auch die Stabilität eines Staates. Das POTS-Ranking enthält zwar den Faktor «sozialer Ausgleich». Es ist jedoch nicht ganz klar, was er misst, und sein Gewicht bleibt im Gesamtranking gering.
Stabilität anhand von Indikatoren zu messen, welche die Situation zu einem möglichst aktuellen Zeitpunkt wiedergeben, ist eben eine statische Angelegenheit. Sie durch den Faktor Staatlichkeit um eine institutionell-dynamische Komponente zu ergänzen, wie dies das PTOS-Ranking tut, bietet interessante Einsichten. Aber Stabilität ist eben keine Momentaufnahme. Zentral wäre, über die Zeit und unter sich verändernden Umständen stabil und erfolgreich zu bleiben. Die gegenwärtigen Erschütterungen von Welthandel, multilateraler Weltordnung und internationalen Allianzen zeigen, dass gerade Investoren mit ihrem zwingend langfristigen Horizont die geopolitische Lage und die Verletzlichkeit eines Staates in ihre Überlegungen zur Attraktivität eines Standorts ebenso sehr einbeziehen sollten wie die hier gemessene Stabilität.