August Macke: «Lesende Frau im roten Sessel», 1910. ©AKG

Die Tage werden länger. Aber Zeit zum Lesen haben wir zum Glück noch immer. Und gute Bücher gibt es mehr als genug: über Freundinnen, die Mordpläne schmieden, einen Tüftler, der die Kunst neu erfindet, und Stanley Kubrick, der die Regeln des Horrorfilms auf den Kopf gestellt hat.

Wer liest, ist weit weg. Bücher führen uns in Zeiten, die nie vergehen, an Orte, die auf keiner Landkarte stehen, und in die Köpfe von wildfremden Menschen. Wenn wir lesen, sehen wir die Welt mit anderen Augen. Und uns selbst auch.

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Aus der Fülle der Neuerscheinungen dieses Frühlings haben die Redaktorinnen und Redaktoren des NZZ-Feuilletons zehn Titel ausgewählt, die besonders sind. Auf ihre je eigene Weise. Eine hinreissende Geschichte über die späte Rache dreier Frauen, eine Ehrenrettung der Farbe Rosa, eine Recherche über Einhörner und Purpurschnecken, ein Buch über die kauzigsten Brüder der Schweizer Kulturgeschichte – und vieles mehr.


Hieb und Strich
von Margaret Atwood

Nadine A. Brügger · Eigentlich ist «Hieb und Strich» die Geschichte der Autorin Fern. Sie weiss es bloss nicht. Vor vielen Jahren wurden ihre erfolgreiche Karriere und ihr Selbstvertrauen von einem Konkurrenten mit einer perfiden Schmierkampagne zerstört. Nun, da sie im Sterben liegt, haben ihre drei besten Freundinnen dem Verleumder von einst und seinen fleissigen Helfern Rache geschworen: Einen Mann nach dem anderen wollen sie um die Ecke bringen. So haben sie es an einem lauen Altweibersommerabend bei Gin und Tonic beschlossen. Mehr als von den Schwierigkeiten, im fortgeschrittenen Alter zur Quereinsteigerin im Mordgeschäft zu werden, erzählt Atwood aber von lebenslanger Freundschaft. Von der gemeinsam durchlebten Zeit der freien Liebe Ende der Sechziger, dem Begraben erster Träume und dem Bauen mehr oder weniger gutbürgerlicher Existenzen. Ein bisschen wirkt die Kurzgeschichte, als sei sie beim Druck des 2024 erschienenen Sammelbandes «Hier kommen wir nicht lebend raus», in dem die Protagonistinnen Myrna, Leonie und Chrissy bereits in Erscheinung traten, vergessengegangen. Denn eigentlich ist «Hieb und Strich» mit seinen 60 kleinen Seiten weder Buch noch Büchlein, sondern bloss ein Augenblick. Ein schöner.

Margaret Atwood: Hieb und Strich. Kurzgeschichte. Aus dem Kanadischen übersetzt von Monika Baark. Berlin-Verlag, Berlin 2025. 62 S., Fr. 11.90.


Fischer, Perle, Walrosszahn
von Nikolas Jaspert

Claudia Mäder · Als sich Karl der Kühne 1468 mit Margareta von York vermählte, war der Bankettsaal üppig dekoriert: In jeder Ecke stand das Horn eines Einhorns. Im Mittelalter waren die Menschen nicht nur überzeugt, dass es diese Tiere gab. Sie glaubten auch, dass ihre Hörner Gift unschädlich machten. Und weil Giftanschläge gerade an Höfen keine Seltenheit waren, ging Karl bei seiner Hochzeit mit vier Hörnern auf Nummer sicher. Was hat diese wunderliche Episode in einem Buch über das Meer zu suchen? Ganz einfach: Die Hörner, die Karl wie viele Adlige besass, waren in Wahrheit Zähne von Meeressäugern. Sie stammten von Narwalen, die in der Arktis lebten und gelegentlich in Grönland strandeten. In Mitteleuropa waren die Tiere unbekannt, was findige Händler zu ihrem Vorteil nutzten: Mit falschen Einhorn-Hörnern machten sie formidable Geschäfte, «cornes de licorne» wurden im 16. Jahrhundert rund zehnmal teurer gehandelt als Gold. Viele weitere Tiere und Stoffe aus dem Meer verzückten damals die Reichen: Aus Purpurschnecken etwa wurde der teuerste Farbstoff gewonnen, und Ambra, eine Substanz aus dem Darm der Pottwale, war von zentraler Bedeutung für die feinen Düfte der Parfümerie. Doch wenn Nikolas Jaspert das Mittelalter vom Meer aus erkundet, kommen nicht nur solch exquisite Dinge in den Blick. In seinem ebenso originell gedachten wie zugänglich verfassten Buch interessiert sich der Mediävist auch für die ganz alltäglichen Beziehungen zwischen Mensch und Meer. Er zeigt, wie Fische die Nahrungsgewohnheiten einfacher Leute prägten, wie Schiffbauer arbeiteten oder Obrigkeiten den Fischfang beschränkten und damit sowohl ihre Macht als auch eine Frühform von ökologischem Denken demonstrierten.

Nikolas Jaspert: Fischer, Perle, Walrosszahn. Das Meer im Mittelalter. Propyläen-Verlag 2025. 592 S., Fr. 43.90. (Erscheint am 27. 3.)


Gepäck aus Sand
von Anna Langfus

Paul Jandl · 1962 war sie erst die vierte Frau, die den berühmten und 1903 geschaffenen Prix Goncourt bekam. Ihr damals gewürdigter Roman «Les bagages de sable» wurde zum Bestseller. Die Autorin avancierte in den literarischen Zirkeln von Paris zum Star. Heute ist Anna Langfus fast vergessen. «Gepäck aus Sand» ist ein Buch von spröder Schönheit. An vielen Stellen ist es leicht wie die Geschichten von Françoise Sagan. Die Ich-Erzählerin hat den frechen Ton einer selbstbewussten jungen Frau, die die Nachkriegswelt mit offenem Blick wahrnimmt, aber die Augen nicht verschliessen kann vor dem, was hinter dieser Welt liegt. Ganz allein in der Grossstadt fühlt sich die Hauptfigur von schemenhaften Gestalten umgeben. Sie beginnt eine Affäre mit einem viel älteren Mann, der den sprechenden Namen Caron trägt. In der Mythologie ist Charon der greise Fährmann, der zwischen dem Diesseits und dem Jenseits verkehrt. Zwischen beidem pendelt auch der von Patricia Klobusiczky grossartig neu übersetzte Roman von Anna Langfus. 1920 als polnische Jüdin geboren, hat sie den Holocaust nur durch Glück überlebt. Ihr Mann und grosse Teile der Verwandtschaft wurden ermordet. Diese Vergangenheit bildet das Unausgesprochene in einem fulminanten Werk der Weltliteratur, das in seiner Sprache irritierend eigensinnig ist und aus filmhaft montierten, einprägsamen Bildern besteht. Das geschilderte Leben nach dem Krieg ist ein Versuch, irgendwo anzukommen. Mit schwerem und zugleich nichtigem Gepäck, mit Gepäck aus Sand.

Anna Langfus: Gepäck aus Sand. Aus dem Französischen übersetzt von Patricia Klobusiczky. Die Andere Bibliothek im Aufbau-Verlag, Berlin 2025. 288 S., Fr. 65.90.


Rosa. Vom Zauber einer Farbe
von Björn Vedder

Birgit Schmid · Rosa ist die Farbe, die von allen Farben am meisten unterschätzt wird. Rosa ist sanft, süss, lieblich, mädchenhaft, oberflächlich, konservativ. Wer die Welt durch eine rosa Brille sieht, gilt als naiv, weil er die harten Konturen der Wirklichkeit nicht sehen will. Mit solchen Vorurteilen gegenüber der Farbe Rosa räumt Björn Vedder in seinem Essay auf. Der Literaturwissenschafter und Philosoph beschreibt die vielen Facetten von Rosa, indem er etwa nach Assisi reist zu Giottos Fresken: Der Maler stellte die Heiligen oft in Rosa dar. Und wenn Maria mit einer Rose verglichen werde, werde die spirituelle Kraft der Farbe offensichtlich, so der Autor. Vedder analysiert mit leichter Feder auch die rosenrote Pop-Kultur. Der Sänger Steven Tyler von Aerosmith trat im freizügigen Video zu «Pink» als rosa Hase auf, ein Verweis auf die enge Verbindung zwischen Rosa und Schwulsein. Als Farbe der queeren Gemeinschaft hat Rosa eine integrative Wirkung. Allerdings steht Rosa weiterhin auch für Geschlechterklischees. Das zeigte sich an der Empörung der Fussballfans, als die deutsche Nationalmannschaft an der EM 2024 rosa Auswärtstrikots tragen sollte. Dabei steckt in Rosa ein emanzipatorisches Potenzial: Im Erfolgsfilm «Barbie» von Greta Gerwig befreit sich die Puppe aus ihrer scheinbar perfekten pinkfarbenen Welt. «Rosa» ist eine Liebeserklärung an eine Stimmung. Wer das rosa Gefühl kennt, ist dem Leben, sich selbst und anderen gegenüber positiver eingestellt.

Björn Vedder: Rosa. Vom Zauber einer Farbe. Harper-Collins-Verlag, Hamburg 2025. 176 S., Fr. 29.90.


Ein Ende und ein Anfang
von Oliver Hilmes

Thomas Ribi · Am 11. Mai 1945 trat Hermann Göring vor die Presse. Im Garten einer Villa in Augsburg. Kurz zuvor war die Nummer zwei des «Dritten Reichs» von der US Army festgenommen worden. Der Zweite Weltkrieg war vorbei. Die Waffen ruhten. Es war die Stunde null. Europa war gezeichnet von Tod, Elend und Zerstörung. Sechzig Millionen Menschen waren gestorben. Neun Millionen Frauen, Männer und Kinder hatten die Nazis in ihren Vernichtungslagern getötet, unter ihnen sechs Millionen Juden. Was heisst es, wenn ein Krieg endet, der die Welt während fast sechs Jahren in Bann gehalten hat? In seinem neuen Buch «Ein Ende und ein Anfang» versucht der Historiker Oliver Hilmes eine Antwort zu geben, indem er ganz viele Antworten gibt. Er schildert Ereignisse, Szenen und Gespräche aus Berlin, Paris, London, New York, Moskau, Paris, Bayreuth oder Bad Mondorf. Er erzählt Geschichte in Geschichten – von Hoffnungen, Ängsten und den alltäglichen Problemen von Siegern, Besiegten, Bekannten und Unbekannten, die von der Last des Kriegs befreit sind und ihr Leben wieder aufbauen müssen. Else Tietze macht sich Sorgen um ihren Sohn, Klaus Mann hilft als GI, Nazi-Verbrecher zu suchen, Billy Wilder will einen Film Komödie über das Leben im zerstörten Berlin drehen. Göring betont vor den Journalisten, er habe sich mit Hitler schon lange verkracht. Von dem, was in den Konzentrationslagern vor sich ging, will er keine Ahnung gehabt haben. Überall sind die Kräfte darauf gerichtet, die Welt wieder aufzubauen, auf der Potsdamer Konferenz wird Europa neu geordnet. Und als Thomas Mann in Kalifornien von der Presse gefragt wird, ob er glaube, dass Hitler tot sei, antwortet er sarkastisch: «Who cares?»

Oliver Hilmes: Ein Ende und ein Anfang. Wie der Sommer 45 die Welt veränderte. Siedler-Verlag, München 2025. 288 S., Fr. 38.90.


Als die Boxen in den Bäumen hingen
von Chris Blackwell

Marion Löhndorf · Chris Blackwell kann nicht nur erzählen, er hat auch etwas zu erzählen. In seinem ereignisreichen Rückblick auf sein Leben geht es um Musik, Jamaica und einige seiner berühmtesten Bewohner. Von Bob Marley bis zum James-Bond-Erfinder Ian Fleming, Noël Coward und zum Schauspieler Errol Flynn, dem Blackwell erstaunlicherweise eine Schlüsselrolle bei der Popularisierung jamaicanischer Musik zuschreibt. Berühmt wurde Blackwell mit seinen legendären Island Records als Produzent von Bob Marley, Steve Winwood, Nico, John Cale, Grace Jones, U2 und vielen anderen. Dabei liess er seinen Musikern aussergewöhnlich grosse Freiräume in ihrer eigenen Entwicklung. Nick Drakes Werk unterstützte er über dessen Tod hinaus, obwohl Drake zu Lebzeiten kaum eine Platte verkaufte. Blackwells Leben wurde von einer frühen Begegnung mit einem Rastafarian geprägt, der ihm das Leben rettete – zu einer Zeit, als junge Menschen aus der weissen Oberschicht vor den eigenwilligen Mitgliedern der Sekte gewarnt wurden. In dieser wie ein magisches Erweckungserlebnis beschriebenen Begebenheit wurzelte Blackwells spätere Liebe zur Musik der Insel. Seine zugewandte, offene – und zupackende – Haltung ist dem gesamten Buch anzumerken, das Blackwell zusammen mit Paul Morley verfasst hat. Dabei war dem Kind reicher Eltern, das aus zahlreichen Privatschulen geflogen war, eine Karriere als Musikproduzent nicht in die Wiege gelegt worden. Heute hat sich Blackwell längst aus dem Musikbusiness zurückgezogen und Ian Flemings ehemaliges Haus «Goldeneye» gekauft, das jetzt ein begehrtes Hotel ist: Jamaica bleibt seine grosse Liebe.

Chris Blackwell: Als die Boxen in den Bäumen hingen. Die unglaubliche Geschichte von Island Records. Aus dem Englischen von Jan Szlovak. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2025. 380 S., Fr. 41.90.


Stanley Kubrick’s «The Shining»
von J. W. Rinzler

Andreas Scheiner · Als Stanley Kubrick Ende dreissig war, sagte er zu einem Freund, dass er eines Tages «den gruseligsten, furchterregendsten Film der Welt» machen wolle. Knapp fünfzehn Jahre sollte es dauern, dann, 1980, kam «The Shining» in die Kinos. In der Stephen-King-Adaption stellte der Meisterregisseur die Regeln des Horrorfilms auf den Kopf. Steven Spielberg erklärt im Vorwort der neuen «Shining»-Bibel von J. W. Rinzler, dass Horrorfilme bis dahin im Dunkeln gespielt hätten; hier hingegen trage sich das Grauen zum womöglich ersten Mal in der Filmgeschichte am helllichten Tag zu. Und weil die Zuschauer sich auch sonst auf keine Regeln des Genres verlassen könnten, seien sie «nie in Sicherheit». Unzählige Male habe er den Film geschaut, so Spielberg, und «jedes Mal eine neue Narbe davongetragen». Gleichzeitig staunt er – und man staunt mit ihm –, dass es möglich ist, über einen einzigen Film «so viele Seiten zu füllen». 869 Seiten sind es genau genommen, in denen der Kubrick-Spezialist Rinzler und sein Herausgeber, der Hollywood-Regisseur Lee Unkrich, alles aufrollen. Angefangen bei der Buchvorlage über den Dreh bis zu den abenteuerlichsten Interpretationen noch Jahrzehnte nach der Veröffentlichung. Die Texte sind zwar ausschliesslich auf Englisch, aber leicht leserlich, und zudem gibt es einen zweiten, fast genauso dicken Band im Schuber, der Hunderte von teilweise noch unveröffentlichten Fotos enthält. Man müsse alles anschauen, sagt Spielberg. Und sich danach gleich noch einmal den Film anschauen: «Mir ist egal, ob Sie ihn schon fünfzigmal gesehen haben. Sie werden ihn mit anderen Augen sehen.»

J. W. Rinzler: Stanley Kubrick’s «The Shining». Herausgegeben von Lee Unkrich. Taschen-Verlag, Köln 2025. 1396 S., Fr. 133.00.


Seltsame Käuze, wir zwei
von Dominique Uldry und Bernhard Echte

Roman Bucheli · Sie waren das seltsamste Brüderpaar der Schweizer Kulturgeschichte, und sie haben bis nach Berlin für Furore gesorgt. Die Schauspielerin Tilla Durieux hatte Karl und Robert Walser 1907 in Berlin zu einem Silvesterfest eingeladen. In ihren Memoiren erzählte sie von den «beiden riesenlangen Brüdern Walser», die «mit lächelnd sturer Miene ganz still die tollsten Dinge» anstellen würden. Damals hatte Robert Walser gerade seinen Roman «Geschwister Tanner» veröffentlicht. Sein älterer Bruder Karl hatte sich seinerseits als Künstler einen Ruf geschaffen. Der Walser-Kenner Bernhard Echte zeichnet nun in einem Buch minuziös nach, wie die in jungen Jahren in symbiotischer Verbundenheit lebenden Brüder unaufhaltsam ihren künstlerischen Weg gingen. Robert wollte erst Schauspieler werden: Seine erste Rolle spielte er zu Hause, nachdem er 1894 Schillers «Räuber» in Biel gesehen hatte und davon hingerissen war. Karl hielt den als Räuber verkleideten 16-Jährigen in einem phantastischen Aquarell fest. Zwei Jahre später gab Robert den Plan auf, nun wollte er «ein grosser Dichter werden». Ein Rätsel kann allerdings auch Echte nicht lösen: In den 1920er Jahren kam es zu einem schweren Zerwürfnis zwischen den Brüdern. Ursache war vermutlich Karls Frau, versöhnt haben sich die beiden nicht mehr. Bernhard Echtes Essay wird von grossartigen Fotografien begleitet, die Dominique Uldry an den Schauplätzen von Biel bis Berlin gemacht hat.

Bernhard Echte und Dominique Uldry: «Seltsame Käuze wir zwei.» Karl und Robert Walser. Fotografien von Dominique Uldry. Essay von Bernhard Echte. Nimbus-Verlag, Wädenswil 2025. 176 S., Fr. 31.90.


Jean Tinguely. Motor der Kunst
von Dominik Müller

Philipp Meier · Wäre die Kunst ein Fahrzeug, wie es sich schon einmal die Futuristen erträumt hatten, wäre Jean Tinguely ihr Mechaniker, Garagist und wohl auch Rennpilot gewesen. Was der Schweizer Maschinen-Virtuose definitiv war: ein Motor der Nachkriegskunst. So formuliert es Dominik Müller in seiner reich bebilderten Biografie zum Daniel Düsentrieb der Schweizer Kunst des 20. Jahrhunderts. Zum 100. Geburtstag von Jean Tinguely im Mai liegt der Band nun in einer überarbeiteten Neuauflage vor. Darin wird klar, was Tinguelys Kunst ausmacht: Auf Knopfdruck schnurrt ein Motor, rotieren Hunderte Räder. Und dazu knattert es, scheppert es und wackelt es. Voilà: die Kunst von Jean Tinguely. Hinter seinen oft humorvollen Apparaturen verbirgt sich allerdings weit mehr als nur Kinetik und Klamauk. Tinguely war nicht nur ein verspielter Bastler, sondern auch ein intellektueller Künstler mit einer Vision: Er wollte die Kunst neu erfinden, gegen den Strich des blinden Fortschrittsglaubens seiner Zeit. Anhand von sechzehn exemplarischen Werken zeigt der Autor auf, dass Tinguely, der bezeichnenderweise gerne mit Schrott arbeitete, seine Werke aus Skepsis und Zweifel am Fortschrittswahn ersann. Er feierte den Leerlauf, den die ineinandergreifenden Bewegungsabläufe seiner Apparate vollführten, als Selbstzweck der Kunst. Damit hat der Schweizer Schrottkünstler das Verhältnis von Mensch und Maschine und vor allem auch die daraus resultierenden Abhängigkeiten lustvoll dekonstruiert. Tinguelys absurden Automaten wohnt die befreiende Kraft des Subversiven inne.

Dominik Müller: Jean Tinguely. Motor der Kunst. Christoph-Merian-Verlag, Basel 2024. 208 S., Fr. 29.–.


Heimweh im Paradies
von Martin Mittelmeier

Thomas Ribi · «Wo ich bin, da ist Deutschland», sagte Thomas Mann, als er im Februar 1938 in New York an Land ging. Ein paar Jahre später klang es anders: «I am an American», gab der prominente Exilant da zu Protokoll, schon bevor er 1944 amerikanischer Staatsbürger wurde. In «Heimweh im Paradies» schildert Martin Mittelmeier Thomas Manns amerikanische Jahre. Und erzählt von den Emigranten, die mit ihm in Kalifornien gestrandet waren, auf der Flucht vor den Nationalsozialisten: Arnold Schönberg, Theodor W. Adorno, Bertolt Brecht und Lion Feuchtwanger, Helene Weigel, Franz Werfel. Ein wirklicher «American» wurde Thomas Mann nie. Noch weniger als die anderen Emigranten. Im Gegenteil. In den USA wurde er erst recht zum Deutschen. Zum Repräsentanten des «guten Deutschlands», das in Hitlers Schreckensregime nicht mehr zu erkennen war. Mann zog als Vortragsredner durch die Staaten, sprach über Demokratie und über das Deutschland, das aus den Trümmern des Kriegs entstehen sollte. Unter den Palmen Kaliforniens schrieb er sein vielleicht deutschestes Buch, den «Doktor Faustus», und wurde zum Mittelpunkt des geistigen Widerstands gegen das Hitlerregime. Ein bisschen Amerikaner wurde Thomas Mann allerdings schon. Umso verbitterter war er, als er nach dem Krieg ins Fadenkreuz des McCarthy-Komitees geriet. Auch davon erzählt Martin Mittelmeier: von der Enttäuschung, die Thomas Mann dazu brachte, die USA wieder zu verlassen. 1952, drei Jahre vor seinem Tod. Nach Deutschland zurück wollte er nicht. Er zog in die Schweiz. Das «kleine Europa», wie er es einmal genannt hat.

Martin Mittelmeier: Heimweh im Paradies. Thomas Mann in Kalifornien. Dumont-Verlag, Köln 2025. 192 S., Fr. 33.90.

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